Urteil des VerfGH Berlin vom 15.03.2017

VerfGH Berlin: russische föderation, politische verfolgung, rechtliches gehör, bundesamt für migration, ausreise, verfassungsbeschwerde, politische tätigkeit, subsidiarität, gefährdung, festnahme

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Gericht:
Verfassungsgerichtshof
des Landes Berlin
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
145/08, 145A/08
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
Art 15 Abs 1 Verf BE, § 49 Abs
1 VGHG BE, § 49 Abs 2 VGHG
BE, § 78 Abs 1 S 1 AsylVfG, §
152a VwGO
Grundsatz der Subsidiarität - Anhörungsrüge
Tenor
Die Verfassungsbeschwerde wird zurückgewiesen.
Damit erledigt sich zugleich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.
Das Verfahren ist gerichtskostenfrei.
Auslagen werden nicht erstattet.
Gründe
I.
1. Der 1986 geborene Beschwerdeführer ist russischer Staatsangehöriger. Er reiste mit
seinen Eltern und einer Schwester, der Beschwerdeführerin im Verfahren VerfGH 146/08,
in die Bundesrepublik Deutschland ein und beantragte im Oktober 2006 die Gewährung
politischen Asyls. Er gab u. a. an, tschetschenischer Volkszugehörigkeit zu sein. Wegen
der politischen Tätigkeit seines Vaters sei es auch für ihn und seine Schwester gefährlich
geworden. Im Jahre 2002/2003 sei er, bevor er Tschetschenien verlassen habe, von
russischen Soldaten geschlagen worden. Die ganze Sache sei im Rahmen einer
Säuberungsaktion geschehen. Sein Vater sei damals festgenommen worden. Die
russische Föderation habe er 2006 verlassen, weil sein Vater vom GRU (russischer
Militärnachrichtendienst) gesucht worden sei, wobei sein Vater ihm nichts Genaues
gesagt habe, so dass er Einzelheiten nicht angeben könne. Im Falle seiner Rückkehr in
die Russische Föderation müsse er befürchten, festgenommen zu werden. Er gehe
davon aus, dass damit versucht werde, seinen Vater zu zwingen, sich zu stellen. Bereits
vor der Ausreise aus der Russischen Föderation habe er als Tschetschene viele
Probleme gehabt. So habe es eine Auseinandersetzung mit „Zigeunern“ gegeben.
Mit Bescheid vom 15. Januar 2007 lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge
die Anerkennung des Beschwerdeführers als Asylberechtigten ab, stellte fest, dass
weder die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) noch
Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG vorlägen und forderte den
Beschwerdeführer unter Androhung der Abschiebung in die Russische Föderation zur
Ausreise auf. Aus dem Vorbringen des Beschwerdeführers ergäben sich keine
ausreichenden Anhaltspunkte dafür, dass er sich aus begründeter Furcht vor politischer
Verfolgung außerhalb der russischen Föderation aufhalte oder bei einer Rückkehr mit
Verfolgungsmaßnahmen rechnen müsse. Ein Kausalzusammenhang zwischen dem im
Jahre 2002 stattgefundenen Ereignis und der Ausreise aus der russischen Föderation im
Jahr 2006 liege nicht mehr vor. Nach gegenwärtigem Kenntnisstand drohe in
Tschetschenien prinzipiell keine regionale oder örtlich begrenzte Gruppenverfolgung.
Jedenfalls sei der Beschwerdeführer auf eine inländische Fluchtalternative innerhalb der
Russischen Föderation zu verweisen. Es könne dahinstehen, ob der Beschwerdeführer
die Russische Föderation als individuell vorverfolgte Person verlassen habe, da er in den
meisten Teilen des russischen Staatsgebietes vor Maßnahmen, denen unter dem
Aspekt einer politischen Verfolgung Rechtserheblichkeit zukomme, „hinreichend sicher“
wäre. Dass der Beschwerdeführer wegen der politischen Aktivitäten seines Vaters im
Falle einer Rückkehr in die Russische Föderation Sippenhaft oder ähnliche
Verfolgungsmaßnahmen befürchten müsse, habe er nicht glaubhaft machen können.
Nach seiner Übersiedlung ins Nowgoroder Gebiet habe er keinerlei Probleme mit den
russischen Behörden gehabt.
