Urteil des VerfGH Berlin vom 15.03.2017

VerfGH Berlin: untersuchungshaft, öffentliche gewalt, verfassungsbeschwerde, privatsphäre, brief, rechtsschutzinteresse, fluchtgefahr, wiederholungsgefahr, post, telekommunikation

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Gericht:
Verfassungsgerichtshof
des Landes Berlin
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
115/10
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
Art 6 Verf BE, Art 7 Verf BE, Art
16 Verf BE, § 54 Abs 3 VGHG
BE, § 95 Abs 2 BVerfGG
Erforderlichkeit von Überwachungsanordnungen nach § 119 Abs
1 StPO in der Untersuchungshaft
Leitsatz
Es verletzt die Grundrechte eines Untersuchungsgefangenen auf Schutz der Privatsphäre und
auf Wahrung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses, wenn das Gericht die
Erforderlichkeit von Überwachungsanordnungen nach § 119 Abs 1 StPO allein aus den für die
Anordnung der Untersuchungshaft maßgeblichen Erwägungen ableitet, ohne zu prüfen, ob
der Flucht-, Verdunkelungs- oder Wiederholungsgefahr bereits durch die Inhaftierung des
Beschuldigten ausreichend begegnet wird.
Tenor
Der Beschluss des Kammergerichts vom 18. Mai 2010 - 4 Ws 53/10 - 1 AR 700/10 -
verletzt den Beschwerdeführer in seinen Grundrechten auf Schutz seiner Privatsphäre
(Art. 7 i. V. m. Art. 6 VvB) und auf Schutz seines Brief-, Post- und
Fernmeldegeheimnisses (Art. 16 VvB), soweit darin die Beschwerde gegen die vom
Landgericht Berlin am 23. Dezember 2009 angeordnete Überwachung der Besuche und
Telekommunikation sowie des Schrift- und Paketverkehrs verworfen worden ist. In
diesem Umfang und im Kostenpunkt wird der Beschluss aufgehoben und die Sache an
das Kammergericht zurückverwiesen.
Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde zurückgewiesen.
Das Verfahren ist gerichtskostenfrei.
Das Land Berlin hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.
Gründe
I.
Der inhaftierte Beschwerdeführer wendet sich gegen eine auf der Grundlage von § 119
Abs. 1 StPO angeordnete und mittlerweile beendete Überwachung seiner Besuche und
Telekommunikation sowie seines Schrift- und Paketverkehrs.
In den Jahren 2008 und 2009 wurde der Beschwerdeführer, ein slowenischer
Staatsangehöriger, wegen gemeinschaftlichen gewerbsmäßigen Bandenbetrugs und
gewerbsmäßigen Betrugs angeklagt. Ihm wurde unter anderem vorgeworfen, zusammen
mit anderen Beschuldigten nach Gründung einer Makleragentur für Versicherungen und
Abschluss von Courtagevereinbarungen mit Versicherungsgesellschaften
Kapitalanlagevermittlungsverträge fingiert zu haben, um betrügerisch Provisionen zu
erhalten. Im August 2009 wurde er festgenommen und befindet sich seitdem in Haft.
Am 25. März 2010 verurteilte ihn das Landgericht Berlin wegen Betrugs in 316 Fällen,
davon in drei Fällen in Tateinheit mit Urkundenfälschung, Urkundenfälschung in zwei
Fällen und versuchten Betrugs in 71 Fällen, davon in zwei Fällen in Tateinheit mit
Urkundenfälschung, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren. Gegen das Urteil
legte der Beschwerdeführer Revision ein. Die gegen ihn angeordnete Untersuchungshaft
wurde zunächst weiter vollzogen.
Am 23. Dezember 2009 hatte der Vorsitzende der zuständigen Großen Strafkammer
des Landgerichts mit Wirkung zum 1. Januar 2010 unter anderem angeordnet, dass die
Besuche, die Telekommunikation sowie der Schrift- und Paketverkehr des
Beschwerdeführers in der Untersuchungshaft zu überwachen seien. Gegen diese
Anordnung legte der Beschwerdeführer am 20. April 2010 Beschwerde mit der
Begründung ein, nach Abschluss des erstinstanzlichen Verfahrens sei es nicht
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Begründung ein, nach Abschluss des erstinstanzlichen Verfahrens sei es nicht
notwendig, seine Kontakte zu überwachen. Der Vorsitzende der zuständigen Großen
Strafkammer half der Beschwerde nicht ab und führte dazu an: Ein unkontrollierter
Besuchs-, Telekommunikations-, Schrift- und Paketverkehr berge die Gefahr von
Absprachen zur Aufklärungsvereitelung und zur Fluchtvorbereitung. Das Verfahren
gegen weitere Mittäter sei nach wie vor offen, so dass die Gefahr unlauterer Absprachen
bestehe. Da der Verbleib des erschlichenen Geldes im Wesentlichen ungeklärt sei, sei
zudem zu besorgen, dass dieses bei einem unkontrollierten Verkehr zur Durchführung
unlauterer Machenschaften eingesetzt werde.
