Urteil des VerfGH Berlin vom 29.03.2017

VerfGH Berlin: freiheit der person, verfassungsbeschwerde, untersuchungshaft, anwendung des rechts, fluchtgefahr, verdunkelungsgefahr, persönliche freiheit, eltern, wohnung, vollzug

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Gericht:
Verfassungsgerichtshof
des Landes Berlin
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
84/02, 84 A/02, 127/02,
127 A/02
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 49 Abs 2 VGHG BE, § 50
VGHG BE, § 51 Abs 1 VGHG BE,
Art 8 Abs 1 Verf BE, Art 12 Abs
1 Verf BE
Tenor
Die Verfahren werden unter dem führenden Aktenzeichen VerfGH 127/02, 127 A/02 zur
gemeinsamen Entscheidung verbunden.
Die Verfassungsbeschwerden werden zurückgewiesen.
Damit erledigen sich zugleich die Anträge auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung.
Das Verfahren ist gerichtskostenfrei.
Auslagen werden nicht erstattet.
Gründe
I.
1.Der nicht vorbestrafte Beschwerdeführer war als Justitiar beim Wirtschaftsrat der DDR
tätig und wurde nach der Wiedervereinigung als Anwalt in Berlin zugelassen. Er hat zwei
erwachsene Kinder aus einer geschiedenen Ehe und ein minderjähriges Kind aus einer
bestehenden Ehe sowie fünf weitere Kinder – darunter ein weiteres minderjähriges – aus
mehreren anderen Beziehungen.
Seit dem 20. September 2000 befindet er sich in Untersuchungshaft in der
Justizvollzugsanstalt Moabit, zunächst aufgrund Haftbefehls des Amtsgerichts D. vom
19. September 2000 – 12 Gs 83/00 –, danach aufgrund Haftbefehls des Amtsgerichts
Tiergarten vom 5. Oktober 2000 – 352 Gs 5093/00 –, welcher durch den Haftbefehl des
Amtsgerichts Tiergarten vom 9. November 2000 – 352 Gs 5663/00 – ersetzt wurde. Die
Haftbefehle ergingen wegen des Vorwurfs, gewerbsmäßig gestohlene Sachen angekauft
oder sich sonst verschafft und sie in Bereicherungsabsicht abgesetzt oder absetzen
geholfen zu haben, zugleich zur Täuschung im Rechtsverkehr eine unechte Urkunde
hergestellt und gebraucht zu haben sowie ein der Wohnung von Menschen dienendes
Gebäude in Brand gesetzt und zugleich, anders als durch Freisetzen von Kernenergie,
namentlich mit Sprengstoff, eine Explosion herbeigeführt und dadurch fremde Sachen
von bedeutendem Wert gefährdet zu haben, sowie durch Vortäuschen eines
Versicherungsfalls einen Betrugsversuch unternommen und schließlich ohne
erforderliche Erlaubnis die tatsächliche Gewalt über eine halbautomatische
Selbstladewaffe von nicht mehr als 60 cm ausgeübt zu haben. Es bestehe wegen der zu
erwartenden erheblichen Freiheitsstrafe Fluchtgefahr und wegen der Begleitumstände
der Tathandlungen, Verschleierungsversuchen und Drittbeteiligungen auch
Verdunkelungsgefahr. Es besteht ein weiterer, vom Kammergericht bestätigter
Haftbefehl – 67 Js 213/01 – wegen des Tatvorwurfs der Untreue in bezug auf
Mandantengelder.
Nachdem das Verfahren wegen des Vorwurfs des unerlaubten Waffenbesitzes durch
Beschluß vom 14. Januar 2002 abgetrennt worden war, verurteilte das Landgericht Berlin
den Beschwerdeführer am 8. Februar 2002 nach 43 Verhandlungstagen wegen
besonders schwerer Brandstiftung in Tateinheit mit der Herbeiführung einer
Sprengstoffexplosion sowie wegen versuchten Betruges und Hehlerei zu einer
Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahren und sieben Monaten gemäß § 306 b Abs. 1 Nr. 2,
§ 306 a Abs. 1 Nr. 3, § 308 Abs. 1, § 263 Abs. 1 und 3 Satz 2 Nr. 5, § 259 Abs. 1, § 25
Abs. 2, § 52, § 53 StGB. Bei der Strafzumessung sah das Gericht u. a. als erschwerend
an, daß der Beschwerdeführer gegen den Vertreter der Staatsanwaltschaft und das Land
Berlin Schadensersatzklage mit der wahrheitswidrigen Behauptung erhoben habe,
infolge seiner unberechtigten Inhaftierung einen Schaden von mehreren hunderttausend
Mark erlitten zu haben. Gegen dieses Urteil legte der Beschwerdeführer Revision ein.
