Urteil des VerfGH Berlin vom 15.03.2017

VerfGH Berlin: anspruch auf rechtliches gehör, wohnung, härte, körperliche unversehrtheit, verfassungsbeschwerde, osteoporose, einbau, eigentum, kunststoff, vermieter

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Gericht:
Verfassungsgerichtshof
des Landes Berlin
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
98/03, 98 A/03
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
Art 8 Abs 1 S 1 Verf BE, Art 15
Abs 1 Verf BE, Art 23 Abs 1
Verf BE, § 541b Abs 1 BGB
Tenor
Die Verfassungsbeschwerde wird zurückgewiesen.
Damit erledigt sich zugleich der Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung.
Das Verfahren ist gerichtskostenfrei.
Auslagen werden nicht erstattet.
Gründe
I. 1. Die 1939 geborene Beschwerdeführerin ist seit 1968 Mieterin einer knapp 35 m²
großen 1-Zimmer-Wohnung im 4. Obergeschoß des Seitenflügels eines Altbaus in Berlin-
Moabit. Die Wohnung besteht aus einem etwa 21 m² großen Wohnzimmer, einer Küche
von 4,13 m Länge und 2,24 m Breite und einem kleinen Flur. In der Küche befindet sich
ein Holzfenster mit Einfachverglasung. Ein Warmwasseranschluß ist nicht vorhanden. Zur
Wohnung gehört eine Außentoilette auf halber Treppe zum Dachboden.
Die Beschwerdeführerin ist freischaffende Künstlerin, die in ihrer Wohnung auch ihrer
künstlerischen Arbeit nachgeht. Sie leidet infolge fortschreitenden Grauen Stars und
ausgeprägter Makuladegeneration an einer beidseitigen Einschränkung des
Sehvermögens auf ca. 10 % und des Gesichtsfeldes sowie infolge rechtsseitigen
Peroneusschadens an einer erheblichen Gehbehinderung und ist deshalb mit einem
Grad der Behinderung von 70 schwerbehindert. Ferner leidet sie an einer starken
Osteoporose.
Mit Schreiben vom 16. Juli 2001 kündigte ihr der Vermieter die Modernisierung ihrer
Wohnung durch Einbau eines separaten, innenliegenden Duschbades mit WC,
Waschtisch und Lüftung im zum Flur gelegenen Zugangsbereich der bisherigen Küche,
Installation einer Warmwasserversorgung in Form eines elektrischen Durchlauferhitzers,
Einbau einer Doppelspüle und eines Herdes in der Küche sowie eines neuen
Küchenzugangs vom Wohnzimmer, Verfliesung von Küche und Bad sowie Ersatz des
Küchenfensters durch ein Thermopen-Kunststoff-Fenster an, bot ihr für die etwa
dreiwöchige Zeit des Umbaus oder auf Dauer die darunter liegende Wohnung als
Ersatzwohnung an und bat um ihre Zustimmung.
Als die Beschwerdeführerin dies ablehnte, erhob der Vermieter gegen sie Klage vor dem
Amtsgericht Tiergarten mit dem Antrag, sie zur Duldung der genannten
Modernisierungsmaßnahmen zu verurteilen. Die Beschwerdeführerin trat der Klage in
erster Linie mit dem Vortrag entgegen, die Modernisierung stelle für sie eine
unzumutbare Härte dar. Sie habe seit 1968 ihre Küche als Wohnküche mit einem
Eßplatz, einem als ihr Schlafplatz dienenden Hochbett über der Küchentür und
Bücherregalen im fensterseitigen Bereich eingerichtet. Im Wohnzimmer, das sie als
Atelier nutze, befänden sich ebenfalls Regale und Sitzgelegenheiten sowie Bilder und die
Staffelei. Nach dem Umbau sei die Küche als Wohnküche praktisch nicht mehr nutzbar.