Mit Schreiben vom 14. Mai 2010 wandte der Beschwerdeführer ein, die angefochtene
Überwachungsanordnung sei unverhältnismäßig. Es lägen keine tatsächlichen
Anhaltspunkte dafür vor, dass er Telefonate oder den Schrift- und Paketverkehr
missbrauchen könnte, um seine Flucht zu planen. Solche Anhaltspunkte und eine
eingehende Prüfung wären aber erforderlich, um die Überwachung anzuordnen. Eine
abstrakte Gefahr allein reiche nicht aus.
Mit Beschluss vom 18. Mai 2010 verwarf das Kammergericht die Beschwerde. Die
angefochtene Überwachung des Verkehrs mit der Außenwelt sei nicht zu beanstanden.
Es bestehe weiterhin Fluchtgefahr, wie der Senat in seinem Beschluss vom 15. April
2010 zur Fortdauer der Untersuchungshaft ausgeführt habe und auf dessen Gründe
insoweit Bezug genommen werde. Danach sei jedenfalls zu besorgen, dass der
Beschwerdeführer anlässlich von nicht überwachten fernmündlichen Kontakten oder
Besuchen Fluchtvorbereitungen treffe. Auch der unkontrollierte Schrift- und Paketverkehr
berge diese Gefahr. Der Fluchtgefahr könne nur durch die angeordnete inhaltliche
Überwachung der Außenkontakte des Beschwerdeführers wirkungsvoll begegnet werden.
Mildere Maßnahmen seien nicht ersichtlich.
Der Bundesgerichtshof hat die Revision des Beschwerdeführers mit Beschluss vom 15.
September 2010 verworfen. Der Beschwerdeführer befindet sich nunmehr in Strafhaft.
Mit der im Juli 2010 erhobenen Verfassungsbeschwerde wendet sich der
Beschwerdeführer weiterhin gegen die Anordnung des Landgerichts vom 23. Dezember
2009 und den Beschluss des Kammergerichts vom 18. Mai 2010. Es sei festzustellen,
dass sein persönlicher Lebensbereich als Untersuchungsgefangener, der durch Art. 6
Satz 1 i. V. m. Art. 8 Abs. 1 Satz 2 der Verfassung von Berlin - VvB - wie in Art. 2 Abs. 1 i.
V. m. Art. 1 des Grundgesetzes geschützt werde, seine Rechte aus Art. 16 und Art. 10
Abs. 1 VvB sowie der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verletzt worden seien. Sein
Rechtsschutzinteresse bestehe nach der Verwerfung der Revision und Beendigung der
Untersuchungshaft fort. Die mittlerweile erledigte Überwachung seiner Außenkontakte
habe besonders belastend in seine Grundrechte eingegriffen. Die Gerichte hätten die
Überwachung grundlos angeordnet. Sie seien von der Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts und anderer Obergerichte abgewichen. Eine Überwachung
dürfe nur angeordnet werden, wenn im Einzelfall konkrete Anhaltspunkte für eine
Gefährdung des Haftzwecks durch einen unkontrollierten Kontakt des
Untersuchungsgefangenen mit der Außenwelt vorlägen. Dies habe das Kammergericht
nicht geprüft. Es habe sich nur auf die von ihm angenommene Fluchtgefahr bezogen, die
Grund für die Inhaftierung, nicht aber für die Überwachung der Außenkontakte sein
könne. Tatsächliche Anhaltspunkte dafür, dass er seine Telefonate oder seinen Schrift-
und Paketverkehr missbrauchen könnte, um seine Flucht aus der Haft zu planen, hätten
nicht vorgelegen. Der Umstand, dass ein möglicher Missbrauch des Freiheitsrechts nicht
völlig auszuschließen sei, reiche allein nicht aus, um solche Beschränkungen
anzuordnen.
