Urteil des VerfGH Berlin vom 29.03.2017

VerfGH Berlin: recht auf freiheit, subjektives recht, abstimmungsfreiheit, volksabstimmung, stadt, stimmzettel, gemeindeordnung, verfassungsbeschwerde, abstimmungsfrage, barriere

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Gericht:
Verfassungsgerichtshof
des Landes Berlin
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
18/96, 18A /96, 19/96,
20/96
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
Art 29 Abs 3 S 2 GG, Art 2 S 2
Verf BE, Art 3 Abs 2 NeuGlVtr
BE/BB
(VerfGH Berlin: Unzulässige Verfassungsbeschwerde betreffend
die Volksabstimmung zur Länderfusion Berlin-Brandenburg -
Inhalt und Grenzen der Abstimmungsfreiheit iSv Verf BE Art 2 S
2)
Tenor
1. Die Verfahren VerfGH 18 und 18A/96, 19/96 und 20/96 werden unter dem
erstgenannten Aktenzeichen zur gemeinsamen Entscheidung verbunden.
...
...
...
Gründe
I.
Mit ihren am 26. Februar 1996 bzw. am 28. Februar eingegangenen
Verfassungsbeschwerden wenden sich die Beschwerdeführer gegen einzelne Regelungen
d. Staatsvertrages der Länder Berlin und Brandenburg über die Bildung eines
gemeinsamen Bundeslandes vom 27. April 1995 (Neugliederungs-Vertrag) und des
Staatsvertrages zur Regelung der Volksabstimmung in den Ländern Berlin und
Brandenburg über den Neugliederungs-Vertrag (Volksabstimmungs-Vertrag) ebenfalls
vom 27. April 1995. Mit Gesetz vom 18. Juli 1995 (GVBl. S. 490) hat das
Abgeordnetenhaus von Berlin und mit Gesetz vom 27. Juni 1995 (Brandenburgisches
Gesetz- und Verordnungsblatt Teil I. S. 150) hat der Landtag Brandenburg den beiden
Staatsverträgen zugestimmt. Der Neugliederungs-Vertrag bedarf überdies zu seiner
Ratifizierung in jedem der beiden Länder der Zustimmung in einer Volksabstimmung. Mit
Blick auf diese Zustimmung in einer Volksabstimmung heißt es in Art. 3 des
Neugliederungs-Vertrages:
"(1) Dieser Vertrag ...Die Zustimmung bedarf in jedem der beiden Länder der Mehrheit
der abgegebenen Stimmen; die Mehrheit muß mindestens jeweils ein Viertel der
Abstimmungsberechtigten umfassen. Die Volksabstimmungen finden in beiden Ländern
am 5. Mai 1996 statt.
(2) Mit den Volksabstimmungen ist die Frage zu verbinden, ob das gemeinsame Land im
Jahre 1999 oder im Jahre 2002 gebildet werden soll. Wird die Frage in beiden Ländern
unterschiedlich beantwortet, so wird das gemeinsame Land mit dem Tag der Wahl des
ersten gemeinsamen Landtages im Jahre 2002 gebildet.
(3) Das Nähere bestimmt ein Staatsvertrag zur Regelung der Volksabstimmungen in
den Ländern Berlin und Brandenburg über den Neugliederungs-Vertrag."
Dementsprechend ist in Art. 4 Abs. 1 und Abs. 3 des Volksabstimmungs-Vertrages
vereinbart:
"(1) Die Abstimmungsfrage lautet:
"Stimmen Sie dem Vertrag der Länder Berlin und Brandenburg über die Bildung eines
gemeinsamen Bundeslandes zu?
Ja
Nein"
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(3) Mit der Abstimmungsfrage wird auf demselben Stimmzettel folgende Zusatzfrage
verbunden:
"Soll das gemeinsame Land gebildet werden
im Jahre 1999 oder
im Jahre 2002?"
