Urteil des VerfGH Berlin vom 15.03.2017

VerfGH Berlin: wiedereinsetzung in den vorigen stand, öffentliche gewalt, verfassungsbeschwerde, hochschule, rechtsmittelbelehrung, lehrbeauftragter, einspruch, eigenschaft, genehmigung, gestaltung

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Gericht:
Verfassungsgerichtshof
des Landes Berlin
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
75/93
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 49 Abs 1 VGHG BE, § 49 Abs
2 S 1 VGHG BE, § 79 Abs 3 S 1
OWiG, § 44 S 2 StPO, § 138 Abs
1 StPO
(VerfGH Berlin: Unzulässige Verfassungsbeschwerde wegen
fehlender Rechtswegerschöpfung und mangelnder
Substantiierung - verfassungsrechtlich nicht zu beanstandende
kammergerichtliche Auslegung, daß Lehrbeauftragter kein
Rechtslehrer iSv StPO § 138 Abs 1 ist)
Gründe
I.
Gegenstand der Verfassungsbeschwerden sind zwei Entscheidungen, die im
Zusammenhang mit einem gegen den Beschwerdeführer zu 1. nach Einspruch gegen
einen Bußgeldbescheid vor dem Amtsgericht Tiergarten wegen einer
Verkehrsordnungswidrigkeit geführten Verfahren ergangen sind. Der Beschwerdeführer
zu 2. zeigte hierbei unter Beifügung einer Vertretungsvollmacht die Betroffenen unter
der Bezeichnung "Lehrbeauftragter aD (PH Berlin)" an, daß er diesen in dem OWi-
Verfahren vertrete, und berief sich auf seine "Eigenschaft als Rechtslehrer an e.
deutschen wissenschaftlichen Hochschulen. In dem gleichen Schriftsatz rügte er, daß
der Betroffene zu dem gegen ihn erhobenen Vorwurf nicht in seiner - der türkischen -
Sprache gehört worden und der gegen ihn ergangene Bußgeldbescheid nicht ins
Türkische übersetzt worden sei.
Im Termin z. Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht am 21. Juni 1991 - der
Beschwerdeführer zu 2. trat dort für den Beschwerdeführer zu 1. als Verteidiger auf -
wies das Gericht darauf hin, daß der Einspruch die Betroffenen gegen den
Bußgeldbescheid verspätet war. Der Beschwerdeführer zu 2. beantragte daraufhin
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, "weil die Betroffene nicht über ausreichende
Deutschkenntnisse verfügte. Daraufhin erging ein Beschluß, in welchem der Einspruch
gegen den Bußgeldbescheid gemäß § 70 OWiG als unzulässig und der Antrag auf
Wiedereinsetzung mit der Begründung abgelehnt wurde, daß Art. 6 Abs. 3 MRK im
Bußgeldverfahren nicht gelte, so daß eine Übersetzung das Bußgeldbescheides in die
türkische Sprache nicht erforderlich gewesen sei.
Entsprechend der Rechtsmittelbelehrung legte der Beschwerdeführer zu 2. zu Protokoll
des Gerichtes sofortige Beschwerde gegen diesen Beschluß ein, die er mit Schreiben
vom 24. Juni 1991 näher begründete. Unter dem 26.Juni 1991 legte er zudem gegen das
"Urteil des Amtsgerichts Tiergarten" mit einer kurzen Begründung Rechtsbeschwerde ein
und kündigte eine weitere Begründung nach "Zustellung des schriftlichen Urteils" an.
Durch Beschluß vom 25. Juli 1991 verwarf das Landgericht die sofortige Beschwerde des
Betroffenen als unzulässig mit der Begründung, gegen die Entscheidung des
Amtsgerichts sei gemäß § 79 OWiG allein das Rechtsmittel der Rechtsbeschwerde
zulässig, auch wenn das Amtsgericht versehentlich nicht durch Urteil, sondern durch
Beschluß entschieden habe. Allerdings habe die Landeskasse die Kosten des
Beschwerdeverfahrens zu tragen, "weil der angefochtene Beschluß eine
Rechtsmittelbelehrung enthielte.