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Mit Antrag vom 12. Februar 2002 begehrte der Beschwerdeführer „Haftentlassung zum
späteren Haftantritt im offenen Vollzug“. In diesem Falle und falls die übrigen Verfahren
als unwesentliche Nebenstraftaten eingestellt würden, werde er seine Revision
zurücknehmen.
Trotz der hohen Reststrafe bestehe in seinem Falle wegen vielfältiger sozialer Bindungen
keine Fluchtgefahr. Bei weiterer Trennung von seinen Angehörigen sei er nicht
lebensfähig. Wegen der Gebrechlichkeit seiner betagten Eltern habe der Arzt für diese
Pflegschaft angeordnet, die nach Lage der Dinge nur durch den Beschwerdeführer
geleistet werden könne. Seine Kinder, insbesondere die beiden jüngeren, bedürften
seiner Fürsorge. Er werde sonst nie wieder in den Genuß kommen, Kinder aufwachsen zu
sehen. Seine russische Lebensgefährtin warte allein im fremden Land auf ihn, weine
täglich und sei seelisch krank. Im offenen Vollzug könne er sich um seine Angehörigen
kümmern und durch Arbeit zu deren Unterhalt beitragen. Im Falle der Haftaussetzung
bis zum Strafantritt könne er „entsprechende Sicherheit“ stellen.
Das Landgericht lehnte den Antrag des Beschwerdeführers durch Beschluß vom 20.
März 2002 ab. Der Haftgrund der Fluchtgefahr bestehe weiterhin. Er habe in Deutschland
keine beruflichen Bindungen mehr. Seine Lebensgefährtin sei Russin. Er habe in
Kaliningrad (ehemals Königsberg) für seinen minderjährigen Sohn eine Wohnung gekauft
und früher eine Diskothek betrieben. Auch besitze er russische Sprachkenntnisse. Bei
dieser Sachlage bestehe die Gefahr, daß der Beschwerdeführer sich dem Verfahren
durch Flucht ins Ausland entziehe. Die Fortdauer der U-Haft sei angesichts der Höhe der
Strafe auch nicht unverhältnismäßig.
Mit Schreiben vom 5. Juli 2002 beantragte der Beschwerdeführer beim Landgericht
„sofortige Haftaussetzung“. Am 3. Juli 2002 sei ein Anschlag auf das Leben seiner
Lebensgefährtin verübt worden. Der russische Täter habe sich gewaltsam Zutritt zu ihrer
Wohnung verschafft und ihr mit einem Küchenmesser die rechte Hand schwer verletzt. In
der folgenden Nacht habe er sie telefonisch bedroht und terrorisiert. Die Lebensgefährtin
und das Kind hielten sich nun bei seinen Eltern versteckt. Die Wohnung sei nur
provisorisch gesichert. Ohne ihn sei seine Familie schutzlos und könne nicht versorgt
werden. Die Polizei habe zwischenzeitlich nur den Reisepaß des Täters eingezogen.
Durch Beschluß vom 10. Juli 2002 lehnte das Landgericht die Haftverschonung ab. Der
Beschwerdeführer sei weiterhin dringend tatverdächtig und die Haftgründe der Flucht-
und der Verdunkelungsgefahr dauerten an. Für den Schutz der Lebensgefährtin sei die
Polizei im Rahmen der Gefahrenabwehr zuständig und in der Lage. Die Lebensgefährtin
sei nach dem Vorfall nur mit einem leichten Verband an der Hand in der Geschäftsstelle
der Kammer erschienen. Danach sei sie augenscheinlich zur Versorgung des Kindes in
der Lage. Im übrigen stünde ihr bei Hilfsbedürftigkeit auch das Jugendamt zur Seite.