Die Beschwerdeführer machen geltend, zum einen durch Art. 3 Abs. 2 Neugliederungs-
Vertrag und durch Art. 4 Abs. 1 und Abs. 3 des Volksabstimmungs-Vertrages in ihrem
Wahlgrundrecht aus "Art 2 Satz 2, Art 3 Abs 1 Satz 1 mit Art 39 VvB, Art 38, Art. 29 GG"
(Beschwerdeschrift S. 3) verletzt zu sein. Die Verbindung der Frage über Annahme oder
Ablehnung des Neugliederungs-Vertrages mit der Zusatzfrage über den Zeitpunkt der
Bildung des, gemeinsamen Landes erwecke den Eindruck, daß die "Länderfusion"
unabhängig von der Annahme des Neugliederungs-Vertrages 1999 oder 2002 erfolge.
Damit werde dem Abstimmungsberechtigten suggeriert, daß er bei Ablehnung des
Fusionsvertrages auf Seiten der Minderheit stehe und Verlierer sei, was eine
psychologische Barriere für eine Ablehnung des Vertrages darstelle und damit gegen
das Prinzip der Abstimmungsfreiheit verstoße.
Im Zeitpunkt der Abstimmung sei noch offen, wann das gemeinsame Land gebildet, wie
die Aufgabenverteilung zwischen einem gemeinsamen Land und der Stadt Berlin
aussehen und wie die Stadt Berlin in die Gemeindeordnung eines gemeinsamen Landes
einbezogen werde. Durch das Offenbleiben dieser Fragen werde die Abstimmungsfreiheit
der Beschwerdeführer ebenfalls verletzt. Denn dem Abstimmungsberechtigten seien die
Konsequenzen, die sich aus seiner Abstimmung ergeben würden, nicht klar erkennbar.
Es liege daher eine Scheinabstimmung vor. Im übrigen seien die Beschwerdeführer in
ihrem Abstimmungsgrundrecht deshalb verletzt, weil entgegen Art. 29 Abs. 3 GG nicht
zuerst gefragt werde, ob die betroffenen Länder wie bisher bestehen bleiben sollen.
Mit ihrem am 26. Februar 1996 beim Verfassungsgerichtshof eingegangenem Antrag
begehren die Beschwerdeführer überdies den Erlaß einer einstweiligen Anordnung des
Inhalts, die für den 5. Mai 1996 festgesetzte Volksabstimmung bis zur Entscheidung
über ihre Verfassungsbeschwerden auszusetzen. Hilfsweise beantragen sie, den
Abstimmungszetteln einen Erläuterungstext beizulegen und diesen in den
Abstimmungslokalen zusätzlich auszuhängen.
Der Verfassungsgerichtshof hat dem Abgeordnetenhaus und dem Senat gemäß § 53
Abs. 3 i.V.m. § 44 VerfGHG Gelegenheit zur Äußerung gegeben.
II.
Die Verfassungsbeschwerden sind unzulässig. Damit erledigt sich zugleich der Antrag
auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung.
1. Der Zulässigkeit steht allerdings nicht entgegen, daß die von den Beschwerdeführern
geregten Rechtsverletzungen auch im Rahmen der Abstimmungsprüfung gerügt werden
könnten (Art. 17 und 18 des Volksabstimmungs-Vertrages). Dies folgt aus der
Erwägung, daß ebenso wie bei der Wahlprüfung bei der Abstimmungsprüfung der
Gegenstand der rechtlichen Beurteilung nicht die Verletzung subjektiver Rechte, sondern
die Gültigkeit des festgestellten Abstimmungsergebnisses ist (vgl zum Bundesrecht
BVerfGE 1, 208/238).
2. Die Verfassungsbeschwerden sind unzulässig, soweit die Beschwerdeführer geltend
machen, in ihrer Abstimmungsfreiheit deshalb verletzt zu sein, weil der Zeitpunkt der
Bildung eines gemeinsamen Landes offen sei, über die Aufgabenverteilung zwischen
dem gemeinsamen Land und der Stadt Berlin noch nicht entschieden sei und überdies
die Einbeziehung der Stadt Berlin in die Gemeindeordnung des gemeinsamen Landes
erst nach den Volksabstimmungen geregelt werde.
Zutreffend gehen die Beschwerdeführer davon aus, daß die Abstimmungsfreiheit ebenso
wie das Recht auf freie Wahl als ein durch die Verfassung von Berlin verbürgtes
subjektives Recht des Einzelnen zu qualifizieren ist. Dies ergibt sich zwar nicht schon aus
dem Wortlaut des Art. 26 der im Zeitpunkt des Inkrafttretens des (Zustimmungs-
)Gesetzes vom 18. Juli 1995 einschlägigen, am 29. Juli 1995 geltenden Verfassung von
Berlin vom 1. September 1950 (VOBl. I S. 433) zuletzt geändert durch Gesetz vom 8.