Das Amtsgericht stellte nunmehr je eine Ausfertigung des angefochtenen Beschlusses
dem Beschwerdeführer zu 1. mit Zustellungsurkunde und dem Beschwerdeführer zu 2.
mit Empfangsbekenntnis zu. Die hiermit verbundene Rechtsmittelbelehrung verwies die
Beschwerdeführer wiederum auf das Rechtsmittel der sofortigen Beschwerde.
Die zugleich von dem Beschwerdeführer zu 2. für den Betroffenen erhobene
Rechtsbeschwerde verwarf das "Kammergericht, nachdem der Beschwerdeführer zu 2. e.
weitere Begründung nachgereicht hatte, durch Beschluß vom 1. November 1991 als
unzulässig. Zur Begründung führte es aus, daß der Beschwerdeführer zu 2. nicht
wirksam zum Verteidiger des Betroffenen bestellt worden sei und das Rechtsmittel daher
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wirksam zum Verteidiger des Betroffenen bestellt worden sei und das Rechtsmittel daher
nicht gemäß § 80 Abs. 3 OWiG in Verbindung mit § 345 Abs. 2 StPO formgerecht
begründet worden sei.
Der Beschwerdeführer zu 2. sei weder Rechtsanwalt, noch erfülle er die Voraussetzungen
eines Wahlverteidigers nach den §§ 46 OWiG, 138 Abs. 1 oder 2 StPO. Als
Lehrbeauftragter Gehöre er nicht zu dem Personenkreis der Rechtslehrer an einer
deutschen wissenschaftlichen Hochschule im Sinne von § 138 Abs. 1 StPO. Er hätte nur
nach § 138 Abs. 2 StPO mit Genehmigung des Gerichts als Verteidiger zugelassen
werden können. Eine solche Zulassung liege jedoch hier nicht vor, auch wenn das
Gericht Verfahrenshandlungen des Beschwerdeführers zu 2. entgegengenommen,
Zustellungen an ihn bewirkt und ihn als Verteidiger zur Hauptverhandlung geladen habe.
Zwar habe darin eine stillschweigende Erteilung einer Genehmigung nach § 138 Abs. 1
StPO liegen können. Ihr hätte aber eine - mindestens stillschweigende - entsprechende
Antragsteilung zugrundeliegen müssen, woran es hier fehle. Der Beschwerdeführer zu 2.
hätte sich bei seiner Verteidigermeldung ausdrücklich auf seine Eigenschaft als
"Rechtslehrer an einer deutschen wissenschaftlichen Hochschule" berufen. Daraus folge
eindeutig, daß er im Einverständnis mit dem Betroffenen als Rechtslehrer im Sinne von §
138 Abs. 1 StPO behandelt werden und sich nicht der Prüfung nach seiner
Vertrauenswürdigkeit und Sachkunde habe unterziehen wollen. Eine solche Prüfung habe
das Amtsgericht auch offensichtlich nicht vorgenommen, sondern sich "unbesehen" auf
die Angabe des Beschwerdeführers zu 2. verlassen, daß er "Rechtslehrer" sei.
Der Beschluß des Kammergerichts ist dem Beschwerdeführer zu 2. ausweislich der
beigezogenen Verfahrensakten des Amtsgerichts Tiergarten - ... - erstmalig zwischen
dem 17. und dem 21. Mai 1993 zur Kenntnis gebracht worden.
Der Beschwerdeführer zu 1. läßt vortragen, daß ihm bis zu diesem Zeitpunkt dieser
Beschluß nicht zugegangen sei. Ausweislich der beigezogenen Akten des Amtsgerichtes
enthalten diese allerdings eine Übersendungsverfügung vom 4. November 1991 an den
Beschwerdeführer zu 1. mit Abvermerk vom 12. November 1991.
