Urteil des VerfGH Berlin vom 22.10.1995

VerfGH Berlin: verteilung der sitze, sperrklausel, einspruch, chancengleichheit, verfassung, wahlkreis, staat, gestaltung, verhältniswahlsystem, mehrheit

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Gericht:
Verfassungsgerichtshof
des Landes Berlin
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
82/95
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
Art 26 Abs 2 Verf BE 1950, Art
39 Abs 1 Verf BE, § 18 WahlG
BE
VerfGH Berlin: Aufrechterhaltung der 5 vH-Sperrklausel bei der
Wahl zum Abgeordnetenhaus 1995 verfassungsrechtlich nicht zu
beanstanden - Funktionsfähigkeit des Parlaments
Gründe
I.
Die Einspruchsführerin hat an den Wahlen zum Abgeordnetenhaus von Berlin am 22.
Oktober 1995 teilgenommen und erhielt einen Stimmenanteil von 2,7 %. Der
Landeswahlleiter gab die endgültigen Ergebnisse der Wahl zum 13. Abgeordnetenhaus
von Berlin am 14. November 1995 bekannt (Amtsblatt für Berlin vom 29. November
1995, S. 4725 ff.). Die Einspruchsführerin wurde bei der Berechnung und Zuteilung der
Abgeordnetenhaussitze nicht berücksichtigt, weil sie im Wahlgebiet weniger als 5 v.H.
der abgegebenen Zweitstimmen erhalten und kein Bewerber der Partei einen Sitz in
einem Wahlkreis errungen hatte (vgl. Art. 26 Abs. 2 der Verfassung von Berlin vom 1.
September 1950 , zuletzt geändert durch Gesetz vom 8. Juni 1995
- VvB 1950 -; § 18 des Landeswahlgesetzes vom 25. September 1987
, zuletzt geändert durch Gesetz vom 3. Juli 1995 -
LWahlG -).
Mit dem am 21. November 1995 beim Verfassungsgerichtshof eingegangenen Einspruch
wendet sich die Einspruchsführerin gegen die Gültigkeit der Wahlen zum
Abgeordnetenhaus. Sie sieht sich durch die 5 v.H.-Klausel des § 18 LWahlG und des Art.
26 Abs. 2 VvB 1950 in ihrem Recht auf Chancengleichheit und Wahlrechtsgleichheit
verletzt. Sie trägt vor, die Sperrklausel, ohne deren Anwendung nach Auskunft des
Landeswahlleiters sechs Abgeordnetenhaussitze auf sie entfallen würden, sei zur
Sicherung der Funktionsfähigkeit des Abgeordnetenhauses nicht mehr zwingend
erforderlich. Von der Erforderlichkeit habe wohl Ende der fünfziger Jahre ausgegangen
werden können, nicht jedoch in jüngster Gegenwart. Dies ergebe sich aus Erfahrungen in
drei Bundesländern, in denen über 40 Jahre hinweg ohne eine 5 v.H.Klausel weder ein
Gemeinderat noch ein Kreistag in seiner Funktionsfähigkeit durch Parteienzersplitterung
ernsthaft gestört worden sei. Die Sperrklausel sei unverhältnismäßig und
verfassungswidrig, die Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus damit ungültig.
Das Abgeordnetenhaus von Berlin, die Senatsverwaltung für Inneres und der
Landeswahlleiter sind dem Einspruch entgegengetreten. Wegen des Vorbringens
weiterer Beteiligter wird auf deren Schriftsätze Bezug genommen.
Der Verfassungsgerichtshof hat einstimmig auf die Durchführung einer mündlichen
Verhandlung verzichtet (§ 24 Abs. 1 VerfGHG).
II.
Der Einspruch ist gemäß § 40 Abs. 2 Nr. 8, Abs. 3 Nr. 3 VerfGHG zulässig, jedoch nicht
begründet.