Juni 1995 (GVBl. S. 339) - VvB -. Das Recht auf Freiheit der Wahl folgt indes in einem
demokratischen Staat bereits aus dem Begriff der "Wahl" (vgl. in diesem
Zusammenhang BVerfGE 47, 253/283). Dieses Recht ist als ungeschriebenes
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Zusammenhang BVerfGE 47, 253/283). Dieses Recht ist als ungeschriebenes
demokratisches Verfassungsrecht auch auf sonstige politische Abstimmungen
anzuwenden (vgl. ebenso zum Bundesrecht BVerfGE 49, 15/19). Das Recht, sich an einer
Wahl oder Volksabstimmung zu beteiligen (Art. 2 Satz 2 VvB), schließt mithin das Recht
auf Freiheit der Wahl und der Abstimmung ein.
Die Verfassungsbeschwerden sind in dem hier in Rede stehenden Umfang gleichwohl
unzulässig. Das Recht auf freie Abstimmung kann weder durch die Offenheit des
Zeitpunkts der Bildung eines gemeinsamen Landes noch durch die im Zeitpunkt der
Volksabstimmungen nicht abschließend bestimmte Aufgabenverteilung zwischen dem
gemeinsamen Land und der Stadt Berlin oder die erst später im einzelnen zu regelnde
Einbeziehung der Stadt Berlin in die Gemeindeordnung des gemeinsamen Landes
berührt sein. Das Recht auf freie Abstimmung gewährleistet, daß der Einzelne sich an
der Abstimmung ohne Zwang oder sonstige unzulässige Beeinträchtigung beteiligen
kann (vgl. dazu BVerfGE 66, 369/380 mit weiteren Nachweisen). Es verlangt darüber
hinaus, daß der Abstimmende die Möglichkeit haben muß, sich mit den
Abstimmungsvorschlägen rechtzeitig vertraut zu machen (siehe u. a. BVerfGE 79,
161/166). Da Gegenstand der auf den 5. Mai 1996 festgelegten Volksabstimmung in
erster Linie die Zustimmung zum Neugliederungs-Vertrag ist (Art. 4 Abs. 1 des
Volksabstimmungs-Vertrages) und dieser Gegenstand der Bevölkerung durch
Zusendung von Informationsmaterial zusammen mit der Abstimmungsbenachrichtigung
bekanntgemacht ist bzw. wird, kann entgegen dem Vorbringen der Beschwerdeführer
keine Rede davon sein, daß es sich bei der bevorstehenden Abstimmung um eine
"Scheinabstimmung" handelt. Der Neugliederungs-Vertrag enthält eine Vielzahl von
Regelungen über die künftige Landesverfassung, Landtags- und Kommunalwahlen,
Landesverwaltung, Landesentwicklung, Finanzen, Personal, Rechtsvereinheitlichung, bis
hin zum Namen, zur Landeshauptstadt, zu den Landesfarben und dem Landeswappen.
Damit ist der Gegenstand der Abstimmung hinreichend bestimmt, auch wenn einzelne
Fragen einer künftigen Regelung vorbehalten bleiben.
Ebensowenig kann die Abstimmungsfreiheit dadurch verletzt sein, daß die Abstimmung
für oder gegen ein gemeinsames Bundesland von den Abstimmenden nicht mit einem
bestimmten Zeitpunkt verknüpft werden kann ("Ja" oder "Nein", wenn die Fusion im Jahre
1999 erfolgt, bzw. "Ja" oder "Nein", wenn die Fusion im Jahre 2002 erfolgt). Denn aus der
Abstimmungsfreiheit folgt kein subjektives Verfassungsrecht, den Gegenstand der
Abstimmung zu bestimmen.
