Urteil des VerfGH Berlin vom 29.03.2017

VerfGH Berlin: wiedereinsetzung in den vorigen stand, rechtliches gehör, verfassungsbeschwerde, öffentliche gewalt, berufungsfrist, verschulden, wochenendhaus, korruption, rechtswegerschöpfung

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Gericht:
Verfassungsgerichtshof
des Landes Berlin
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
32/92
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 49 Abs 2 VGHG BE, § 234 Abs
1 ZPO, § 85 Abs 2 ZPO
VerfGH Berlin: Unzulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde
wegen fehlender Rechtswegerschöpfung - Zurechnung des
Anwaltsverschuldens bei Fristversäumung
Gründe
I.
Die Beschwerdeführer sind Eigentümer eines Grundstücks in Berlin-K. das mit drei
einzeln stehenden Wochenendhäusern bebaut ist. Das am nächsten zur Straße hin
gelegene Wochenendhaus wird von den Eheleuten Sch. genutzt, das mittlere von den
Beschwerdeführern und das am nächsten zum Wasser hin gelegene Wochenendhaus
von der Familie G. Zu diesen Nutzungsverhältnissen kam es, nachdem die
Beschwerdeführer Anfang 1976 aus der Staatsbürgerschaft der ehemaligen DDR
entlassen worden und nach Berlin-West ausgereist waren. Mit ihrer
Verfassungsbeschwerde erstreben sie die Verpflichtung der Eheleute Sch., den von
diesen genutzten Grundstücksteil zu räumen und an sie herauszugeben. Ihre darauf
gerichtete Widerklage wurde vom Landgericht aufgrund der mündlichen Verhandlung
vom 26. Juni 1991 mit dem angefochtenen, am 27. September 1991 verkündeten Urteil
abgewiesen. Zur Begründung hat das Landgericht im wesentlichen ausgeführt, die
Voraussetzungen für eine wirksame Kündigung, die in § 314 ZGB abschließend geregelt
seien, lägen nicht vor. Das Urteil wurde dem Prozeßbevollmächtigten der
Beschwerdeführer am 10. Oktober 1991 zugestellt. Nachdem die Beschwerdeführer
hiergegen zunächst ohne anwaltliche Vertretung "sofortige Beschwerde" eingelegt
hatten, beantragten sie am 7. November 1991, ihnen für die beabsichtigte Berufung
Prozeßkostenhilfe zu bewilligen und ihnen einen vom Gericht auszuwählenden
Rechtsanwalt beizuordnen. Mit Beschluß vom 13. Januar 1992 wies das Kammergericht
das Prozeßkostenhilfegesuch mit der Begründung zurück, es könne nicht festgestellt
werden, daß die Beschwerdeführer die Kosten der beabsichtigten Prozeßführung nicht
aufbringen könnten: Nachdem sich der beabsichtigte Berufungsantrag nur noch auf
Räumung und Herausgabe richte, sei der Streitwert gering.
Nachdem den Beschwerdeführern dieser Beschluß am 23. Januar 1992 zugestellt worden
war, legten sie, nunmehr vertreten durch Rechtsanwalt Z., am 14. Februar 1992
Berufung gegen das Urteil des Landgerichts ein. Mit Beschluß vom 19. März 1992 wurde
die Berufung als unzulässig verworfen. Zur Begründung hieß es, die Berufung sei lange
nach dem Ablauf der Berufungsfrist eingegangen, ohne daß ein Antrag auf
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gestellt worden wäre.
Am 29. April 1992 teilte Rechtsanwalt Z. dem Kammergericht auf entsprechende
Anfrage mit, der Beschluß vom l9. März 1992 sei ihm zugestellt worden. Leider sei das
Eingangsdatum nicht zu ermitteln, es werde jedoch auf Rechtsmittel verzichtet. Mit am
14. Mai 1992 bei der gemeinsamen Briefannahme der Justizbehörden eingegangenem
Schreiben legten die Beschwerdeführer erneut, nunmehr vertreten durch Rechtsanwalt
S., Berufung gegen das Urteil des Landgerichts ein und beantragten zugleich
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Zur Begründung hieß es: Sofort nach Erhalt des
die Gewährung von Prozeßkostenhilfe ablehnenden Beschlusses des Kammergerichts
hätten die Beschwerdeführer Rechtsanwalt Z. aufgesucht. Dieser habe in ihrer
Gegenwart die Berufung diktiert. Aus nicht bekannten Gründen sei die Berufung nicht
rechtzeitig beim Kammergericht eingegangen. Diese Tatsache hätten die
Beschwerdeführer nicht zu vertreten.