Das in §§ 14 Nr. 2, 40 ff. VerfGHG geregelte Wahlprüfungsverfahren dient dem Schutz
des objektiven Wahlrechts, somit der Gewährleistung der richtigen Zusammensetzung
des Parlaments.
Der Verfassungsgerichtshof kann die Wahl nur dann für ungültig erklären oder eine
Richtigstellung und Neufeststellung des Wahlergebnisses anordnen, wenn bei der
Vorbereitung oder der Durchführung der Wahlen oder bei der Ermittlung des
Wahlergebnisses Vorschriften des Grundgesetzes, der Verfassung von Berlin, des
Landeswahlgesetzes oder der Landeswahlordnung verletzt worden sind und dadurch die
Verteilung der Sitze beeinflußt worden ist (§§ 42 Nr. 7, 40 Abs. 2 Nr. 8 VerfGHG). Ein
Wahlfehler in diesem Sinne ist nicht ersichtlich.
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Die von der Einspruchsführerin allein angegriffene Sperrklausel ist verfassungsrechtlich
nicht zu beanstanden. Art. 26 Abs. 2 VvB 1950 bestimmt für die Wahlen zum
Abgeordnetenhaus, daß Parteien, für die im Gebiet von Berlin insgesamt weniger als 5
v.H. der Stimmen abgegeben werden, keine Sitze zugeteilt erhalten, es sei denn, daß
ein Bewerber der Partei einen Sitz in einem Wahlkreis errungen hat. Das
Landeswahlgesetz enthält nähere Einzelheiten zu den Wahlen zum Abgeordnetenhaus
und sieht in Entsprechung zu Art. 26 Abs. 2 VvB 1950 die Sperrklausel in § 18 vor.
Die in den genannten Vorschriften vorgesehene 5 v.H.-Klausel stellt allerdings
grundsätzlich eine Einschränkung der Wahlrechtsgleichheit und der Chancengleichheit
der politischen Parteien dar. Das Prinzip der Wahlrechtsgleichheit ergibt sich für die
Wahlen zum Abgeordnetenhaus aus Art. 26 Abs. 1 VvB 1950 (jetzt gleichlautend Art. 39
Abs. 1 der Verfassung von Berlin vom 23. November 1995 - GVBl. S. 779), wonach - wie
von dem bundesverfassungsrechtlichen Homogenitätsgebot des Art. 28 Abs. 1 Satz 2
GG für die Volksvertretungen der Länder bestimmt - die Abgeordneten in allgemeiner,
gleicher, geheimer und direkter Wahl gewählt werden. Der Grundsatz der gleichen Wahl
ist gekennzeichnet durch einen formalen Charakter: Er gebietet, daß alle
Wahlberechtigten das aktive und das passive Wahlrecht in formal möglichst gleicher
Weise ausüben und daß die Stimmen beim hier maßgeblichen Verhältniswahlrecht nicht
nur den gleichen Zählwert, sondern grundsätzlich auch den gleichen Erfolgswert haben
(Urteile vom 17. März 1997 - VerfGH 87/95 und 90/95 -; vgl. BVerfGE 34, 81, 99 ff. sowie
BVerfGE 58, 177, 190 zu Art. 38 Abs. 1 GG). Entsprechendes ergibt sich aus dem Recht
der politischen Parteien auf Chancengleichheit im politischen Wettbewerb, das
Bestandteil der Landesverfassung ist. Es folgt - mit Einwirkung auch auf das
Landesverfassungsrecht - aus Art. 21 GG und verbietet jede staatliche Maßnahme, die
den Anspruch einer Partei auf die Gleichheit ihrer Wettbewerbschancen willkürlich
beeinträchtigt (vgl. näher Beschluß vom 21. September 1995 - VerfGH 12/95 = NJ 1996,
S . 140). Im Verhältniswahlsystem erfordert auch die Chancengleichheit grundsätzlich,
jeder Wählerstimme den gleichen Erfolgswert beizumessen (Urteile vom 17. März 1997 -
VerfGH 87/95 und 90/95 -; vgl. BVerfGE 82, 322, 337; VerfGH NW NVwZ 1995, S. 579,
581).