Der Schlafplatz müsse ins Wohnzimmer verlegt werden, so daß ihr die Arbeit mit der
Staffelei unmöglich werde. Auch wegen ihres eingeschränkten Sehvermögens sei das
stabile und vor allem auch helle Umfeld besonders wichtig. In fremden oder veränderten
Räumlichkeiten könne sie sich nur sehr schwer zurechtfinden. Sie benötige auch die
Außentoilette regelmäßig zur Kreislaufmobilisierung und zur entsprechenden täglichen
Bewegung. Den Warmwasseranschluß sowie die Doppelspüle und den 2-Platten-Herd
benötige sie nicht. Das bisherige Einfach-Fenster in der Küche sei für den Luftaustausch
lebensnotwendig und als Lichtquelle mit größerer Fläche als das geplante
Thermopenfenster erforderlich. Psychisch und physisch sei sie nicht in der Lage, eine
drastische Veränderung ihres Wohnumfeldes zu verkraften.
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Das Amtsgericht gab durch Urteil vom 8. Mai 2002 der Klage statt. Hiergegen legte die
Beschwerdeführerin Berufung ein. Im Berufungsverfahren nahm sie auf den Inhalt von ihr
vorgelegter Atteste eines Arztes für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie vom 6.
Februar 2003 und einer Augenärztin vom 14. Februar 2003 Bezug. In der
augenärztlichen Bescheinigung wurde festgestellt, daß die Beschwerdeführerin durch mit
ihrer Netzhauterkrankung verbundene massive Einschränkung des Gesichtsfeldes und
des Sehvermögens bei allen Dingen des Alltags vor große Schwierigkeiten bei der
Bewältigung gestellt werde, und die Auffassung vertreten, daß eine rigorose
Veränderung ihrer vertrauten Räumlichkeiten, wie sie eine Baumaßnahme nun einmal
darstelle, für sie nicht zumutbar sei. In dem nervenärztlichen Attest wurde festgestellt,
daß die Beschwerdeführerin an einem Augenleiden mit erheblicher Sehbehinderung und
an einem psychischen Erschöpfungszustand mit depressiven Zuständen, Ängsten und
Minderbelastbarkeit leide, ihre psychischen Reserven in der letzten Zeit völlig
aufgebraucht seien, sie bei kleinsten Anlässen dekompensiere und sie an Osteoporose
leide. Insgesamt müsse aus nervenärztlicher Sicht festgehalten werden, daß sie eine
Umsetzung psychisch nicht verkraften und ein schwerer psychischer Schaden eintreten
würde.
Das Landgericht Berlin wies die Berufung durch Urteil vom 25. März 2003 - zugestellt am
21. Mai 2003 - zurück. Zur Begründung führte es folgendes aus: Die Berufung sei
mangels hinreichender Begründung unzulässig, soweit sie sich gegen die Duldung des
Austauschs des Einfach-Fensters gegen ein Thermopen-Kunststoff-Fenster wende. Im
übrigen sei sie zulässig, aber in der Sache nicht begründet. Der Kläger könne gemäß §
541 b BGB a.F. in Verbindung mit Art. 229 § 3 Abs. 1 Nr. 6 EGBGB die Duldung des
Einbaus eines Duschbades mit Toilette verlangen. Die Modernisierungsankündigung
genüge den formalen Anforderungen. Die Maßnahme verbessere den Gebrauchswert
der Wohnung nachhaltig. Sie bedeute für die Beschwerdeführerin keine unzumutbare
Härte, die auch bei Berücksichtigung der berechtigten Interessen des Klägers von ihr
nicht hinzunehmen sei. Durch die Änderung des Wohnungsgrundrisses im Bereich der
Küche entstehe nicht etwas völlig Neues, da sich die Anzahl der Wohnräume nicht
verändere und die Küche in ihrem Kern erhalten bleibe. Maßgebend seien insoweit die
objektiven Änderungen, bei denen es nicht auf die Nutzung durch die
Beschwerdeführerin ankomme. Daß die bisherige Einrichtung und Nutzung der Wohnung
nach der Modernisierung nicht in exakt gleicher Weise beibehalten werden könne,
begründe ebenfalls keine unzumutbare Härte für die Beschwerdeführerin. Es sei nicht
ersichtlich, daß diese ihre künstlerische Tätigkeit bei einer entsprechenden Anpassung
an die veränderten Verhältnisse nicht weiterhin in der Wohnung ausüben könne. Solche
Umstellungen seien regelmäßige Folge einer Änderung des Grundrisses einer Wohnung.
Es sei nicht nachvollziehbar, warum die Verlegung des Schlafplatzes in das Wohnzimmer
der Benutzung der Staffelei entgegenstehe.