Die gegen diesen Bescheid Anfang Februar 2007 erhobene Klage begründete der
Beschwerdeführer zunächst mit der Bezugnahme auf sein Vorbringen im
Verwaltungsverfahren. Mit Schriftsatz vom 7. Dezember 2007 trug er vor, der
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Verwaltungsverfahren. Mit Schriftsatz vom 7. Dezember 2007 trug er vor, der
angefochtene Bescheid sei rechtswidrig, da er als Sohn eines herausgehobenen
Oppositionspolitikers individuell politisch verfolgt werde. Er sei vorverfolgt ausgereist und
auch bei einer etwaigen Rückkehr nicht sicher vor politischer Verfolgung. Anlässlich der
Festnahme seines Vaters sei von russischen Soldaten eine Hausdurchsuchung
durchgeführt worden, bei der er brutal geschlagen worden und seine Schwester den
Belästigungen der Soldaten ausgesetzt gewesen sei. Nach Beobachtungen des
Berichterstatters der Parlamentarischen Versammlung des Europarats sei die
Geiselnahme von Familienangehörigen mutmaßlicher Rebellen, um sie zur Aufgabe zu
zwingen, eine besorgniserregende Entwicklung. Soweit dies für Angehörige von Rebellen
gelte, gelte dies erst recht für die Familie eines in den Bemühungen um Unabhängigkeit
der Tschetschenischen Republik herausgehobenen Politikers. Im Dezember 2004 seien
acht Verwandte des früheren Präsidenten Aslan Maschadow entführt worden. Der Vater
des Beschwerdeführers sei ein enger Vertrauter von Maschadow und an dessen
Gesellschaftlichem Rat beteiligt gewesen, so dass eine entsprechende Gefährdung auch
für seine Verwandten gelte. Laut einer Stellungnahme des UNHCR vom 8. Oktober 2007
seien Personen, die offizielle Positionen (inklusive sehr niedriger Positionen) im Regime
Maschadov innegehabt hätten, und Personen, die offensichtlich von den Positionen der
gegenwärtigen Regierung abweichende politische Ansichten hätten, im Falle einer
Rückkehr gefährdet.
Im Termin zur mündlichen Verhandlung am 16. Juli 2008 nahm der Beschwerdeführer die
Klage hinsichtlich der Anerkennung als Asylberechtigter zurück. Die weitere auf die
Gewährung von Abschiebungsschutz gerichtete Klage wies das Verwaltungsgericht mit
Urteil vom selben Tage als offensichtlich unbegründet ab. Die Abweisung einer Klage als
offensichtlich unbegründet erfolge, wenn an der Richtigkeit der tatsächlichen
Feststellungen vernünftigerweise keine Zweifel bestehen könnten und sich bei einem
solchen Sachverhalt nach allgemein anerkannter Rechtsauffassung die Klageabweisung
geradezu aufdränge. Es bestünden keine Zweifel daran, dass der Beschwerdeführer sein
Heimatland nicht wegen politischer Verfolgung verlassen habe und eine solche auch
nicht gegenwärtig bei einer Rückkehr drohe. Der Beschwerdeführer habe nicht im Ansatz
glaubhaft machen können, die Russische Föderation aus Furcht vor politischer
Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG verlassen zu haben oder eine
politische Verfolgung bei Rückkehr in sein Heimatland befürchten zu müssen. Er habe
schon selbst nicht von einer einzigen gegen ihn gerichteten staatlichen asylrelevanten
Maßnahme berichtet, die Anlass für seine Ausreise gewesen sein könnte, sondern
lediglich substanzlos angeführt, sie seien ausgereist, weil sein Vater vom russischen
Geheimdienst gesucht würde, wozu er allerdings nichts Genaueres sagen könne, weil
sein Vater ihm nicht mehr berichtet habe. Die geschilderten Schläge russischer Soldaten
im Jahre 2002 im Rahmen einer so genannten Säuberungsaktion seien offensichtlich
kein Anlass gewesen, sein Heimatland zu verlassen, sondern nach dem Vorbringen des
Beschwerdeführers Grund für den Wegzug von Tschetschenien nach Tschudowo bzw.