Gegen diesen Beschluß legte der Beschwerdeführer am 18. Juli 2002 durch seinen
Verteidiger und am 22. Juli 2002 persönlich, der Beschwerdeführer zugleich auch gegen
den Beschluß des Landgerichts vom 20. März 2002, Beschwerde zum Kammergericht
ein. Er beantragte die Aussetzung des Vollzugs des Haftbefehls in Verbindung mit der
Anordnung weniger einschneidender Maßnahmen nach § 116 Abs. 1 StPO. Das Urteil
des Landgerichts vom 8. Februar 2002 sei materiell falsch. Da es sich um einen Brand in
einem leerstehenden Gebäude gehandelt habe, könne allenfalls eine minderschwere
Brandstiftung vorgelegen haben. Aber auch unabhängig davon sei im Hinblick auf seine
persönlichen Verhältnisse und die noch nicht rechtskräftige Verurteilung Haftentlassung
unter Anordnung weniger einschneidender Maßnahmen im Sinne von § 116 StPO
geboten. Er sei in eine kontrollierte Freiheit zu entlassen. Fluchtgefahr bestehe nicht. Er
wiederholte die Darstellung seiner familiären Bindungen. In Kaliningrad verfüge er weder
über wirtschaftliche noch über soziale Bindungen. Die dort gekaufte Wohnung werde von
den Eltern seiner Lebensgefährtin genutzt. Eine Flucht würde die Aufenthaltserlaubnis
seiner Lebensgefährtin wie auch die Staatsangehörigkeit und überhaupt die
Lebenschancen seines kleinen Sohnes sowie die Beziehungen zu seinen übrigen Kindern
und seinen Eltern gefährden. Er habe nur umgangssprachliche Russischkenntnisse,
beherrsche die Sprache aber nicht in Wort und Schrift und kenne auch die dortigen
Gesetze nicht. Daher könne er im Ausland keine Berufstätigkeit ausüben, zumal eine
körperliche Tätigkeit aufgrund seiner angeschlagenen Gesundheit ausscheide. Als Folge
des Brandes wiesen 27 % seines Körpers vernarbte Brandwunden auf. Sein linker Fuß sei
bei dem Vorfall gebrochen und inzwischen falsch zusammengewachsen. Dies habe eine
nur eingeschränkte Gehfähigkeit zur Folge. Er benötige dringend fachärztliche
Behandlung, die in der Haft nicht gegeben und im Ausland nicht zu bezahlen sei. In
Berlin könne er hoffen, eine Anstellung bei einem Anwalt oder als Betriebswirt oder als
ausgebildeter Musiker zu finden. Die Personaldokumente von ihm und seiner Familie,
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ausgebildeter Musiker zu finden. Die Personaldokumente von ihm und seiner Familie,
ohne die niemand für Rußland ein Visum erhalten würde, könnten an Gerichtsstelle
hinterlegt werden. Auch seien seine Eltern bereit, ihr unbelastetes Grundstück mit einem
Einfamilienhaus als Sicherheit zur Verfügung zu stellen. Die Haft gefährde seine
Existenz, das seelische Wohl seiner Familie und angesichts des Vorfalls mit dem
russischen Angreifer sogar deren Leben. Die Haft sei daher unverhältnismäßig. Die
angenommene Fluchtgefahr existiere real nicht.
Der Verteidiger des Beschwerdeführers führte zusätzlich aus, das Landgericht habe
weder die Fluchtgefahr noch die Verdunkelungsgefahr begründet. Das Landgericht hätte
den Beschwerdeführer nicht verurteilt, wenn es nicht der Auffassung gewesen wäre, daß
der Sachverhalt aufgeklärt und die Schuld erwiesen sei. Daher stelle sich die Frage, was
der Beschwerdeführer nun noch verdunkeln könne. Das Landgericht verhalte sich daher
selbstwidersprüchlich. Ein auf Verdunkelungsgefahr gestützter Haftbefehl sei
grundsätzlich nach Abschluß der letzten Tatsacheninstanz aufzuheben.
Das Landgericht lehnte es durch Beschluß vom 25. Juli 2002 ab, der Beschwerde
abzuhelfen. Die Fluchtgefahr ergebe sich weiterhin aus der hohen Straferwartung und
dem Umstand, daß der Beschwerdeführer bereits in der Vergangenheit intensive
Kontakte ins Ausland gepflegt habe und seine Lebensgefährtin russische
Staatsangehörige sei. Der Umstand, daß sie zur Zeit in Berlin wohne, ändere daran
nichts. Die Verdunkelungsgefahr entfalle zwar in der Regel nach Abschluß des
Verfahrens im letzten Tatsachenzug. Im hiesigen Verfahren sei jedoch das
Verteidigungsverhalten des Beschwerdeführers von ständig wechselnden, sich dem
jeweiligen Kenntnisstand der Ermittlungsbehörden bzw. der Kammer anpassenden
Einlassungen geprägt gewesen. Das habe äußerst langwierige Beweisaufnahmen
notwendig gemacht. Der Beschwerdeführer habe brieflich auf Zeugen eingewirkt, ihm bei
der Beschaffung von Beweismitteln zu helfen. Mit Rechtsanwalt B. habe er dadurch ein
unkontrolliertes Gespräch in der Strafanstalt führen können, daß er ihm zum Schein eine
Strafprozeßvollmacht ausstellte.