Da die Verfassung von Berlin die 5 v.H.-Klausel für die Wahlen zum Abgeordnetenhaus
ausdrücklich vorschreibt, könnte der Einspruch nur dann Erfolg haben, wenn Art. 26 Abs.
2 VvB 1950 seinerseits im Widerspruch zu Grundentscheidungen der Landesverfassung
selbst (vgl. zum Problem der verfassungswidrigen Verfassungsnorm: BVerfGE 3, 225,
230 ff.; 4, 294, 295) oder zum Grundgesetz - hier zu Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG (vgl.
BVerfGE 6, 104, 111) - stünde. Dies ist indessen nicht der Fall. Zwar ist es Folge der
Formalisierung des Grundsatzes der Wahlrechtsgleichheit, daß auch der
Verfassungsgesetzgeber im Bereich der Gestaltung des Wahlrechts nur einen engen
Spielraum hat und - anders als bei Geltung des allgemeinen Gleichheitssatzes nicht
jeder sachliche Grund für eine Differenzierung des Erfolgswertes ausreicht, sondern
"zwingende Gründe" erforderlich sind (vgl. z.B. BVerfGE 82, 322, 338). Ein derartiger
"zwingender Grund", der den Erlaß bzw. die Aufrechterhaltung der 5 v.H.- Klausel
rechtfertigt, ist jedoch die mögliche Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit des
Parlaments: Zur Vermeidung der staatspolitischen Gefahren einer übermäßigen
Parteienzersplitterung, die die Bildung einer stabilen Mehrheit erschweren oder
verhindern und die Bewältigung der sachlichen gesetzgeberischen Arbeit sowie der
Aufgabe, eine politisch aktionsfähige Regierung zu wählen, ernsthaft gefährden, darf der
Gesetzgeber eine Sperrklausel statuieren (vgl. BVerfGE 6, 84, 92; 6, 104, 112; 82, 322,
338). Dabei ist eine 5 v.H.-Klausel für gesetzgebende Volksvertretungen der Länder im
Hinblick auf das das Demokratieprinzip konkretisierende Homogenitätsgebot des Art. 28
Abs. 1 Satz 2 GG unbedenklich (vgl. BVerfGE 47, 253, 277 m.w.N. sowie a.a.O.).
Die Einschätzung des Berliner Verfassungsgebers, die 5 v.H.- Klausel sei zur Sicherung
der Funktionsfähigkeit des Abgeordnetenhauses zwingend erforderlich, ist danach
verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Die Frage, ob "zwingende Gründe" für eine
Differenzierung des Erfolgswertes mit Hilfe einer Sperrklausel vorliegen, kann zwar nicht
ein für allemal abstrakt beurteilt werden. Vielmehr sind beim Erlaß und bei der
Aufrechterhaltung einer Wahlrechtsbestimmung die Verhältnisse des Landes, für die sie
gelten soll, zu berücksichtigen, und eine solche Bestimmung kann in dem einen Staat zu
einem bestimmten Zeitpunkt gerechtfertigt sein und in einem anderen Staat oder zu
einem anderen Zeitpunkt nicht (vgl. BVerfGE 1, 208, 259; 82, 322, 338).
Der Hinweis der Einspruchsführerin auf Regelungen über Kommunalwahlen in anderen
Bundesländern ist schon deswegen unbeachtlich, weil es vorliegend um die Wahl zu
einem Länderparlament geht und insoweit bislang kein Bundesland auf eine Sperrklausel
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einem Länderparlament geht und insoweit bislang kein Bundesland auf eine Sperrklausel
verzichtet hat.
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf den §§ 33, 34 VerfGHG.
Dieser Beschluß ist unanfechtbar.
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