Nowgorod Anfang 2003, wo er seitdem unbehelligt gelebt habe. Dass er ohne Zweifel
keiner Verfolgung ausgesetzt gewesen sei, belege auch der Umstand, dass er bis zu
seiner Ausreise unbehelligt an der Staatlichen Universität Architektur studiert und in
einem Wohnheim gewohnt habe. Das Gericht halte es für ausgeschlossen, dass ihm ein
(gar mehrjähriges) Studium möglich gewesen wäre, wenn gegen ihn etwas vorgelegen
hätte oder er gar staatlicher Verfolgung ausgesetzt wäre. Bezeichnenderweise sei der
Beschwerdeführer diesem bereits im angefochtenen Bescheid hervorgehobenen
Umstand in keiner Weise entgegengetreten. Der Beschwerdeführer, der die Pflicht
(gehabt) habe, bei der Aufklärung des Sachverhalts persönlich mitzuwirken, selbst die
Tatsachen vorzutragen, die seine Furcht vor politischer Verfolgung begründen, und die
erforderlichen Angaben zu machen sowie die zur Begründung der Klage dienenden
Tatsachen und Beweismittel binnen eines Monats nach Zustellung des angefochtenen
Bescheides anzugeben, habe seine Klage überhaupt erst im Oktober 2007 begründet,
sich dabei allerdings auf allgemeine Ausführungen zu einer Gefährdung von
Familienangehörigen herausgehobener Politiker beschränkt; im gesamten
Klageverfahren habe der Kläger auch nicht ansatzweise von irgendwelchen
Nachstellungen ihm gegenüber in Tschudowo bzw. Nowgorod berichtet. Weiterer Beleg
dafür, dass der Beschwerdeführer offensichtlich keiner Verfolgung ausgesetzt gewesen
sei, sei der Umstand, dass er von der Meldebehörde in Nowgorod noch im August 2006
einen neuen russischen Inlandspass erhalten habe. Unabhängig von Vorstehendem sei
nicht ansatzweise ersichtlich, welches Verfolgungsinteresse staatliche Stellen gegenüber
dem Beschwerdeführer gehabt haben sollten. Er sei weder an Kampfhandlungen beteiligt
gewesen, noch habe er irgendwelche die Kämpfer oder Rebellen unterstützende
Tätigkeiten ausgeübt. Es habe keinerlei Anlass für die Sicherheitskräfte bestanden, ihm
gegenüber tätig zu werden, vielmehr habe er unbehelligt an der staatlichen Universität
Architektur studieren können. Die Mutmaßung seines Vaters in der mündlichen
Verhandlung, die Sicherheitskräfte hätten den Anschein erwecken wollen, nicht gegen
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Verhandlung, die Sicherheitskräfte hätten den Anschein erwecken wollen, nicht gegen
seine Familie vorzugehen, um ihn - den Vater des Beschwerdeführers - besser nach
Tschetschenien verbringen zu können, sei offensichtlich verfahrensangepasst. Sie passe
schon nicht auf den Beschwerdeführer, weil dieser gar nicht in Tschetschenien, sondern
in Nowgorod gewohnt habe.
Dass der Beschwerdeführer einer Gruppenverfolgung wegen seiner tschetschenischen
Volkszugehörigkeit ausgesetzt gewesen sei, habe er schon selbst nicht vorgetragen und
sei auch nicht ersichtlich. Im Übrigen hätte ihm im Zeitpunkt seiner Ausreise nach der
ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichts Berlin in der Russischen Föderation
eine (weitere) inländische Fluchtalternative zur Verfügung gestanden. Soweit die 33.
