Urteil des VerfGH Berlin vom 15.03.2017

VerfGH Berlin: körperliche unversehrtheit, wiederherstellung der aufschiebenden wirkung, verfassungsbeschwerde, aufschiebende wirkung, öffentliche gewalt, grundrecht, vollziehung, umweltschutz, nacht

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Gericht:
Verfassungsgerichtshof
des Landes Berlin
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
30/96, 30 A/96
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
Art 2 Abs 2 S 1 GG, Art 8 Abs 1
S 1 Verf BE, Art 11 Verf BE, Art
23 Abs 1 Verf BE, § 8 LärmV BE
VerfGH Berlin: Fachgerichtliche Aufrechterhaltung des
Sofortvollzugs einer lärmschutzrechtlichen Ausnahmezulassung
für Bauarbeiten während der Nacht- und Ruhezeiten verletzt
nicht das Recht auf körperliche Unversehrtheit
Gründe
I.
Die Beschwerdeführer erheben Verfassungsbeschwerde gegen einen Beschluß des
Oberverwaltungsgerichts Berlin, durch den im Verfahren vorläufigen Rechtsschutzes ihr
Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ihrer verwaltungsgerichtlichen
Klage zurückgewiesen worden ist.
Sie leben mit ihren Kindern in einer Mietwohnung im Hause K… Straße in Berlin-
Kreuzberg, das an die Großbaustelle am Potsdamer Platz angrenzt, und wenden sich
gegen die behördliche Bewilligung von Ausnahmen von dem gesetzlichen Verbot
störenden Baulärms während der Nacht- und Ruhezeiten.
Die Beigeladenen des Ausgangsverfahrens haben als bauausführende
Arbeitsgemeinschaft im Baufeld B des Daimler-Benz-Bauvorhabens Potsdamer Platz
eine in 19 Abschnitten zu je 1.200 qm im Wege der Unterwasser-Ausführung
vorgesehene Betonsohle zu erstellen. Sie beantragten unter dem 22. November sowie
8. und 22. Dezember 1995 bei der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und
Umweltschutz, für das entsprechende Baulos 4 die Ausnahmezulassung für Arbeiten in
Nacht- und Ruhezeiten bis zum 30. September 1996 zu verlängern. Nach Anhörung u. a.
der Beschwerdeführer hierzu sowie unter Berücksichtigung ergänzender Eingaben der
Beigeladenen vom 5. Januar, 22. und 26. Februar sowie 1. März 1996 erteilte die
Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, Umweltschutz und Technologie mit Bescheid
vom 4. März 1996 den Beigeladenen eine Ausnahmezulassung gemäß § 8 LärmVO für
die Ausführung von Unterwasserbetonagen im Baufeld B der debis-Baustellen am
Potsdamer Platz in dem Zeitraum vom 7. März bis 30. April 1996 mit der Maßgabe, daß
die unter II des Bescheids in 20 Punkten aufgeführten einschränkenden
Nebenbestimmungen zu beachten seien.
Nachdem die Beschwerdeführer am 6. März 1996 beim Verwaltungsgericht Berlin - VG
10 A 126/96 - eine gegen diese Ausnahmegenehmigung gerichtete Klage eingereicht
hatten, beantragten die Beigeladenen unter dem 6. März 1996 bei der Behörde, die
Ausnahmezulassung für sofort vollziehbar zu erklären. Nach Anhörung der
Beschwerdeführer ordnete die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, Umweltschutz
und Technologie unter dem 11. März 1996 die sofortige Vollziehung gemäß § 80 Abs. 2
Nr. 4 VwGO an.
Auf den gegen diese Anordnung gerichteten Antrag der Beschwerdeführer stellte das
Verwaltungsgericht durch Beschluß vom 15. März 1996 - VG 10 A 138.96 - die
aufschiebende Wirkung der Klage wieder her. Das Oberverwaltungsgericht Berlin gab mit
Beschluß vom 27. März 1996 - OVG 2 S 5.96 - der hiergegen gerichteten Beschwerde
der Beigeladenen statt und wies den Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden
Wirkung der Klage zurück.