Der Präsidentin des Kammergerichts ist Gelegenheit zur Äußerung gegeben worden.
II.
1. a) Die Verfassungsbeschwerde ist unzulässig, soweit sie sich gegen die Anordnung
des Landgerichts richtet. Der Anfechtung dieser Entscheidung steht, da keine
Grundrechtsverletzung geltend gemacht wird, die im Beschwerdeverfahren vor dem
Kammergericht nicht korrigierbar gewesen wäre, der Grundsatz der Subsidiarität
entgegen (vgl. Beschluss vom 21. April 2009 - VerfGH 18/08 - wie alle zitierten
Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofs unter www.gerichtsentscheidungen.berlin-
brandenburg.de, Rn. 6 m. w. N.; st. Rspr.).
b) Soweit sich die Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluss des Kammergerichts
vom 18. Mai 2010 richtet, ist sie zulässig.
Das Rechtsschutzinteresse für die Verfassungsbeschwerde ist nicht entfallen, obwohl die
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Das Rechtsschutzinteresse für die Verfassungsbeschwerde ist nicht entfallen, obwohl die
Überwachungsanordnung mittlerweile als erledigt angesehen werden kann. Eine
Überwachung sämtlicher Außenkontakte eines Gefangenen stellt einen im unmittelbaren
Zusammenhang mit der Untersuchungshaft stehenden und damit besonders tief
greifenden Grundrechtseingriff in dessen persönlichen Lebensbereich dar (vgl. BVerfG,
EuGRZ 2010, 531 <533> Rn. 29 m. w. N.). Bei einem solchen Eingriff besteht das
Rechtsschutzinteresse insbesondere dann fort, wenn sich die direkte Belastung durch
den angegriffenen Hoheitsakt - wie hier - auf eine Zeitspanne beschränkt, in welcher der
Betroffene eine Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs regelmäßig nicht erlangen
kann (st. Rspr., vgl. Beschluss vom 20. März 2007 - VerfGH 201/04 - Rn. 13; zum
Bundesrecht: BVerfGE 104, 220 <233> und FamRZ 2010, 1624).
2. Die Verfassungsbeschwerde ist, soweit zulässig, auch begründet. Der Beschluss des
Kammergerichts verletzt den Beschwerdeführer in seinen Grundrechten auf Schutz der
Privatsphäre und auf Schutz des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses.
a) aa) Die Anordnung, die Telefonate sowie den Schrift- und Paketverkehr des
Beschwerdeführers zu überwachen, hat in dessen Grundrecht aus Art. 16 VvB auf
Wahrung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses eingegriffen. Dieses
gewährleistet die freie Entfaltung der Persönlichkeit durch einen privaten, vor den Augen
der Öffentlichkeit verborgenen Austausch von Nachrichten, Gedanken und Meinungen,
indem es den Einzelnen davor schützt, dass die öffentliche Gewalt sich Kenntnis vom
Inhalt seiner Telefonate oder seines Brief- und Postverkehrs verschafft; es geht als das
speziellere Grundrecht demjenigen auf Schutz der Privatsphäre vor (vgl. zum
Bundesrecht: BVerfG, Beschluss vom 2. Juni 1981 - 2 BvR 1102/80 -, juris Rn. 1; Driehaus
in: Driehaus [Hrsg.], VvB, 3. Aufl. 2009, Art. 16 VvB, Rn. 2 ff. m. w. N.).
Im Übrigen, nämlich hinsichtlich der Ermächtigung, die Telekommunikation abzubrechen,
Briefe und Pakete anzuhalten, Besuche zu überwachen und diese vorzeitig zu beenden,
hat die Anordnung zu einem Eingriff in das durch Art. 7 i. V. m. Art. 6 VvB verbürgte
Recht des Beschwerdeführers auf Schutz seiner Privatsphäre geführt (vgl. zum
Bundesrecht: BVerfG, NJW 1997, 185 <186> und StV 2010, 142 f.; BVerfGE 35, 35 <39
f.>; 57, 170 <177 ff.>). Als Teil des allgemeinen Persönlichkeitsrechts gewährleistet es
einen individuellen Schutzraum, der dem Einzelnen eine private Lebensgestaltung frei
von staatlicher Beeinflussung garantiert (vgl. Beschluss vom 24. Januar 2003 - VerfGH
39/99 - Rn. 10 ff. <13 f.>; Driehaus, a. a. O., Art. 6 Rn. 9 f.; vgl. zum Bundesrecht:
BVerfG, StV 1993, 592 f. und NStZ 1996, 613 f.).