Am 6. September 2002 verwarf das Kammergericht die Beschwerde des
Beschwerdeführers gegen den Beschluß des Landgerichts vom 10. Juli 2002 „aus den
zutreffenden Gründen der angefochtenen Entscheidung“. Der Beschluß des
Landgerichts werde durch das Beschwerdevorbringen nicht entkräftet. Soweit sich die
Beschwerde gegen den Beschluß des Landgerichts vom 30. März 2002 richtete, verwarf
sie das Kammergericht als unzulässig. Es könne jeweils nur die letzte Haftentscheidung
angefochten werden, also hier nur diejenige vom 10. Juli 2002.
2. Mit Schreiben vom 5. Juli 2002 hat der Beschwerdeführer gegen das Urteil des
Landgerichts vom 8. Februar 2002 Verfassungsbeschwerde erhoben und beantragt, im
Wege der einstweiligen Anordnung den Haftfortdauerbeschluß des Landgerichts,
ebenfalls vom 8. Februar 2002, aufzuheben, die Untersuchungshaft des
Beschwerdeführers bis zur Entscheidung über die Revision, längstens bis zum Ablauf von
sechs Monaten, auszusetzen und den Beschwerdeführer während dieses Zeitraums
unter Festlegung von Auflagen aus der Haft zu entlassen. Die Untersuchungshaft
verletze ihn in seinen Grundrechten aus Art. 6, Art. 7, Art. 8 Abs. 1 und Art. 12 Abs. 1 der
Verfassung von Berlin (VvB). Zur Begründung verwies der Beschwerdeführer zunächst
auf den Überfall auf seine damalige Lebensgefährtin. Auch sei das Urteil des
Landgerichts sachlich falsch. Er habe allenfalls nach § 306 Abs. 1 StGB, nicht nach den
§§ 306 a, 306 b StGB verurteilt werden dürfen. Deswegen bestehe an der Aufhebung des
Urteils kein Zweifel. Bevor es aber dazu komme, werde er dann mehr als 2 1/2 Jahre in
Untersuchungshaft gesessen haben. Die Haft gefährde sein Leben und das Wohl seiner
Familie und werde mit zunehmender Dauer unverhältnismäßig. Eine Entscheidung im
Wege der einstweiligen Anordnung sei zur kurzfristigen Beseitigung der
Verfassungsverstöße auch notwendig.
Mit Schreiben vom 19. September 2002 hat der Beschwerdeführer gegen den Beschluß
des Landgerichts vom 10. Juli 2002 und den diesen bestätigenden Beschluß des
Kammergerichts vom 6. September 2002 Verfassungsbeschwerde erhoben und
beantragt, im Wege der einstweiligen Anordnung die Untersuchungshaft bis zur
Revisionsentscheidung unter Festlegung von Maßnahmen nach § 116 StPO auszusetzen,
hilfsweise das Revisionsgericht „anzuhalten“, über die Revision bis zum 1. November
2002 zu entscheiden.
Die Untersuchungshaft verletze den Beschwerdeführer in seinen Grundrechten gemäß
Art. 8 Abs. 1, Art. 12 sowie Art. 23 Abs. 1 VvB. Schon im Hinblick auf die Unrichtigkeit
des Urteils des Landgerichts sei die Fortdauer der Haft unverhältnismäßig. Hinzu käme,
daß Haftgründe bei vernünftigem Abwägen nicht gegeben seien. Der Haftgrund der
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daß Haftgründe bei vernünftigem Abwägen nicht gegeben seien. Der Haftgrund der
Verdunkelungsgefahr scheide nach Abschluß der Tatsacheninstanz aus. Er befinde sich
erstmalig und nun schon seit zwei Jahren in Haft, davon 18 Monate unter verschärften
Sicherungsauflagen. Die Haftauswirkungen auf ihn seien schwerwiegend, wie selbst das
Strafurteil einräume, und hätten bereits zu einem Selbsttötungsversuch geführt. Im Falle
der Strafvollstreckung käme für ihn offener Vollzug in Frage, was praktisch einer
kontrollierten Freiheit nach § 116 StPO ähnlich sei. Zu Beginn des Verfahrens seien ihm
drei bis vier Jahre Freiheitsentzug im offenen Vollzug angeboten worden, falls er
geständig sei. Hafterleichterung werde ihm also nur darum nicht gewährt, weil er ein
Tatgeständnis ablehne. Die Haft verschlechtere seinen Gesundheitszustand, zumal er
dringend ärztlicher Fachbehandlung bedürfe. Seine Familie befinde sich in einer
Notsituation. Seine fünf- und 13-jährigen Söhne bedürften der väterlichen Fürsorge. Im
Falle der Haftverschonung könne er durch Arbeit die Familie versorgen. Wie die von ihm
angeführte Rechtsprechung zeige, müsse auch ein relativ hoher Strafrest nicht immer
Fluchtgefahr indizieren. In seinem Falle schlössen seine sozialen und familiären
Bindungen, die sich auch in seiner Eheschließung vom 28. August 2002 manifestierten,
sowie seine wirtschaftlichen Verhältnisse die Fluchtmöglichkeit praktisch aus. Er werde
bei Haftentlassung im Zusammenwirken mit den Eltern mit dem Bau eines
Einfamilienhauses beginnen. Er könne eine Sicherheit in Höhe von 300.000 Euro stellen.