Mit ihrer Verfassungsbeschwerde wenden sich die Beschwerdeführer gegen diese
Entscheidung. Sie beantragen ferner, im Wege einstweiliger Anordnung die Vollziehung
des angegriffenen Beschlusses des Oberverwaltungsgerichts bzw. der
Ausnahmezulassung der Senatsverwaltung bis zur Entscheidung über die
Verfassungsbeschwerde auszusetzen. Sie machen zur Begründung geltend, sie und ihre
Kinder seien in ihrem Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 8 Abs. 1 Satz 1
VvB) verletzt. Dieses umfasse auch den geistig-seelischen Bereich, das psychische
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VvB) verletzt. Dieses umfasse auch den geistig-seelischen Bereich, das psychische
Wohlbefinden. Selbst bei Zugrundelegung der Auffassung des Oberverwaltungsgerichts
Berlin, daß der mit der Klage angegriffene Ausnahmebescheid vom 4. März 1996 bei
summarischer Prüfung rechtmäßig sei, hätten die lediglich wirtschaftlichen Interessen
der Baufirmen hintangestellt werden müssen und beruhe die vorgenommene Abwägung
auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung und dem
Schutzbereich des zugunsten der Beschwerdeführer verbürgten Grundrechts. Die
Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Berlin und der zugrundeliegende Bescheid
der Behörde verletzten aber auch deswegen das Grundrecht der Beschwerdeführer auf
körperliche Unversehrtheit, weil der Sachverhalt unzureichend ermittelt worden sei. Zu
Unrecht werde angenommen, daß die beantragte Ausnahmezulassung zur Bebauung
des Potsdamer Platzes erforderlich sei. Auf die entsprechenden Angaben der
Beigeladenen und auf die Bestätigung durch einen Parteigutachter hätten sie sich nicht
verlassen dürfen. Es liege im eigenen Risikobereich der finanzkräftigen Großkonzerne,
wenn sie aufgrund der niedrigeren Baukosten oder zur besseren Grundstücksnutzung
eine Art der Bauausführung wählten, die sich nur durch Eingriff in grundrechtlich
geschützte Rechtsgüter Dritter verwirklichen lasse.
Die Senatsverwaltung für Justiz sowie die Beigeladenen des Ausgangsverfahrens haben
Gelegenheit zur Stellungnahme erhalten.
Der Präsident des Verfassungsgerichtshofs Prof. Dr. Finkelnburg und der Vizepräsident
Dr. Rörting sind gemäß § 16 Abs. 1 Nr. 1 VerfGHG in dieser Sache von der Ausübung des
Richteramtes ausgeschlossen.
II.
Die Verfassungsbeschwerden sind zulässig. Ihrer Zulässigkeit steht nicht entgegen, daß
die im Verfahren vorläufigen Rechtsschutzes umstrittene behördliche Anordnung gemäß
§ 80 a Abs. 2 VwGO sowie die angegriffene gerichtliche Entscheidung nach § 80 Abs. 5
Satz 1 VwGO auf der Anwendung von Bundesrecht beruhen. Der Verfassungsgerichtshof
ist grundsätzlich berechtigt, Akte der öffentlichen Gewalt des Landes Berlin am Maßstab
von in der Verfassung von Berlin verbürgten Individualrechten zu messen, die nicht im
Widerspruch zum Bundesrecht stehen. Solche Individualrechte, soweit sie inhaltlich mit
den Grundrechten des Grundgesetzes übereinstimmen, sind auch dann von der
rechtsprechenden Gewalt des Landes Berlin zu beachten, wenn diese Bundesrecht
anwendet (vgl. den Beschluß vom 2. Dezember 1993 - VerfGH 89/93, NJW 1994, 436 m.
Nachw.). Das in Rede stehende Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit ist
gleichlautend in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG und in Art. 8 Abs. 1 Satz 1 VvB verbürgt. Damit
hat die öffentliche Gewalt des Landes Berlin auch bei Auslegung von Bundesrecht
zugleich die Wirkungen dieses Landesgrundrechts mit zu beachten und ist der
Verfassungsgerichtshof insoweit im Verfahren der Verfassungsbeschwerde zur Prüfung
berufen.
Die Verfassungsbeschwerde genügt auch den in § 49 Abs. 1 und § 50 VerfGHG
niedergelegten Begründungserfordernissen, namentlich ist auch die Möglichkeit einer
Verletzung des in der Verfassung von Berlin verbürgten Grundrechts auf körperliche
Unversehrtheit (Art. 8 Abs. 1 Satz 1 VvB) hinreichend dargelegt.
Zwar schützt dieses Recht in seinem klassischen Gehalt nur vor gezielten staatlichen
Eingriffen.
Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, der der
Verfassungsgerichtshof für Art. 8 Abs. 1 Satz 1 VvB folgt, erschöpft sich das Grundrecht
jedoch nicht in einem subjektiven Abwehrrecht gegenüber solchen Eingriffen. Aus ihm ist
vielmehr auch eine Schutzpflicht des Staates und seiner Organe für das geschützte
Rechtsgut abzuleiten, deren Vernachlässigung von dem Betroffenen mit der
Verfassungsbeschwerde geltend gemacht werden kann (BVerfGE 77, 170 [214]; 77, 381
[402 f.] 79, 174 [201f]). Die Vorschriften der Verordnung zur Bekämpfung des Lärms
(LärmVO) in der Fassung vom 6. Juli 1994 (GVBl. S. 231) tragen dieser staatlichen
Schutzpflicht Rechnung, und die von den Beschwerdeführern hier behauptete fehlerhafte
Auslegung der Ausnahmebestimmung des § 8 Abs. 1 LärmVO würde eine
Vernachlässigung der Schutzpflicht bedeuten.
Ferner ist der Rechtsweg i. S. des § 49 Abs. 2 Satz 2 VerfGHG gegen die hier gerügte
Anordnung der sofortigen Vollziehung des Bescheides und die Ablehnung vorläufigen
Rechtsschutzes durch das Oberverwaltungsgericht erschöpft. Diese Entscheidungen
enthalten für die Beschwerdeführer eine selbständige Beschwer, die sich nicht mit
derjenigen deckt, die Gegenstand des Hauptsacheverfahrens ist. Wenn - wie hier - die
Verletzung von Grundrechten namentlich durch Entscheidungen im vorläufigen
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Verletzung von Grundrechten namentlich durch Entscheidungen im vorläufigen
Rechtsschutzverfahren gerügt wird, verlangt § 49 Abs. 2 Satz 1 VerfGHG im Ergebnis
nur, daß der Rechtsweg des Eilverfahrens erschöpft ist (Beschluß vom 12. Juli 1994 -
VerfGH 94/93 - NJ 1995, S. 29). Die von den Beschwerdeführern behauptete
Grundrechtsverletzung kann durch das verwaltungsgerichtliche Hauptsacheverfahren,
bei dem es sich nur noch um eine Fortsetzungsfeststellungsklage handeln kann, nicht
rechtzeitig ausgeräumt werden. Bei dieser Sachlage ist den Beschwerdeführern eine
Verweisung auf die Durchführung des verwaltungsgerichtlichen Hauptsacheverfahrens
nicht zuzumuten.
Die Verfassungsbeschwerde ist jedoch nicht begründet. Die angegriffene Entscheidung
des Oberverwaltungsgerichts Berlin läßt keinen verfassungsrechtlich relevanten Fehler
zum Nachteil der Beschwerdeführer bei der Tatsachenfeststellung oder der Abwägung
erkennen.
Der Verfassungsgerichtshof kann die mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen
gerichtlichen Entscheidungen nicht wie ein Rechtsmittelgericht uneingeschränkt
überprüfen. Die Gestaltung des Verfahrens, die Feststellung und Würdigung des
Tatbestands, die Auslegung des einfachen Rechts und seine Anwendung auf den
einzelnen Fall sind grundsätzlich Sache der dafür allgemein zuständigen Fachgerichte.
Auch eine nach einfachem Recht objektiv fehlerhafte Entscheidung ist der
verfassungsgerichtlichen Überprüfung nur zugänglich, soweit Auslegungsfehler sichtbar
werden, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung eines
Grundrechts, insbesondere vom Umfang seines Schutzbereiches beruhen (vgl. die
Beschlüsse VerfGH 53/92 und VerfGH 3/93, jeweils vom 17. Februar 1993). In diesem
Rahmen ist es allerdings nicht ausgeschlossen, daß die grundrechtlichen Verbürgungen
auch zu Mindesterfordernissen bei der Aufklärung und Feststellung des Sachverhalts
führen und daß insoweit eine Rüge im Verfassungsbeschwerdeverfahren erfolgreich sein
kann (vgl. den Beschluß vom 2. Dezember 1993 - VerfGH 89/93 -, a. a. 0.).
Gemessen an diesen Maßstäben hält die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts
einer verfassungsgerichtlichen Prüfung stand. Die vom Oberverwaltungsgericht
dargelegte Überzeugung, daß die von den Beigeladenen erwirkte behördliche
Ausnahmezulassung nach § 8 Abs. 1 LärmVO in dem anhängigen Anfechtungsverfahren
mit erheblich überwiegender Wahrscheinlichkeit Bestand haben werde, ist ohne
Verkennung des Schutzbereichs des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit
gewonnen worden.