bb) In die genannten Grundrechte darf, wie in alle Grundrechte, nur auf gesetzlicher
Grundlage eingegriffen werden; dies gilt auch für den Vollzug der Untersuchungshaft
(vgl. BVerfGE 57, 170 <177>; BVerfG, StV 2009, 253 <254>). Eine zureichende
Grundlage in diesem Sinn bildet § 119 Abs. 1 StPO in der seit dem 1. Januar 2010
geltenden Fassung (s. Art. 1 Nr. 5 und Art. 8 des Gesetzes zur Änderung des
Untersuchungshaftrechts vom 29. Juli 2009, BGBl. S. 2274 ff., <2275 f.> und <2279>) in
gleicher Weise, wie dies für § 119 Abs. 3 StPO a. F. anerkannt war (vgl. BVerfG, StV 2009,
253 <254> m. w. N.).
cc) Eine zur Einschränkung grundrechtlicher Freiheiten berechtigende gesetz-liche
Grundlage entbindet die Gerichte allerdings nicht von ihrer Verpflichtung, im Lichte der
Grundrechte und unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu prüfen, ob
die jeweiligen Eingriffsvoraussetzungen vorliegen; dies gilt bei der Auslegung und
Anwendung von § 119 Abs. 1 StPO in besonderem Maße (vgl. BVerfGE 34, 369 <380>;
35, 5 <9> und 307 <309> zu § 119 Abs. 3 StPO a. F.). Dabei ist zu beachten, dass die
Vorschrift eine strikt auf die Abwehr von Gefahren für die Haftzwecke beschränkte
Ermächtigung enthält, also für Eingriffe ohne eine ausreichende,
gefahrenabwehrrechtlich begründete Abwägung keinen Raum bietet (so BVerfG, StV
2009, 253 <254> zu § 119 Abs. 3 StPO a. F.). Zudem ist dem Umstand Rechnung zu
tragen, dass ein Untersuchungsgefangener noch nicht rechtskräftig verurteilt ist und
deshalb allein unvermeidlichen Einschränkungen seiner Grundrechte unterworfen werden
darf (a. a. O.).
Hieraus folgt, dass Anordnungen nach § 119 Abs. 1 StPO von Verfassungs wegen nur
zulässig sind, wenn aufgrund konkreter Anhaltspunkte eine reale Gefahr für die darin
genannten Haftzwecke (Flucht, Verdunkelungs- oder Wiederholungsgefahr) besteht. Die
bloße Möglichkeit, dass ein Untersuchungsgefangener seine Freiheiten missbraucht,
genügt nicht (vgl. BVerfG, StV 1993, 592 f., NStZ 1996, 613 f., NJW 1997, 185 <186>
und StV 2009, 253 <254>; KG, Beschluss vom 12. Februar 2001 - 1 AR 960/00 - 4 Ws 23
und 24/01 -, juris Rn. 2 f.; OLG Hamm, Beschluss vom 9. Februar 2010 - 3 Ws 46/10 -,
juris Rn. 42 ff.; König, NStZ 2010, 185 <187>; Michalke, NJW 2010, 17 <19>). Vor
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juris Rn. 42 ff.; König, NStZ 2010, 185 <187>; Michalke, NJW 2010, 17 <19>). Vor
diesem Hintergrund hat der Gesetzgeber bei der Neufassung des § 119 StPO bewusst
davon abgesehen, bestimmte standardmäßig anzuordnende Beschränkungen für
Untersuchungsgefangene festzulegen. Vielmehr soll aus grundrechtlichen Erwägungen
jede Beschränkung von dem Haftgericht auf ihre konkrete Erforderlichkeit im Einzelfall
geprüft und begründet werden (siehe BT-Drucks. 16/11644, S. 24).