Schließlich könne ein Flucht durch Hinterlegung der Personaldokumente ausgeschlossen
werden. In einem neuen Verfahren käme eine Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe nicht
in Betracht. In Fällen, bei denen der Brandstifter als einziger erheblich geschädigt sei,
werde das Verfahren in der Regel gemäß § 60 StGB ohne Strafausspruch beendet.
II.
Die Verfassungsbeschwerden haben keinen Erfolg.
1.Die Verfassungsbeschwerde vom 5. Juli 2002 ist unzulässig. Soweit sie sich gegen das
Strafurteil des Landgerichts wendet, ist das eingeleitete Revisionsverfahren noch nicht
abgeschlossen und daher der fachgerichtliche Rechtsweg nicht erschöpft. Letzteres ist
jedoch nach § 49 Abs. 2 Satz 1 VerfGHG grundsätzlich eine Zulässigkeitsvoraussetzung
für eine Verfassungsbeschwerde. Die Ausnahmevoraussetzungen für eine Entscheidung
vor Erschöpfung des Rechtswegs nach § 49 Abs. 2 Satz 2 VerfGHG sind weder dargetan
noch ersichtlich. Es ist nicht erkennbar, daß sich die mit der Inhaftierung des
Beschwerdeführers verbundenen Belastungen ganz grundsätzlich von denen anderer
Untersuchungshäftlinge, die auf die Entscheidung des Revisionsgerichts warten,
unterscheiden. Darüber hinaus fehlt es an der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde
auch deswegen, weil sie nicht, wie von § 50 VerfGHG gefordert, hinreichend konkret
begründet worden ist. Die Untersuchungshaft wird zwar als unverhältnismäßig gerügt,
auch werden eine Reihe von Artikeln der Verfassung von Berlin als verletzt aufgeführt
und wird das Leben des Beschwerdeführers als gefährdet bezeichnet. Weitere,
insbesondere begründende Ausführungen zu einer Verletzung von Verfassungsrechten
des Beschwerdeführers läßt die Verfassungsbeschwerde vom 5. Juli 2002 jedoch
vermissen. Es kann nicht Aufgabe des Gerichts sein, sich eine Begründung aus
auszugsweise beigefügten Anlagen selbst zusammenzustellen. Die
Verfassungsbeschwerde beschränkt sich im wesentlichen auf eine Kritik an der
einfachrechtlichen Sachverhaltswürdigung durch das Strafurteil der ersten Instanz.
Unzulässig ist die Verfassungsbeschwerde auch insoweit, als sie sich gegen den
Haftfortdauerbeschluß des Landgerichts vom 8. Februar 2002 wendet. Zwar hat der
Beschwerdeführer mit seinem Antrag auf Haftprüfung vom 12. Februar 2002 hier
zunächst den ordentlichen Rechtsweg beschritten, nach der Ablehnung seines Antrags
durch das Landgericht vom 20. März 2002 Beschwerde zum Kammergericht jedoch erst
durch Schreiben vom 22. Juli 2002 erhoben. Zu diesem Zeitpunkt war seine
diesbezügliche Beschwerde unzulässig, weil inzwischen schon eine zeitnähere
Haftentscheidung des Landgerichts ergangen war. Der Beschwerdeführer hat daher den
Rechtsweg gegen die Haftfortdauerentscheidung des Landgerichts vom 8. Februar 2002
nicht ausgeschöpft. Im übrigen war seine Verfassungsbeschwerde insoweit auch
verfristet. Ausweislich des Sitzungsprotokolls vom 8. Februar 2002 war der
Haftfortsetzungsbeschluß an jenem Tage im Beisein des Beschwerdeführers verkündet
worden. Nach § 51 Abs. 1 VerfGHG ist eine Verfassungsbeschwerde binnen zwei
Monaten nach Bekanntgabe der jeweils angegriffenen Entscheidung zu erheben. Die
Frist, die auch für die Erhebung von Verfassungsbeschwerden gegen nicht rechtskräftige
Entscheidungen vor Erschöpfung des Rechtswegs (vgl. zum Bundesrecht BVerfGE 27,
253 <269>) gilt, lief daher am 8. April 2002 ab.
