Urteil des VerfGH Berlin vom 02.04.2017

VerfGH Berlin: verfassungsbeschwerde, öffentliche gewalt, verwaltung, auflösung, fraktion, regierung, chancengleichheit, verfassungsgeber, wahlvorschlag, mehrheit

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Gericht:
Verfassungsgerichtshof
des Landes Berlin
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
36/92
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
Art 28 GG, Art 1 Abs 1 Verf BE,
Art 50 Abs 2 Verf BE, Art 53 S 2
Verf BE, Art 56 Verf BE
VerfGH Berlin: Kein verfassungsmäßig verbürgtes Recht der
Bezirke Berlins auf bezirkliche Selbstverwaltung - alleinige
Zulässigkeit des Losverfahrens zur Auflösung einer Patt-
Situation bei Anwendung des d'Hondt'schen
Höchstzahlverfahren bei der Wahl der Bezirksamtsmitglieder
1992 des Bezirks Zehlendorf
Gründe
I.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Frage, ob ein Recht der
Bezirksverordnetenversammlung auf bezirkliche Selbstverwaltung verletzt wird, wenn ihr
durch gerichtliche Entscheidung untersagt wird, bei der Wahl der Mitglieder des
Bezirksamts das Nominierungsrecht für die Wahl sämtlicher Bezirksamtsmitglieder nach
dem Verfahren Hare-Niemeyer zu ermitteln.
Aufgrund der Wahlen zu den Bezirksverordnetenversammlungen vom 24. Mai 1992
ergab sich für die Bezirksverordnetenversammlung des Bezirks Z. von Berlin folgende
Sitzverteilung:
20 Sitze
9 Sitze
9 Sitze
4 Sitze
3 Sitze.
Nach Art. 87 a Abs. 2 S. 4 der Verfassung von Berlin (VvB) soll das von der
Bezirksverordnetenversammlung gem. Art. 53 S. 2 VvB zu wählende Bezirksamt, das
nach § 34 des Bezirksverwaltungsgesetzes (BezVerwG) aus dem Bezirksbürgermeister
und sechs Bezirksstadträten besteht, aufgrund der Wahlvorschläge der Fraktionen
entsprechend ihrem Stärkeverhältnis in der Bezirksverordnetenversammlung gebildet
werden. Legt man zur Bestimmung des Stärkeverhältnisses das Verfahren d'Hondt (sog.
Höchstzahlverfahren) zugrunde, entfallen auf die ... vier und auf ... und ... je ein
Wahlvorschlag, während das Vorschlagsrecht für das siebente Bezirksamtsmitglied
sowohl der ... wie der ... ("Pattsituation") zusteht. Bestimmt man das Stärkeverhältnis
nach dem Verfahren Hare-Niemeyer (sog. Verfahren der mathematischen Proportion),
entfallen auf die ... wiederum drei Wahlvorschläge und auf ... , ..., ..., und ... je ein
Wahlvorschlag.
Am 18. Juni 1992 beschloß die Bezirksverordnetenversammlung mehrheitlich, zur
Ermittlung der Zahl der auf die Fraktionen entfaltenden Wahlvorschläge insgesamt das
Verfahren Hare- Niemeyer anzuwenden. Gegen diesen Beschluß rief die ... Fraktion der
Bezirksverordnetenversammlung das Verwaltungsgericht Berlin mit dem Antrag an,
der Bezirksverordnetenversammlung im Wege der einstweiligen Anordnung zu
untersagen, bei der bevorstehenden Wahl der Mitglieder des Bezirksamts das
Nominierungsrecht für die Wahl sämtlicher Bezirksamtsmitglieder nach dem Verfahren
Hare- Niemeyer zu ermitteln.