Unzureichend ist es deshalb insbesondere, die Flucht-, Verdunkelungs- oder
Wiederholungsgefahr, welche eine Anordnung nach § 119 Abs. 1 StPO recht-fertigen soll,
ausschließlich auf die Würdigung zu stützen, die der Anordnung bzw. der Fortdauer der
Untersuchungshaft zugrunde liegt. Andernfalls wären - da jeder
Untersuchungsgefangene wegen der Annahme von Flucht-, Verdun-kelungs- oder
Wiederholungsgefahr inhaftiert ist - Anordnungen nach § 119 Abs. 1 StPO ohne
zusätzliche Voraussetzungen, d. h. praktisch immer zulässig. Richtigerweise muss die
durch die Inhaftierung des Beschuldigten veränderte Situation in die Würdigung und
Abwägung der tatsächlichen Umstände des Einzelfalls einbezogen und geprüft werden,
ob die abzuwehrende (Flucht-, Verdunkelungs- oder Wiederholungs-) Gefahr trotz
Inhaftierung des Beschuldigten besteht und den Erlass einer Anordnung gemäß § 119
Abs. 1 StPO, d. h. eine Einschränkung von dessen Grundrechten, erfordert.
b) Diesen Maßstäben wird die angefochtene Entscheidung des Kammergerichts nicht
gerecht.
Zur Notwendigkeit der von dem Landgericht getroffenen Anordnung nach § 119 Abs. 1
StPO verweist das Kammergericht auf die im Beschluss zur Fortdauer der
Untersuchungshaft vom 15. April 2010 näher begründete Befürchtung, der
Beschwerdeführer werde sich der zu erwartenden Strafe durch ein Untertauchen oder
Absetzen entziehen. Hieraus leitet es ab, der Beschwerdeführer könne nicht überwachte
Kommunikation mit der Außenwelt nutzen, um Fluchtvorbereitungen zu treffen. Konkrete
Anhaltspunkte für eine solche Gefahr nennt der Beschluss nicht. Sie folgen nicht
automatisch aus der Fluchtgefahr, derentwegen die Untersuchungshaft des
Beschwerdeführers fortdauert. Tatsachen, die die Annahme begründen, ein nicht
inhaftierter Beschuldigter werde untertauchen oder sich absetzen, lassen nicht ohne
weiteres den Schluss zu, der Beschuldigte werde versuchen, aus der
Untersuchungshaftanstalt zu fliehen. Eine solche Flucht bedarf anderer Planungen und
Anstrengungen als das Untertauchen eines Beschuldigten, der sich noch oder wieder auf
freiem Fuß befindet (vgl. dazu OLG Hamm, a. a. O., Rn. 42 und 48; OLG Rostock, StV
2010, 197 f.).
Dass Fluchtversuche nie auszuschließen sind, vermochte die getroffenen Anordnungen
nicht zu rechtfertigen. Denn bei einer den Grundrechten des Beschuldigten und dem
Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Rechnung tragenden Auslegung von § 119 Abs. 1 StPO
sind Beschränkungen, wie dargelegt, nur zulässig, wenn konkrete Anhaltspunkte für eine
reale Gefährdung eines der darin genannten Haftzwecke vorliegen. Auf die von dem
Landgericht angenommene Verdunkelungsgefahr ist die Entscheidung nicht gestützt
worden.
c) Der Beschluss vom 18. Mai 2010 beruht auf dem festgestellten Verfassungsverstoß.
Es ist nicht auszuschließen, dass das Kammergericht zu einer für den Beschwerdeführer
günstigeren Entscheidung gelangt wäre, wenn es bei der Anwendung des § 119 Abs. 1
StPO dessen Grundrechte und den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz berücksichtigt hätte.
Auf die vom Beschwerdeführer gerügte Verletzung weiterer Grundrechte kommt es nicht
mehr an.
III.
Nach § 54 Abs. 3 VerfGHG ist der Beschluss des Kammergerichts vom 18. Mai 2010 im
tenorierten Umfang aufzuheben und die Sache insoweit in entsprechender Anwendung
von § 95 Abs. 2 Halbsatz 2 BVerfGG zurückzuverweisen. Dass sich der ursprüngliche
Antrag des Beschwerdeführers infolge der Verwerfung seiner Revision zwischenzeitlich
erledigt hat, steht einer Zurückverweisung nicht entgegen. Es ist davon auszugehen,
dass der Beschwerdeführer seine Anträge im fachgerichtlichen Verfahren umstellen und
auch dort die Feststellung erstreben wird, dass die Überwachungsmaßnahmen
rechtswidrig waren; ein Rechtsschutzinteresse für einen solchen Antrag wird ihm nicht
abgesprochen werden können.
Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 33, 34 VerfGHG.
Mit dieser Entscheidung ist das Verfahren vor dem Verfassungsgerichtshof
abgeschlossen.
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