2.Die weitere Verfassungsbeschwerde vom 19. September 2002 ist nur teilweise
zulässig.
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Unzulässig ist die Verfassungsbeschwerde gemäß § 50 VerfGHG, soweit sie eine
Verletzung des Grundrechts auf Eigentum gemäß Art. 23 Abs. 1 Satz 2 VvB rügt, denn
dazu fehlt jede Begründung.
Im übrigen ist die Verfassungsbeschwerde vom 19. September 2002 zulässig.
Der Zulässigkeit steht zunächst nicht entgegen, daß Gegenstand der
Verfassungsbeschwerde auf Bundesrecht beruhende Entscheidungen Berliner Gerichte
sind. Denn insoweit besteht in den Grenzen der Art. 142, 31 GG eine Prüfungsbefugnis
hinsichtlich solcher Grundrechte der Verfassung von Berlin, die mit vom Grundgesetz
verbürgten Grundrechten übereinstimmen (st. Rspr.; u. a. Beschluß vom 6. Oktober
1998 – VerfGH 32/98 – NJW 1999, 47).
Der Zulässigkeit steht weiter nicht entgegen, daß gegen den Beschwerdeführer in dem
weiteren Verfahren 67 Js 213/01 Überhaft notiert ist, er daher auch bei Erfolg
vorliegender Verfassungsbeschwerde möglicherweise nicht unmittelbar freikommen
würde. Ein Häftling wird durch jeden bestehenden Haftbefehl für sich genommen
beschwert, ohne daß es auf die Existenz und das Schicksal sonstiger Haftbefehle, deren
Ausgestaltung, Dauer und Berechtigung hier nicht zu beurteilen sind, noch ankäme
(Beschluß vom 3. Mai 2001 – VerfGH 94/00 –).
Es ist auch Rechtswegerschöpfung eingetreten. Die Tatsache, daß der Beschwerdeführer
die Berechtigung des Haftbefehls und seiner Aufrechterhaltung durch Haftprüfung und
Haftbeschwerde jederzeit erneut fachgerichtlich überprüfen lassen kann, steht dem nicht
entgegen. Eine derartige Überprüfung ist bereits begrifflich kein Rechtsmittel gegen den
vorausgegangenen Kammergerichtsbeschluß. Auch wäre andernfalls eine
Verfassungsbeschwerde gegen diesen überhaupt ausgeschlossen (Beschluß vom 2.
Dezember 1993 – VerfGH 89/93 – LVerfGE 1, 169 <185>). Soweit die
Verfassungsbeschwerde zulässig ist, erweist sie sich allerdings als unbegründet; die
angegriffenen gerichtlichen Entscheidungen halten einer verfassungsrechtlichen
Überprüfung stand.
Auslegung und Anwendung des Rechts der Untersuchungshaft, d. h. die Feststellung und
Würdigung der Voraussetzungen für den Erlaß und die Fortdauer eines Haftbefehls, sind
grundsätzlich allein Aufgabe der zuständigen Fachgerichte. Der Verfassungsgerichtshof,
der kein Instanzgericht ist, hat grundsätzlich nicht das Ermessen dieser Gerichte durch
eigenes Ermessen zu ersetzen. Er kann vielmehr nur dann korrigierend eingreifen, wenn
spezifisches Verfassungsrecht verletzt ist (Beschluß vom 2. Dezember 1993 – VerfGH
69/93 – LVerfGE 1, 169 <189>).
Vorstehend hat das Kammergericht die Haftgründe als fortdauernd angesehen und sich
zur Begründung allein auf die Ausführungen des Landgerichts bezogen. Es hat demnach
den dringenden Tatverdacht aus der Tatsache der Erstinstanz lichen Verurteilung
gefolgert und die Fluchtgefahr mit der Straferwartung des Beschwerdeführers sowie
dessen vielfältigen Beziehungen nach Rußland, namentlich nach Kaliningrad, begründet.
Bezüglich der Verdunkelungsgefahr konnte es sich auf die Ausführungen des
Landgerichts vom 25. Juli 2002 stützen.
Gegen diese Subsumtion sind verfassungsrechtliche Bedenken nicht festzustellen.