Die Duldungspflicht der Beschwerdeführerin entfalle auch nicht aus Härtegründen
aufgrund ihres Gesundheitszustandes. Soweit sie an Osteoporose leide, sei nicht
erkennbar, inwiefern die dadurch erhöhte Gefahr von Knochenbrüchen durch den Einbau
eines Duschbades erhöht werde. Auch wenn es ihr aufgrund ihrer stark eingeschränkten
Sehfähigkeit schwerer falle, sich an eine veränderte Situation in ihrer Wohnung zu
gewöhnen, sei nicht ersichtlich, daß ihr dies nur unter nicht hinzunehmenden
Schwierigkeiten möglich sei. Aus dem eingereichten nervenärztlichen Attest ergäben
sich über die festgestellten körperlichen Leiden hinaus keine weiteren Anhaltspunkte,
daß sie aus psychischen Gründen nicht in der Lage sei, die Modernisierung zu dulden.
Die pauschale Feststellung eines schon mehrere Wochen zurückliegenden psychischen
Erschöpfungszustandes sei nicht geeignet, eine auf Dauer bestehende Härte zu
begründen. Demgegenüber ständen die berechtigten Interessen des Klägers an einer
Wertverbesserung seines Hauses, die zu einer Wertsteigerung seines Eigentums führe
und unter Berücksichtigung des im Laufe der Zeit veränderten Wohnverhaltens eine
bessere Vermietbarkeit und die Möglichkeit, eine höhere Miete zu erzielen, zur Folge
habe.
2. Mit der am 20. Juni 2003 eingegangenen Verfassungsbeschwerde macht die
Beschwerdeführerin geltend, die Urteile des Landgerichts und des Amtsgerichts seien
unter Berücksichtigung ihrer Grundrechte nicht haltbar. Das Landgericht habe ihre
Grundrechte aus Art. 8 Abs. 1 und Art. 23 Abs. 1 VvB bei der Rechtsanwendung nicht
zutreffend angewandt. Es habe das Attest über ihre stark eingeschränkte Sehfähigkeit
schlicht übergangen. Wenn es Zweifel an den im einzelnen substantiierten Attesten
gehabt habe, hätte es zumindest ein Sachverständigengutachten einholen müssen.
Insofern liege auch eine Verletzung des rechtlichen Gehörs vor.
Nach den Attesten müsse davon ausgegangen werden, daß schwere gesundheitliche
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Nach den Attesten müsse davon ausgegangen werden, daß schwere gesundheitliche
Schäden folgten, wenn die Beschwerdeführerin sich umsetzen lassen müsse. Insofern
verletze das Urteil des Landgerichts ihr Grundrecht aus Art. 8 Abs. 1 VvB. Durch die
Modernisierung werde aber auch in ihr Besitzrecht an der Wohnung massiv eingegriffen,
das als Eigentum im Sinne des Art. 23 Abs. 1 VvB angesehen werden müsse. Die im
Rahmen des § 541 b BGB a. F. erforderliche Abwägung zwischen dem Besitzrecht des
Mieters und dem Eigentumsrecht und Interesse des Vermieters könne hier nur ergeben,
daß eine unzumutbare Härte für die Beschwerdeführerin vorliege. Denn es sei
nachgewiesen, daß eine Umsetzung und eine Veränderung der Wohnung zu schweren
gesundheitlichen Beeinträchtigungen der Beschwerdeführerin führen würde, während die
Interessen des Vermieters praktisch zu vernachlässigen seien und die der anderen
Mieter im Hause nicht berührt würden.
Die Beschwerdeführerin hat zugleich mit ihrer Verfassungsbeschwerde beantragt, im
Wege der einstweiligen Anordnung die Zwangsvollstreckung aus dem Urteil des
Amtsgerichts bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde auszusetzen.
II. Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig, jedoch unbegründet. Die Beschwerdeführerin
ist durch die angegriffenen Entscheidungen nicht in ihren Rechten aus Art. 8 Abs. 1, Art.