Mit dem mit der Verfassungsbeschwerde angefochtenen Beschluß des Kammergerichts
vom 2. Juli 1992 wurde auch die am 14. Mai 1992 eingelegte Berufung als unzulässig
verworfen. Zur Begründung hieß es: Die mit dem am 14. Mai 1992 bei Gericht
eingegangenen Schriftsatz zugleich beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand
gegen die Versäumung der Berufungsfrist habe den Beschwerdeführern schon deshalb
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gegen die Versäumung der Berufungsfrist habe den Beschwerdeführern schon deshalb
nicht gewährt werden können, weil sie nicht innerhalb der zweiwöchigen Frist des § 234
Abs. 1 ZPO beantragt worden sei. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügen die
Beschwerdeführer sinngemäß eine Verletzung des Rechts auf rechtliches Gehör. Sie
tragen vor, das Landgericht habe ihre Beweismittel dafür, daß die Nutzungsverhältnisse
auf ihrem Grundstück mit Machenschaften der Stasi und Korruption zusammenhingen,
nicht entgegengenommen. Hinsichtlich des Beschlusses des Kammergerichts machen
sie geltend, im Gesetz müsse die Möglichkeit vorgesehen sein, daß das Gericht auch mit
dem Bürger spreche, wenn dieser einen unfähigen Anwalt habe. Sie selbst treffe
jedenfalls keinerlei Schuld an dem Versäumen der Berufungsfrist.
II.
Die Verfassungsbeschwerde hat keinen Erfolg.
Gemäß § 49 Abs. 1 VerfGHG kann jeder mit der Behauptung, durch die öffentliche
Gewalt des Landes Berlin in einem seiner in der Verfassung von Berlin enthaltenen
Rechte verletzt zu sein, die Verfassungsbeschwerde erheben. Nach § 49 Abs. 2 VerfGHG
kann die Verfassungsbeschwerde, soweit gegen die behauptete Verletzung der
Rechtsweg zulässig ist, jedoch nur nach Erschöpfung des Rechtsweges erhoben werden.
Die Beschwerdeführer haben zwar gegen das Urteil des Landgerichts Berlin Berufung
eingelegt, jedoch nach dem Beschluß des Kammergerichts die einmonatige
Berufungsfrist des § 516 ZP0 versäumt. Da ihnen nach Auffassung des Kammergerichts
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht zu gewähren war, ist ihre Berufung mit
Beschluß vom 2. Juli 1992 als unzulässig verworfen worden. Damit fehlt es an einer
"Erschöpfung des Rechtswegs" im Sinne von § 49 Abs. 2 VerfGHG. Denn es entspricht
den allgemeinen Rechtsgrundsätzen des Prozeßrechts, daß derjenige sein Recht verliert,
der es verabsäumt, die ihm vom Gesetzgeber gestellten Fristen zu beachten (vgl.
Beschluß des Verfassungsgerichtshofs vom 30. Juni 1992, VerfGH 1/92; zur
Verfassungsbeschwerde nach Bundesrecht siehe BVerfGE 1, 12 ff.; 5, 17 ff.; 14, 54
<55>; 16, 1 <3>; 17, 86 <91>).
Hinsichtlich des Urteils des Landgerichts Berlin ist die Verfassungsbeschwerde deshalb
unzulässig.
Auch hinsichtlich des Beschlusses des Kammergerichts hat die Verfassungsbeschwerde
keinen Erfolg. Dabei kann dahinstehen, ob und mit welchem Inhalt das bundesrechtlich
verbürgte, grundrechtsgleiche Recht auf rechtliches Gehör (Artikel 103 Abs. 1 GG) auch
in der Verfassung von Berlin enthalten ist. Denn es ist offensichtlich, daß die
angefochtene Entscheidung des Kammergerichts mit diesem Recht in Einklang steht.
Die Versagung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist darauf gestützt worden,
daß sie nicht innerhalb der zweiwöchigen Frist des § 234 Abs. 1 ZP0 beantragt worden
sei. Diese Entscheidung ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Daß das
Kammergericht dabei dem Vorbringen der Beschwerdeführer, sie hätten es nicht zu
vertreten, daß die Berufung von Rechtsanwalt Z. erst am 14. Februar 1992 eingelegt
worden sei, keine Bedeutung beigemessen hat, entspricht der Regelung des § 85 Abs. 2
ZPO, wonach das Verschulden des Bevollmächtigten dem Verschulden der Partei
gleichsteht. Eine Wiedereinsetzung in die Zweiwochenfrist des § 234 Abs. 1 ZPO, deren
Lauf spätestens mit der Zustellung des des Prozeßkostenhilfegesuch zurückweisenden
Beschlusses am 23. Januar 1992 begann, kam daher nicht in Betracht. Das Vorbringen
der Beschwerdeführer, das Gesetz müsse die Möglichkeit vorsehen, daß das Gericht
trotz anwaltlicher Fristversäumnis mit dem Bürger spreche, ist bei der von ihnen
geschilderten Sachlage zwar verständlich. Die bestehende Gesetzeslage über die
Zurechnung des Anwaltsverschuldens in Zivilprozessen dieser Art steht jedoch in
Übereinstimmung mit der verfassungsmäßigen Ordnung (vgl. in diesem
Zusammenhang auch BVerfGE 35, 41).
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf den §§ 33, 34 VerfGHG.
Dieser Beschluß ist unanfechtbar.
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