Das Verwaltungsgericht Berlin wies den Antrag der CDU-Fraktion durch Beschluß vom
23. Juni 1991 - VG l A 185.92 - zurück. Zur Begründung führte es aus, der
Verfassungsgeber habe in Art. 87 a Abs. 2 S. 4 VvB ein bestimmtes Verfahren zur
Ermittlung des Stärkeverhältnisses der Fraktionen nicht vorgesehen. Er habe damit der
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Ermittlung des Stärkeverhältnisses der Fraktionen nicht vorgesehen. Er habe damit der
Bezirksverordnetenversammlung das Recht eingeräumt, selbst das zur Ermittlung des
Stärkeverhältnisses der Fraktionen anzugehende Verfahren zu bestimmen. Die
Bezirksverordnetenversammlung sei daher berechtigt gewesen, die Anwendung des
Verfahrens Hare-Niemeyer zu beschließen.
Auf die Beschwerde der ... Fraktion änderte das Oberverwaltungsgericht Berlin durch
Beschluß vom 24. Juni 1992 - OVG 8 S 195.92 - die Entscheidung des
Verwaltungsgerichts und untersagte der Bezirksverordnetenversammlung,
"bei der bevorstehenden Wahl der Mitglieder des Bezirksamts Z. von Berlin das
Nominierungsrecht für die Wahl sämtlicher Bezirksamtsmitglieder nach dem Verfahren
Hare-Niemeyer zu ermitteln."
Das Oberverwaltungsgericht hat diese Entscheidung wie folgt begründet: Nach ständiger
Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts Berlin sei der bei früheren Wahlen und
auch künftig wieder maßgebende § 35 Abs. 2 BezVerwG dahin auszulegen, daß das für
die Wahl des Bezirksamts maßgebende Stärkeverhältnis der Fraktionen nach den
Verfahren d'Hondt zu bestimmen sei. Der ausschließlich für die Wahlen zu den
Bezirksverordnetenversammlungen des Jahres 1992 geltende Art. 87 a Abs. 2 S. 4 VvB,
der mit § 35 Abs. 2 BezVerwG wortgleich sei, müsse im gleichen Sinne ausgelegt
werden, da der Verfassungsgeber mit Aufnahme der Regelung des § 35 Abs. 2
BezVerwG in die Verfassung von Berlin Sinn und Zweck dieser Vorschrift nicht habe
ändern wollen. Auch nach Art. 87 a Abs. 2 S. 4 VvB sei deshalb das Stärkeverhältnis der
Fraktionen nach dem Verfahren d'Hondt zu ermitteln. Das Oberverwaltungsgericht wies
im übrigen darauf hin, daß, falls es bei Anwendung des Verfahrens d'Hondt zu einer
Pattsituation hinsichtlich des Vorschlagsrechts für das siebente Bezirksamtsmitglied
komme, die Bezirksverordnetenversammlung berechtigt sei, zur Auflösung der
Pattsituation "ein sonstiges rationales Prinzip" zur Bestimmung des Nominierungsrechts
für das siebente Bezirksamtsmitglied festzulegen, beispielsweise das Losverfahren oder
das Verfahren Hare-Niemeyer. Die Verteilung der ersten sechs Wahlvorschläge müsse
jedoch stets nach dem Verfahren d'Hondt erfolgen.
Gegen den Beschluß des Oberverwaltungsgerichts Berlin vom 24. Juni 1992, der ihr am
26. Juli 1992 zugestellt worden ist, wendet sich die Bezirksverordnetenversammlung mit
der am 26. August 1992 bei dem Verfassungsgerichtshof eingegangenen
Verfassungsbeschwerde. Sie ist der Meinung, die Entscheidung des
Oberverwaltungsgerichts verletze sie in ihrem Recht auf bezirkliche Selbstverwaltung.
Die Bezirksverordnetenversammlung beantragt,
1. festzustellen, daß der Beschluß des Oberverwaltungsgerichts Berlin vom 24. Juni 1992
OVG 8 S 195.92 - sie in ihrem Recht auf bezirkliche Selbstverwaltung aus Art. 51 Abs. 2,
56 und 87 a VvB i.V.m. Art. 6 VvB verletzt,
2. den Beschluß des Oberverwaltungsgerichts Berlin vom 24. Juni 1992 aufzuheben.