Kammer des Verwaltungsgerichts Berlin auf der Grundlage einer Auskunft des
Auswärtigen Amtes vom 22. November 2005 für die Zeit ab 1. Juli 2004 eine inländische
Fluchtalternative verneint habe, weil seit diesem Zeitpunkt ein erforderlicher
Passumtausch an einem mit dem Ort der letzten Anmeldung nicht identischen Wohnort
des Betroffenen und damit eine Registrierung und ständige Wohnsitznahme innerhalb
der russischen Föderation auch ohne zwischenzeitlichen Aufenthalt in Tschetschenien
nicht mehr möglich gewesen sei, sei dies im Fall des Beschwerdeführers schon
deswegen unerheblich, weil er vor der Ausreise im Besitz eines kurz zuvor neu
ausgestellten russischen Inlandspasses gewesen sei, mit dem er sich woanders hätte
registrieren lassen können. Die Gefahr einer politischen Verfolgung lasse sich ebenso
wenig auf einen Nachfluchttatbestand gründen. Dem Beschwerdeführer drohe auch
gegenwärtig bei einer Rückkehr in seinen Heimatstaat offensichtlich keine politische
Verfolgung. Da der Beschwerdeführer zur Überzeugung des Gerichts bereits vor der
Ausreise keiner Verfolgung aus individuellen Gründen ausgesetzt gewesen sei, sei nicht
ersichtlich, dass der russische Staat ihn nunmehr verfolgen sollte. Im Übrigen stünde
dem Beschwerdeführer auch gegenwärtig eine inländische Fluchtalternative zur
Verfügung. Das Urteil nimmt insoweit auf Urteile der Kammer vom 10. und 12. März
2008 Bezug. Insbesondere sei weder ersichtlich noch vorgetragen, dass der
Beschwerdeführer - der bereits in seinem Heimatland ein Studium aufgenommen, keine
gesundheitlichen Einschränkungen angegeben und noch zahlreiche Verwandte in seinem
Heimatland habe - auf Grund persönlicher Umstände an der Sicherung seines
Lebensunterhaltes gehindert wäre. Dass der Beschwerdeführer weder vor seiner
Ausreise noch bei einer Rückkehr einer Verfolgung wegen seines Vaters ausgesetzt
gewesen sei bzw. sein werde, belege im Übrigen der Umstand, dass die 1983 geborene
Schwester des Beschwerdeführers weiterhin in Grosny/Tschetschenien lebe, ohne dass
von irgendwelchen Nachstellungen ihr gegenüber berichtet worden sei.
2. Mit der am 30. September 2008 erhobenen Verfassungsbeschwerde rügt der
Beschwerdeführer, die Ablehnung seines Antrags auf Flüchtlingsanerkennung als
„offensichtlich unbegründet“ verletze ihn in seinem Recht aus Art. 15 Abs. 4 der
Verfassung von Berlin - VvB -. Die Abweisung einer Klage als offensichtlich unbegründet
mit der Folge des Ausschlusses weiterer gerichtlicher Nachprüfung setze voraus, dass
an der Richtigkeit der tatsächlichen Feststellungen des Gerichts vernünftigerweise keine
Zweifel bestehen könnten und sich die Abweisung der Klage geradezu aufdränge. Die
Entscheidungsgründe müssten diese Maßstäbe und ihre Anwendung auf den Einzelfall
erkennen lassen, wobei die Darlegung besondere Sorgfalt erfordere, wenn das
Bundesamt den Asylantrag lediglich als (schlicht) unbegründet abgelehnt habe.
Der Bekanntheitsgrad des Vaters des Beschwerdeführers sei in dessen Asylverfahren
ausführlich und mit allgemein zugänglichen Quellen im Internet dargelegt worden. Das
Gericht habe die Funktionen, die dieser ausgeübt habe, ausdrücklich als wahr unterstellt.
Vor diesem Hintergrund liege eine mögliche Gefährdung der Familienangehörigen auf
der Hand. In Bezug auf Tschetschenien dürfte hinreichend bekannt sein, dass auch nahe
Angehörige von Kämpfern von der totalitär geführten „Terrorismusbekämpfung“ des
russischen Staates betroffen seien. Als Familienangehöriger eines Politikers, der in
Opposition zum Regime stehe, sei er bei einer Rückkehr nach Tschetschenien in
beachtlicher Gefahr, Opfer von individuellen Verfolgungsmaßnahmen zu werden, die mit
dem politischen Ziel durchgeführt würden, seinen Vater zur Rückkehr zu zwingen. Nach
höchstrichterlicher Rechtsprechung bestehe eine Regelvermutung dafür, dass in dem
jeweils konkret zu entscheidenden Fall den Angehörigen das gleiche Schicksal drohe.
Zwar gehe die Rechtsprechung davon aus, dass diese sich nicht auf Familienangehörige
schlechthin erstrecke, sondern nur Angehörige der in der Hausgemeinschaft geeinten
engeren Familie umfasst seien. Bei gebotener funktionaler Begriffsbestimmung seien
jedoch alle Familienangehörigen zu berücksichtigen, zwischen denen eine genügend
enge persönliche Beziehung bestehe. Vorliegend hätten die Familienangehörigen nur
wegen der Verfolgung des Vaters teilweise getrennt voneinander gewohnt.