15 Abs. 1 und Art. 23 Abs. 1 VvB verletzt.
1. Der Verfassungsgerichtshof kann einen Verstoß gegen den in Art. 15 Abs. 1 VvB
verbürgten Anspruch auf rechtliches Gehör vor Gericht nur dann feststellen, wenn sich
aus den besonderen Umständen des einzelnen Falles eindeutig ergibt, daß tatsächliches
Vorbringen der Beteiligten entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder bei
der Entscheidung nicht erwogen worden ist (vgl. Beschluß des Verfassungsgerichtshofs
vom 22. Mai 1997 - VerfGH 34/97 - LVerfGE 6, 80 <82>; ständige Rechtsprechung).
Solche besonderen Umstände liegen hier indes nicht vor. Das Landgericht hat den durch
das augenärztliche Attest unter Beweis gestellten Tatsachenvortrag der
Beschwerdeführerin, daß ihre Sehfähigkeit stark eingeschränkt sei, in seinem Urteil
ausdrücklich gewürdigt, ist jedoch ihrer Rechtsansicht, dies begründe eine unzumutbare
Härte, nicht gefolgt. Gegen eine von der Ansicht einer Prozeßpartei abweichende
rechtliche Würdigung ihres Vortrags schützt der Anspruch auf rechtliches Gehör jedoch
grundsätzlich nicht. Das gilt auch dann, wenn - wie hier - eine ärztliche Bescheinigung
vorgelegt wird, in der die Rechtsansicht der Partei unterstützt wird. Daß sich das
Landgericht mit diesem Teil des augenärztlichen Attestes nicht ausdrücklich
auseinandergesetzt hat, rechtfertigt nicht den Schluß, es habe das Attest nicht zur
Kenntnis genommen oder nicht erwogen.
Entsprechendes gilt für das nervenärztliche Attest, das vom Landgericht ausdrücklich
gewürdigt, dabei jedoch inhaltlich nicht für ausreichend substantiiert gehalten wurde,
eine auf Dauer bestehende Härte zu belegen. Mit Angriffen gegen diese tatsächliche
Würdigung kann eine Rüge der Verletzung rechtlichen Gehörs ebenso wenig begründet
werden wie mit dem Vortrag der prozeßrechtlichen Ansicht, das Landgericht hätte auf
der Grundlage seiner Würdigung ein Sachverständigengutachten einholen müssen,
zumal nicht ersichtlich ist, daß ein Sachverständigengutachten zum Beweis angeboten
wurde.
2. Auch die Rechte der Beschwerdeführerin auf körperliche Unversehrtheit (Art. 8 Abs. 1
Satz 1 VvB) und auf Eigentum (Art. 23 Abs. 1 VvB) sind nicht verletzt. Selbst eine nach
einfachem Recht möglicherweise fehlerhafte und den widerstreitenden Interessen der
Beteiligten nicht hinreichend gerecht werdende gerichtliche Entscheidung begründet
nicht in jedem Fall eine Verletzung dieser Grundrechte. Diese wären vielmehr nur dann
verletzt, wenn die gerichtliche Entscheidung auf einer grundsätzlich unrichtigen
Anschauung von der Bedeutung und Reichweite der Grundrechte beruht. Davon kann
hier keine Rede sein. Die im angegriffenen Urteil vorgenommene, auf einer Feststellung
und Würdigung des Sachverhalts im konkreten Einzelfall beruhende Auslegung und
Anwendung des § 541 b Abs. 1 BGB a.F. läßt keinen derartigen Fehler erkennen, sondern
setzt sich ausführlich mit den Fragen auseinander, ob die vom Kläger beabsichtigte
Maßnahme für die Beschwerdeführerin eine Härte bedeuten würde, die auch unter
Würdigung der berechtigten Interessen des Klägers nicht zu rechtfertigen ist. In diesem
Rahmen hat das Landgericht insbesondere nachgeprüft, ob der Gesundheitszustand der
Beschwerdeführerin die Annahme einer solchen Härte rechtfertigt, und hat dies unter
Würdigung der Einwände der Beschwerdeführerin und auch der vorgelegten Atteste im
konkreten Fall verneint. Weder Art. 8 Abs. 1 Satz 1 VvB noch Art. 23 Abs. 1 VvB gebieten
es, diese (einfachrechtliche) Beurteilung durch eine davon losgelöste, unmittelbare
verfassungsrechtliche Güterabwägung zu ersetzen.
Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 33, 34 VerfGHG.
16 Dieser Beschluß ist unanfechtbar.
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