Gegen die Annahme dringenden Tatverdachts wehrt sich der Beschwerdeführer selbst
ernsthaft nur insoweit, als er eine Bestrafung nach §§ 306 a und 306 b StGB statt nach §
306 StGB moniert. Auf die Darlegungen des Landgerichts, warum in seinem konkreten
Fall verhaltensbedingt eine Verdunkelungsgefahr ausnahmsweise trotz Beendigung der
Tatsacheninstanz andauert, geht er in der Begründung seiner Verfassungsbeschwerde
nicht ein. Allerdings verneint er nachdrücklich das Vorliegen von Fluchtgefahr angesichts
seiner sozialen, kulturellen und beruflichen Verwurzelung in Berlin und angesichts seiner
familiären Verbundenheit namentlich zu seinen beiden minderjährigen Kindern und den
pflegebedürftigen Eltern. Das Kammergericht hält gleichwohl die verbleibende Reststrafe
im Falle der Erfolglosigkeit der Revision trotz der bestehenden Bindungen in Berlin noch
für einen ausreichenden Fluchtanreiz. Im Hinblick darauf, daß die Überlegungen, die für
die Fortdauer einer Verdunkelungsgefahr sprechen, nicht ausgeräumt sind, daß die
erkannte Strafe nach dem Urteil der ersten Instanz hoch ist, daß dem Beschwerdeführer
möglicherweise aus dem weiteren Verfahren eine zusätzliche Strafe drohen könnte und
die bestehenden familiären Bindungen eben auch nach Rußland weisen, ist die Annahme
eines Fortbestandes der Haftgründe in den angegriffenen Entscheidungen des
Kammergerichts und des Landgerichts weder als willkürlich noch als unvertretbar
anzusehen. Dabei ist zu beachten, daß gegen einen Beschuldigten, der einer Straftat
nach § 306 b StGB verdächtig ist, Untersuchungshaft auch ohne Vorliegen eines
Haftgrundes angeordnet werden kann (§ 112 Abs. 3 StPO).
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Es ist auch keine Verletzung des das gesamte Verfassungsrecht beherrschenden
Prinzips der Verhältnismäßigkeit festzustellen. Die Freiheit der Person ist Basis der
allgemeinen Rechtsstellung und Entfaltungsmöglichkeit des Menschen. Der Schutz von
Ehe und Familie beinhaltet eine wertentscheidende Grundsatznorm, der auch im
Haftvollzug Bedeutung zukommt (BVerfGE 42, 95 <101> zu dem gleichlautenden Art. 6
Abs. 1 GG; st. Rspr.). Gleiches gilt für das elterliche Erziehungsrecht. Alle diese
Bestimmungen beinhalten individuelle Freiheitsrechte. In sie darf nur eingegriffen
werden, wenn überwiegende Belange des Gemeinwohls dies zwingend gebieten (BVerfG
NJW 1980, 1449). Zu den Belangen, gegenüber denen das Recht eines Beschuldigten auf
Freiheit der Person, auf Leben in ehelicher und familiärer Gemeinschaft und auf elterliche
Erziehung u. U. zurückstehen muß, gehören die Bedürfnisse einer wirksamen
Strafrechtspflege (Beschluß vom 23. Dezember 1992 – VerfGH 38/92 – LVerfGE 1, 45
<53>), die als Teil des Rechtsstaatsprinzips ihrerseits Verfassungsrang einnimmt. Sie
beinhaltet auch die Bekämpfung, Aufklärung und gerechte Ahndung schwerer Straftaten
(Beschluß vom 2. Dezember 1993 – VerfGH 89/93 – LVerfGE 1, 169 <187>; st. Rspr.).
Ein vertretbarer Ausgleich des Widerstreits dieser für den Rechtsstaat wichtigen
Grundsätze läßt sich im Bereich des Rechts der Untersuchungshaft nur durch Abwägung
erreichen. Den Freiheitsbeschränkungen, die vom Standpunkt einer funktionstüchtigen
Strafverfolgung erforderlich sind, ist der Freiheitsanspruch des noch nicht rechtskräftig
verurteilten Beschuldigten als Korrektiv entgegenzuhalten (st. Rspr. des
Bundesverfassungsgerichts; z. B. NJW 1974, 307). Dabei kann der Grundsatz der
Verhältnismäßigkeit der Haftdauer auch unabhängig von der zu erwartenden Strafe
Grenzen setzen und wird sich das Gewicht des Freiheitsanspruchs gegenüber dem
Interesse einer wirksamen Strafverfolgung mit zunehmender Dauer der
Untersuchungshaft regelmäßig vergrößern (st. Rspr.; BVerfG NJW 1980, 1448 m. w. N.).