Das Gericht habe ihm in der mündlichen Verhandlung keine Fragen gestellt, auch nicht
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Das Gericht habe ihm in der mündlichen Verhandlung keine Fragen gestellt, auch nicht
in Bezug auf die Misshandlungen durch russisches Militär bei einer Säuberungsaktion. Es
habe sich in den Entscheidungsgründen mit der unzutreffenden Feststellung begnügt,
dass der Beschwerdeführer von keiner gegen ihn gerichteten staatlichen
(asylrelevanten) Maßnahme berichtet habe. Die Nichtberücksichtigung der
Misshandlungen des Beschwerdeführers, bei denen ihm eine Handgranate in den Mund
gesteckt worden sei, stelle einen Verstoß gegen die Indizwirkung von Folter als politische
Verfolgung dar.
Das Gericht halte es für ausgeschlossen, dass dem Beschwerdeführer ein Studium
möglich gewesen wäre, wenn gegen ihn etwas vorgelegen hätte oder er gar staatlicher
Verfolgung ausgesetzt gewesen wäre. Die Entscheidungsgründe gingen nicht darauf ein,
dass sich die Situation am Ort des inländischen Fluchtortes verschlechtert habe und der
Beschwerdeführer und seine Familienangehörigen nach der Festnahme des Vertrauten
des Vaters um ihre Sicherheit fürchteten. Mit der Klagebegründung vom 16. Juni 2008,
die ausdrücklich auch zum Verfahren des Beschwerdeführers eingereicht worden sei, sei
vorgetragen worden, dass der Beschwerdeführer zusammen mit seinem Vater in
Tschudowo nur scheinbar sicher gelebt habe und von seinen einflussreichen
Familienangehörigen geschützt worden sei. Erst als ein Mitarbeiter des Vaters gefoltert
worden sei, hätten er und seine Familie befürchtet, nicht mehr sicher und Repressalien
ausgesetzt zu sein, weshalb sie aus der Russischen Föderation geflohen seien. In dem
die Eltern des Beschwerdeführers betreffenden Verfahren (VG 38 X 139.08) sei
vorgetragen worden, dass den Behörden die volle politische Tätigkeit des Vaters erst im
Sommer 2006 durch ein dem Mitarbeiter des Vaters durch Folter abgepresstes
Geständnis bekannt geworden sei.
Das Gericht habe den Sachverhalt nicht vollständig erforscht. Eine besondere Sorgfalt
bei der Darlegung bei der im Gegensatz zum Bundesamt verschärften Ablehnung sei
nicht erkennbar. Hätte es dem Beschwerdeführer vorgehalten, dass die Ausstellung
eines Inlandspasses durch die Meldebehörde auf Nichtverfolgung schließen lasse, hätte
der Beschwerdeführer schildern können, dass er seinen Inlandspass durch Bestechung
erhalten habe, womit sich der Schluss, die Passbeschaffung wäre ein Hinweis auf
mangelnde Verfolgungsgefahr, als falsch erwiesen hätte.