Dies gilt zunächst hinsichtlich der vom Oberverwaltungsgericht vorgenommenen
Sachverhaltsaufklärung. Soweit sich das Oberverwaltungsgericht bei der Beurteilung der
Frage, ob es einen möglichen und zumutbaren anderen, Weg zur Erstellung der
geplanten Bebauung gebe, der die beanstandeten Geräuschimmissionen vermeiden
würde, die fachtechnischen Darlegungen der Beigeladenen zu eigen gemacht und sich
auf die gutachterliche Stellungnahme der Amtlichen Materialprüfanstalt für das
Bauwesen beim Institut für Baustoffe, Massivbau und Brandschutz der Technischen
Universität Braunschweig vom 1. März 1996 gestützt hat, ist dagegen aus der Sicht des
Landesverfassungsrechts nichts zu erinnern. Die Beschwerdeführer haben sich nämlich
im fachgerichtlichen Verfahren zu diesen Darlegungen und insbesondere zu dem
Gutachten nicht in einer Weise eingelassen, daß diese Überzeugungsbildung und die
Unterlassung weiterer gerichtlicher Aufklärung als Verfassungsverstoß erscheinen
könnten. Auch in der Begründung der Verfassungsbeschwerde wird maßgeblich nicht auf
tatsächlich gangbare Alternativen für die Erreichung des konkreten Bauzieles abgestellt,
sondern nur generell beanstandet, daß der Grundstückseigentümer bzw. Bauherr sich
nicht mit einer den Ausnahmeantrag nach § 8 LärmVO erübrigenden, eventuell das
Grundstück in geringerem Maße wirtschaftlich ausnutzenden Planung begnügt habe.
Damit wird jedoch kein verfassungsrechtlich relevanter Fehler aufgezeigt.
Angesichts des eingangs dargelegten, nur eingeschränkten verfassungsrechtlichen
Prüfungsmaßstabs kommt es auch nicht darauf an, daß das Oberverwaltungsgericht
nicht der Frage nachgegangen ist, ob den von ihm angenommenen erheblichen
Belastungen der Anwohner durch weitere Nebenbestimmungen gemäß § 8 Abs. 3
LärmVO wie etwa der Auflage, für besonders lärmintensive Bauphasen den Betroffenen
das Angebot anderweitiger adäquater Unterbringung zu machen, hätte Rechnung
getragen werden können und ob sich die Ausnahmezulassung deshalb als
ermessensfehlerhaft darstellt. Denn eine Verkennung des Schutzbereichs des
Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit ist auch insoweit nicht anzunehmen.
Auch die Abwägung der widerstreitenden Interessen für eine Vorrangentscheidung nach
§ 8 Abs. 1 LärmVO sowie die zusätzliche Würdigung, daß im Rahmen des vorläufigen
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§ 8 Abs. 1 LärmVO sowie die zusätzliche Würdigung, daß im Rahmen des vorläufigen
Verfahrens nach § 80 Abs. 5 VwGO trotz des mit Zeitablauf hier drohenden endgültigen
Rechtsverlustes die Belange der Beschwerdeführer zurücktreten müssen, lassen
ebenfalls keinen Verfassungsverstoß erkennen. Entgegen der Auffassung der
Beschwerdeführer kann nicht von Verfassungs wegen der Grundsatz statuiert werden,
daß bei einer Kollision zwischen Lärmschutzinteressen einerseits und Berufs- und
Eigentümerinteressen andererseits jedenfalls für das Verfahren vorläufigen
Rechtsschutzes generell nur zugunsten der ersteren entschieden werden dürfe. Die
Ausführungen der angegriffenen Entscheidung ergeben keinen Anhalt dafür, daß sich
das Oberverwaltungsgericht der insoweit auch im einfachen Recht manifestierten und bei
der Abwägung zu beachtenden grundrechtlichen Belange nicht bewußt war. Es hat
insbesondere darauf abgestellt, daß die für die Beschwerdeführer geschaffenen
Belastungen und Risiken gerade durch die zahlreichen Einschränkungen und Auflagen
des Ausnahmebescheids vom 4. März 1996 so weit gemildert seien, daß den
Beschwerdeführern die sofortige Hinnahme zumutbar sei.
Mit der Zurückweisung der Verfassungsbeschwerden ist der Antrag auf Erlaß einer
einstweiligen Anordnung gegenstandslos.
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf den §§ 33, 34 VerfGHG.
Dieser Beschluß ist unanfechtbar.
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