Die Inhaftierung des nicht rechtskräftig verurteilten Beschwerdeführers stellt einen
schweren Eingriff in seine Lebenssphäre dar und berührt in zentraler Weise den
Schutzbereich seiner persönlichen Freiheit, seines Rechts auf eheliches und familiäres
Leben und auf elterliche Erziehung seiner noch nicht erwachsenen Kinder, zumal er zur
Zeit der Entscheidung des Kammergerichts schon zwei Jahre in Untersuchungshaft
zugebracht hat. Dem steht das Interesse der staatlichen Gemeinschaft an einer
funktionstüchtigen Strafverfolgung, die sich ebenfalls aus dem Wertesystem der
Grundgesetzes herleitet (Art. 92 GG) und, wie jede Rechtsprechung, auch der Wahrung
der Grundrechte dient, gegenüber (BVerfGE 33, 23 <32>; 77, 65 <76>).
Zweck der Untersuchungshaft ist es im vorliegenden Fall insbesondere, sicherzustellen,
daß der Beschwerdeführer sich der Verbüßung der im Urteil des Landgerichts
verhängten Freiheitsstrafe von acht Jahren und sieben Monaten nicht durch Flucht
entziehen und daß er nicht durch bestimmte Handlungen auf sachliche oder persönliche
Beweismittel in der Weise einwirken kann, daß dadurch die Ermittlung der Wahrheit
später erschwert werden könnte. Dieser Zweck ist angesichts der hier im Vordergrund
stehenden spezialpräventiven Funktion der Freiheitsstrafe von erheblichem Gewicht. Da
die verbüßte Untersuchungshaft für den Fall, daß das Urteil rechtskräftig wird, auf die
verhängte Freiheitsstrafe angerechnet wird, die erfolgte Freiheitsentziehung in diesem
Fall also als solche gerechtfertigt ist, bleibt als wesentliche, im Rahmen der
Verhältnismäßigkeit abzuwägende Grundrechtsbeeinträchtigung auf Seiten des
Beschwerdeführers der Nachteil eines ungerechtfertigten Haftvollzugs für den Fall der
Abmilderung des Strafurteils.
Vorliegend ist nichts dafür ersichtlich, daß die Instanzgerichte in den angegriffenen
Entscheidungen diesen Abwägungsrahmen verkannt oder unsachgemäß ausgefüllt
haben. Besonderheiten ergeben sich im vorliegenden Fall zwar insoweit, als der bisher
unbestrafte Beschwerdeführer eine Familie mit einem minderjährigen Kind hat, mit dem
er vor der Inhaftierung auch zusammenlebte, und insoweit, als seine medizinische
Versorgung in der Haft möglicherweise nicht als optimal anzusehen ist. Dem steht das
Nachtatverhalten des Beschwerdeführers während des Strafprozesses und die
verhängte hohe Freiheitsstrafe gegenüber. Die Unschuldsvermutung zugunsten des
Beschwerdeführers gilt zwar fort, relativiert sich allerdings aufgrund der erstinstanzlichen
Verurteilung und aufgrund der Teilgeständigkeit.
Die Würdigung der konkreten Umstände und die Abwägung der sich
gegenüberstehenden Grundsätze sind, wie dargelegt, zuvörderst Sache der zuständigen
Fachgerichte. Sie können von dem Verfassungsgerichtshof, der keine
Rechtsmittelinstanz ist, nicht in der Sache im einzelnen überprüft werden. Von einer
Verkennung der Bedeutung und Tragweite der Grundrechte auf persönliche Freiheit
sowie Ehe und Familie kann hier angesichts des Umfangs des den Gegenstand des
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sowie Ehe und Familie kann hier angesichts des Umfangs des den Gegenstand des
Strafverfahrens bildenden Sachverhalts und der bereits erfolgten Verurteilung keine
Rede sein. Es läßt sich vorliegend nicht feststellen, daß die Belange des
Beschwerdeführers ersichtlich schwerer wiegen als diejenigen der durch das Gemeinwohl
gebotenen Strafverfolgung, und es ist deshalb nicht zu beanstanden, wenn die
Fachgerichte den mit der Untersuchungshaft zwangsläufig verbundenen Eingriff in die
Grundrechte des Beschwerdeführers auf Freiheit, familiäres Zusammenleben und
elterliche Erziehung als verhältnismäßig angesehen haben.
Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 33, 34 VerfGHG.
Dieser Beschluß ist unanfechtbar.
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