Das Urteil enthalte keine Ausführungen bezüglich des Nichtvorliegens einer
Gruppenverfolgungssituation. Das Gericht unterschlage, dass der Beschwerdeführer aus
Tschetschenien komme und dort gelebt habe. Erst als die Bedrohung für ihn und seinen
Vater in Tschetschenien zu groß geworden sei, seien sie innerhalb der russischen
Föderation von Tschetschenien nach Nowgorod geflohen. Dementsprechend seien
Feststellungen des Verwaltungsgerichts bezüglich einer Gruppenverfolgungssituation für
den Beschwerdeführer notwendig. Die Feststellungen, ob der Beschwerdeführer neben
einer individuellen Verfolgung auch einer Gruppenverfolgung unterfalle, seien bei einem
Offensichtlichkeitsurteil unerlässlich und könnten nur dann zu einem
Offensichtlichkeitsausspruch führen, wenn dazu eine gefestigte Rechtsprechung
bestehe. In Bezug auf eine Gruppenverfolgung von Tschetschenen bestehe eine solche
nicht. Auch ein Hinweis auf eine inländische Fluchtalternative erlaube, zumindest seit
Umsetzung der Qualifikationsrichtlinie, keine generelle Feststellung im Zusammenhang
mit einem Offensichtlichkeitsurteil. Bei der Einschätzung, ob eine inländische
Fluchtalternative bestehe, hätten die individuellen Umstände des Beschwerdeführers
berücksichtigt werden müssen. Hierzu habe das Gericht keine Fragen an ihn gerichtet,
so dass nicht ersichtlich sei, wie das Gericht entsprechende Feststellungen habe treffen
wollen. Das Gericht scheine darüber hinaus zu unrecht davon auszugehen, dass die
inländische Fluchtalternative im Zeitpunkt der Ausreise bestehen müsse. Dies sei nach
Umsetzung der Qualifikationsrichtlinie nicht mehr haltbar. In der obergerichtlichen
Rechtsprechung werde die Auffassung vertreten, dass eine einer
Gruppenverfolgungssituation ausgesetzte Person auch dann vorverfolgt ausgereist sei,
wenn im Zeitpunkt der Ausreise eine inländische Fluchtalternative bestanden habe. Der
Beschwerdeführer könne vorverfolgt nur dann in sein Heimatland zurückgeschickt
werden, wenn er dort hinreichend sicher vor erneuter Verfolgung wäre.
Eine einstweilige Anordnung sei notwendig, da der Beschwerdeführer nicht mehr im
Besitz einer Duldung sei.
II.
Die Verfassungsbeschwerde ist unzulässig.
Bei dem Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 15. Januar 2007
handelt es sich nicht um eine Maßnahme der öffentlichen Gewalt des Landes Berlin, die
nach § 49 Abs. 1 des Gesetzes über den Verfassungsgerichtshof - VerfGHG - allein
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nach § 49 Abs. 1 des Gesetzes über den Verfassungsgerichtshof - VerfGHG - allein
Gegenstand einer Verfassungsbeschwerde zum Verfassungsgerichtshof Berlin sein
kann.
Soweit sich die Verfassungsbeschwerde gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin
vom 16. Juli 2008 wendet, steht der Zulässigkeit der in § 49 Abs. 2 VerfGHG zum
Ausdruck kommende Grundsatz der Subsidiarität entgegen.
Der Grundsatz der Subsidiarität verlangt von einem Beschwerdeführer, vor einer
Anrufung des Verfassungsgerichtshofs alle ihm bei den Fachgerichten zur Verfügung
stehenden Möglichkeiten zu ergreifen, um eine Korrektur des geltend gemachten
Verfassungsverstoßes durch die Fachgerichte zu erwirken oder eine
Grundrechtsverletzung zu verhindern (Beschlüsse vom 16. Dezember 1993 - VerfGH
104/93 - LVerfGE 1, 199 <201> und 23. Oktober 2007 - VerfGH 128/07, 128 A/07 - GE
2007, 1621 m. w .N.; st. Rspr.; vgl. zum Bundesrecht: BVerfGE 63, 77 <78>).
Der Beschwerdeführer rügt mit der Verfassungsbeschwerde unter anderem, das
Verwaltungsgericht habe bei seiner Entscheidung wesentliches Vorbringen nicht
berücksichtigt und entscheidungserheblichen Sachverhalt nicht erfragt. So sei das
Verwaltungsgericht weder in der mündlichen Verhandlung noch in den
Entscheidungsgründen auf die vorgetragenen Misshandlungen durch russische Soldaten
eingegangen, sondern habe sich mit der unzutreffenden Feststellung begnügt, der
Beschwerdeführer habe von keinen gegen ihn gerichteten staatlichen asylrelevanten
Maßnahmen berichtet. Das Urteil enthalte keine Ausführungen zur Gruppenverfolgung;
das Gericht unterschlage, dass er aus Tschetschenien komme und dort gelebt habe.