3. Die Verfassungsbeschwerden sind ferner unzulässig, soweit die Beschwerdeführer
eine Verletzung ihres Rechts auf Beteiligung an der Volksabstimmung darin sehen, daß
abweichend von Art. 29 Abs. 3 GG nicht zuerst gefragt wird, ob die betroffenen Länder
wie bisher bestehen bleiben sollen. Es kann dahinstehen, ob die Angabe der Reihenfolge
über die Abstimmungsfragen in Art. 29 Abs. 3 GG überhaupt ein subjektives Recht
begründet, dessen Verletzung mit einer Verfassungsbeschwerde geltend gemacht
werden könnte. Jedenfalls handelt es sich nicht um ein von der Verfassung von Berlin
gewährleistetes und mit der Landesverfassungsbeschwerde rügefähiges Recht.
Angesichts dessen bedarf es keiner Entscheidung, ob die Anwendbarkeit des Art. 29 GG
bei der hier in Frage stehenden Abstimmung nicht ohnehin durch die Sonderregelung
des Art. 118 a GG ausgeschlossen ist (vgl. in diesem Zusammenhang Urteil des
Verfassungsgerichts des Landes Brandenburg vom 21. März 1996 VfGBbg 18/95 -
Urteilsabdruck S. 21 f.).
4. Die Verfassungsbeschwerden sind schließlich auch insoweit unzulässig, als die
Beschwerdeführer vorbringen, in ihrer Abstimmungsfreiheit deshalb verletzt zu sein, weil
durch die Verbindung der Frage über Annahme oder Ablehnung des Neugliederungs-
Vertrags mit der Zusatzfrage über den Zeitpunkt der Bildung des gemeinsamen Landes
auf einem Stimmzettel der Eindruck erweckt werde, die Länderfusion als solche sei
schon gleichsam "beschlossene Sache", offen sei nur noch der Zeitpunkt (1999 oder
2002), so daß den Abstimmungsberechtigten suggeriert werde, bei Ablehnung des
Fusionsvertrages stehe er auf Seiten der Minderheit und (Abstimmungs-) Verlierer, was
eine psychologische Barriere für eine Ablehnung des Vertrags darstelle. Insoweit
scheitert die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde daran, daß es an der Möglichkeit
mangelt, die Verknüpfung der beiden Fragen könne geeignet sein, die Beschwerdeführer
in ihrem verfassungsrechtlich verbürgten Recht auf Abstimmungsfreiheit zu
beeinträchtigen.
In Art. 4 Abs. 5 des Volksabstimmungs-Vertrages ist ausdrücklich bestimmt, daß die
Abstimmungsfrage und die Gesetzesfrage unabhängig voneinander beantwortet werden
können. Zwar ist es richtig, daß der Wortlaut dieser Bestimmung bisher nicht allen
Abstimmungsberechtigten bekannt sein dürfte und deshalb jedenfalls augenblicklich
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Abstimmungsberechtigten bekannt sein dürfte und deshalb jedenfalls augenblicklich
nicht ausgeschlossen werden kann, daß es insoweit zu Mißverständnissen über das
Verhältnis der beiden Fragen zueinander kommen kann. Jedoch hat die Senatskanzlei in
ihrer Stellungnahme vom 6. März 1996 hervorgehoben, auf die Unabhängigkeit der
beiden Fragen voneinander werde auch auf dem Stimmzettel selbst noch einmal mit
dem Text des Art. ,4 Abs. 5 des Volksabstimmungs-Vertrages hingewiesen. Dieser
Ankündigung entsprechend ist der Stimmzettel inzwischen - wie durch Anzeigen in der
Tagespresse und durch eine an die Abstimmungsberechtigten versandte
Informationsbroschüre des Landesabstimmungsleiters gerichtsbekannt ist - gestaltet.
Damit wird in hinreichender Weise Vorsorge dafür getroffen, daß die
Abstimmungsfreiheit jedenfalls nicht aus den von den Beschwerdeführern vorgebrachten
Gründen beeinträchtigt werden kann. Die von den Antragstellern mit Schriftsatz vom 1.
April 1996 erhobene Rüge, durch das individuell unterschiedliche Erkennen oder
Nichterkennen des Verhältnisses von Frage und Zusatzfrage werde das Recht auf
Gleichheit bei der Abstimmung verletzt, läßt angesichts der angekündigten
Erläuterungen auf dem Stimmzettel die Möglichkeit einer Verletzung von Rechten der
Beschwerdeführer nicht erkennen und ist deshalb gleichfalls unzulässig.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 33, 34 VerfGHG.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
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