Die ... Fraktion der Bezirksverordnetenversammlung des Bezirks Z. sowie der Senat von
Berlin haben sich zu der Verfassungsbeschwerde geäußert.
II.
Die Verfassungsbeschwerde hat keinen Erfolg.
Es kann dahingestellt bleiben, ob die Verfassungsbeschwerde bereits mangels
Zulässigkeit erfolglos bleiben muß. Das wäre jedenfalls der Fall, wenn das von der
Beschwerdeführerin geltend gemachte, ihrer Ansicht nach in der Verfassung von Berlin
verbürgte Recht auf bezirkliche Selbstverwaltung nicht zu den Rechten zählte, deren
Verletzung gem. § 49 Abs. 1 VerfGHG mit der Verfassungsbeschwerde gerügt werden
kann. Nach dem Wortlaut dieser Vorschrift kann eine Verfassungsbeschwerde mit der
Behauptung erhoben werden, durch die öffentliche Gewalt des Landes Berlin in einem
seiner "in der Verfassung von Berlin enthaltenen Rechte verletzt zu sein". Anders als §
90 Abs. 1 BVerfGG, der die Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde des Bundesrechts
von der Behauptung des Beschwerdeführers abhängig macht, "in einem seiner
Grundrechte oder in einem seiner in Artikel 20 Abs 4, Artikel 33, 38, 101, 103 u. 104 des
Grundgesetzes enthaltenen Rechte verletzt zu sein", beschränkt der Wortlaut des § 49
Abs. 1 VerfGHG mithin die Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde des Berliner
Landesrechts nicht auf das Geltendmachen der Verletzung von Grundrechten und
grundrechtsgleichen Rechten; § 49 Abs. 1 VerfGHG ist vielmehr insoweit anders gefaßt.
Ob dieser Wortfassung entsprechend mit einer Verfassungsbeschwerde auch die
Verletzung eines von der Beschwerdeführerin für sich reklamierten Rechts auf bezirkliche
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Verletzung eines von der Beschwerdeführerin für sich reklamierten Rechts auf bezirkliche
Selbstverwaltung gerügt werden kann oder ob § 49 Abs. 1 VerfGHG in dem Sinne zu
verstehen ist, daß er den Weg ausschließlich für eine auf die Rüge der Verletzung von
Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten gestützte Verfassungsbeschwerde
eröffnet, bedarf indes aus Anlaß des vorliegenden Falles keiner Entscheidung. Darauf
kommt es hier nicht an, weil die Verfassung von Berlin entgegen der Ansicht der
Beschwerdeführerin den Bezirken kein Recht auf bezirkliche Selbstverwaltung verbürgt
und ihre Verfassungsbeschwerde jedenfalls aus diesem Grunde keinen Erfolg haben
kann.
Nach Art. 1 Abs. 1 VvB ist Berlin ein Land und zugleich eine Stadt. Der Grundsatz der
Einheitsgemeinde ist damit verfassungsrechtlich verankert. Die Bezirke sind nach der
Verfassung von Berlin keine selbständigen Gemeinden. Deshalb ist auch nur die
Einheitsgemeinde Berlin und sind nicht seine 23 Bezirke Träger des in Art. 28 den
Grundgesetzes enthaltenen Rechts auf kommunale Selbstverwaltung. In Art. 3 Abs. 2
VvB, der bestimmt, daß Volksvertretung, Regierung und Verwaltung die Aufgaben Berlins
als Gemeinde, Gemeindeverband und Land wahrnehmen, werden die Bezirke nicht
erwähnt. Auch Abs. 1 S. 2 dieser Vorschrift, in dem es heißt, die vollziehende Gewalt
liege in den Händen der Regierung und der ihr nachgeordneten Verwaltung, erwähnt die
Bezirke nicht. Dies zwingt zu dem Schluß. daß die Bezirke nach diesen grundlegenden
Bestimmungen im ersten Abschnitt der Verfassung von Berlin, der die Oberschrift
"Grundlagen" trägt, Teil der der Regierung nachgeordneten Verwaltung sind, nicht aber
eigenständige Träger eines verfassungskräftigen Rechts auf bezirkliche
Selbstverwaltung. Sieht man von Art. 4 VvB ab, der die Bezirke aufzählt, um auf diese
Weise das Landesgebiet zu bestimmen, finden die Bezirke erst im VI. Abschnitt der
Verfassung von Berlin nähere Erwähnung.