Das Verwaltungsgericht sei auch nicht auf Vortrag des Beschwerdeführers eingegangen,
dass er in Tschudowo nur scheinbar sicher gelebt habe und sich die Situation für ihn und
seine Familienmitglieder am inländischen Fluchtort verschlechtert habe und sie nach der
Festnahme eines Vertrauten des Vaters um ihre Sicherheit gefürchtet hätten. Ferner
habe das Verwaltungsgericht aus dem Umstand, dass dem Beschwerdeführer noch im
August 2006 ein russischer Inlandspass ausgestellt worden sei, falsche Schlüsse
gezogen, weil es unterlassen habe, ihn hierzu zu befragen. Bei entsprechendem Vorhalt
hätte der Beschwerdeführer schildern können, dass es in russischen Behörden einen
hohen Grad an Korruption gebe und er seinen Inlandspass durch Bestechung erhalten
habe. Auch bezüglich des internen Schutzes habe das Verwaltungsgericht keine Fragen
zu den persönlichen Umständen des Beschwerdeführers gestellt.
Damit rügt der Beschwerdeführer der Sache nach (auch) die Verletzung seines in Art. 15
Abs. 1 VvB verbürgten Anspruchs auf rechtliches Gehör. Dieser erfordert, dass einer
gerichtlichen Entscheidung nur solche Tatsachen und Beweisergebnisse zugrunde gelegt
werden, zu denen sich die Beteiligten zuvor äußern konnten (Beschluss vom 15.
November 2001 - VerfGH 157/00 -, juris) und begründet die Pflicht des Gerichts, deren
Vorbringen zur Kenntnis zu nehmen und in seine Erwägungen einzubeziehen (Beschluss
vom 16. November 1995 - VerfGH 48/94 - LVerfGE 3, 116).
Die Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör hätte der Beschwerdeführer vor
einer Anrufung des Verfassungsgerichtshofs gegenüber dem Instanzgericht im Wege der
Anhörungsrüge (§ 152a VwGO) geltend machen können und müssen. Die
Anhörungsrüge ist seit Inkrafttreten des Anhörungsrügegesetzes vom 9. Dezember
2004 (BGBl. I S. 3220) gegen alle unanfechtbaren Endentscheidungen gegeben. Sie
hätte also auch gegen das nach § 78 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG unanfechtbare
streitgegenständliche Urteil erhoben werden können. Die Erhebung der Anhörungsrüge
war - die Behauptung des Außerachtlassens von entscheidungserheblichem Sachvortrag
beziehungsweise von dessen verfahrensfehlerhafter Verhinderung unterstellt - auch
nicht offensichtlich aussichtslos und unzumutbar.
Das unterbliebene Vorgehen nach § 152a VwGO hat zur Folge, dass die
Verfassungsbeschwerde in Bezug auf alle denselben Streitgegenstand betreffenden
Rügen unzulässig ist (Beschluss vom 23. Oktober 2007 - VerfGH 128/07 -, juris Rn. 7;
Beschluss vom 27. Mai 2008 - VerfGH 114/07 -, juris Rn. 9). Denn die Erhebung der
Anhörungsrüge war auch geeignet, die mögliche Verletzung des Grundrechts des
Beschwerdeführers aus Art. 15 Abs. 4 VvB zu beseitigen. Hätte das Verwaltungsgericht
einen Verstoß gegen das Gebot des rechtlichen Gehörs festgestellt, wäre das Verfahren
unter Berücksichtigung des bislang nicht zur Kenntnis genommenen Vorbringens
fortzuführen gewesen (§ 152a Abs. 5 VwGO).
Unerheblich ist, dass der Beschwerdeführer mit seiner Verfassungsbeschwerde nicht
ausdrücklich die Verletzung von Art. 15 Abs. 1 VvB rügt. Der Grundsatz der Subsidiarität
der Verfassungsbeschwerde steht als zwingende Zulässigkeitsvoraussetzung einer jeden
Verfassungsbeschwerde nicht zur Disposition der Beschwerdeführer. Das Erfordernis
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Verfassungsbeschwerde nicht zur Disposition der Beschwerdeführer. Das Erfordernis
einer vorherigen fachgerichtlichen Anhörungsrüge hängt nicht davon ab, dass der
Beschwerdeführer in seiner Verfassungsbeschwerde eine Gehörsverletzung als solche
beanstandet (Beschluss vom 27. Mai 2008, a. a. O., m. w. N.)
Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 33, 34 VerfGHG.
Mit dieser Entscheidung ist das Verfahren vor dem Verfassungsgerichtshof
abgeschlossen.
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