Sie sind deshalb Organe der Verwaltung Berlins, an der sie gem. Art. 50 Abs. 2 nach den
Grundsätzen der Selbstverwaltung zu beteiligen sind. Die Verfassung von Berlin stellt mit
der Bezugnahme auf die Grundsätze der Selbstverwaltung ein für den Gesetzgeber
verbindliches Organisationsprinzip der Berliner Verwaltung auf, gewährt den Bezirken
aber kein eigenständiges Recht auf bezirkliche Selbstverwaltung. Vergegenwärtigt man
sich überdies, daß die Bezirke Berlins keine eigene Rechtspersönlichkeit besitzen, daher
nicht Träger eigenen Vermögens sein können und ihnen weder Satzungsrecht noch
Einnahmenhoheit eigen sind, kann es nicht zweifelhaft sein, daß die Bezirke kein in der
Verfassung von Berlin verbrieftes Recht auf bezirkliche Selbstverwaltung besitzen. Der
Grundsatz der Einheitsgemeinde, der zu den tragenden Wesensmerkmalen der
Verfassung von Berlin gehört, schließt dies aus. Besitzen die Bezirke kein
verfassungsmäßiges Recht auf bezirkliche Selbstverwaltung, kann auch der
Bezirksverordnetenversammlung als ihrem Organ ein solches Recht nicht zustehen. Art.
56 VvB, der die Bezirksverordnetenversammlung als Organ der bezirklichen
Selbstverwaltung bezeichnet, die die Kontrolle über die Verwaltung des Bezirks ausübt,
bestimmt lediglich die Stellung der Bezirksverordnetenversammlung innerhalb des
Bezirks. Ein darüber hinausgehendes eigenständiges Recht auf bezirkliche
Selbstverwaltung wird ihr dadurch nicht eingeräumt. Die Verfassungsbeschwerde der
Bezirksverordnetenversammlung war deshalb zurückzuweisen.
Ergänzend sei auf folgendes hingewiesen:
Der angefochtene Beschluß des Oberverwaltungsgerichts Berlin billigt der
Bezirksverordnetenversammlung das Recht zu, im Falle einer bei Anwendung des
Verfahrens d'Hondt hinsichtlich des siebenten Vorschlagsrechts entstehenden
Pattsituation ein sonstiges rationales Verfahren zu dessen Auflösung zu bestimmen,
beispielsweise das Losverfahren oder das Verfahren Hare-Niemeyer. Diese Auffassung
ist unvereinbar mit dem verfassungskräftigen Grundsatz der Chancengleichheit. Die
Einräumung eines Rechts, durch Mehrheitsbeschluß das Verfahren zur Auflösung einer
Pattsituation zu bestimmen, führt zwangsläufig dazu, daß die Mehrheit der
Bezirksverordnetenversammlung unter mehreren in Frage kommenden Verfahren
dasjenige auswählt, das ihr von seinem Ergebnis her am günstigsten erscheint. An die
Stelle von Chancengleichheit tritt in Wirklichkeit ein Verfahren bestmöglicher
Chancenwahrung zum Nutzen derjenigen, die die Mehrheit in der
Bezirksverordnetenversammlung besitzen. Deshalb wird, wie der Verfassungsgerichtshof
im Urteil vom 19. Oktober 1992 (VerfGH 24/92) entschieden hat, der Verfassung von
Berlin nur eine Auslegung des Art. 87 a Abs. 2 S. 4 VvB wie des § 35 Abs. 2 BezVerwG
dahin gerecht, daß diese Bestimmungen selbst das Verfahren zur Auflösung einer
etwaigen Pattsituation abschließend festlegen, und zwar das Losverfahren.
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf den §§ 33, 34 VerfGHG.
26 Dieses Urteil ist unanfechtbar.
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