Unter Hinweis auf die Kostenentscheidung in dem Beschluß des Landgerichts vom 25.
Juli 1991 beantragte der Beschwerdeführer zu 2. unter dem 21. Januar 1993 eine
Festsetzung der "Kosten für die eingelegte Beschwerden analog zu den Vorschriften der
BRAGO. Das Amtsgericht wies diesen Antrag mit der Begründung zurück, der
Beschwerdeführer zu 2. sei nach der BRAGO nicht antragsberechtigt. Die hiergegen
eingelegte und mangels Abhilfe als Beschwerde geltende Erinnerung des
Beschwerdeführers zu 2. wurde durch Beschluß des Landgerichts vom 6. August 1993
als unbegründet "verworfen". Zur Begründung führte das Landgericht aus, dem für den
Betroffenen in dem Bußgeldverfahren als Verteidiger tätig gewesenen "Lehrbeauftragten
a.D." stünden Gebühren nach der Bundesrechtsanwaltsgebührenordnung nicht zu, da er
nicht Hochschullehrer sondern Lehrbeauftragter gewesen sei.
Der Beschwerdeführer zu 2. hat die Verfassungsbeschwerde auch für die
Beschwerdeführer zu 1. erhoben und für diesen als "Rechtslehrer aD" eine schriftliche
Vollmacht zu den Akten gereicht.
Auf eine Aufforderung des Verfassungsgerichtshofes nach einem Nachweis seiner
Eigenschaft als Lehrer des Rechts an einer deutschen Hochschule reichte der
Beschwerdeführer zu 2. die Kopie eines Schreibens der Pädagogischen Hochschule
Berlin vom 3. Juli 1972 ein, in welchem ihm der Beschluß der Abteilung IV, bestätigt
durch Beschluß des Akademischen Senats, mitgeteilt wurde, daß ihm ein Lehrauftrag für
das Wintersemester 1972/73 zum Thema "Probleme des Unfall- und Haftungsrechts im
Schul- und Hochschulbereiche erteilt werden sollte. Gleichzeitig wurde er aufgefordert,
vor Erteilung des Lehrauftrages den Nachweis seiner wissenschaftlichen oder
künstlerischen Lehrbefähigung durch entsprechende Unterlagen - Zeugnisse, Urkunden,
Diplome - zu erbringen.
Soweit sich die Verfassungsbeschwerde auf den Beschwerdeführer zu 1. bezieht, wird
mit ihr die Verletzung seiner Grundrechte aus den Art. 6 Abs. 1 VvB und aus Art. 65 VvB
gerügt, insbesondere, weil die angefochtenen Bescheide und Beschlüsse ihn als
türkischen Staatsangehörigen gegenüber Deutschen willkürlich benachteiligten, da sie
ihm nicht in türkischer Übersetzung zugestellt worden seien. Außerdem sei ihm mit der
Zurückweisung des Beschwerdeführers zu 2. das Recht auf freie Wahl seines Verteidigers
und das rechtliche Gehör im Verlaufe seines Bußgeldverfahrens verweigert worden.
Der Beschwerdeführer zu 2. macht geltend, durch die Beschlüsse des Kammergerichts
und des Landgerichts in seinen Grundrechten aus Art. 11 VvB im Hinblick auf sein Recht
auf freie Berufsausübung und aus Art. 15 VvB bezüglich seines Anspruchs auf
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auf freie Berufsausübung und aus Art. 15 VvB bezüglich seines Anspruchs auf
"Kostenerstattung" verletzt zu sein.
II.
Die Verfassungsbeschwerden haben keinen Erfolg.
1. Die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers zu 1. gegen den Beschluß des
Amtsgerichts Tiergarten vom 21. Juni 1991 und den Beschluß des Kammergerichts vom
1. November 1991 ist unzulässig, weil er den Rechtsweg nicht erschöpft hat, § 49 Abs. 2
Satz 1 VerfGHG. Der Beschwerdeführer hatte die Möglichkeit, nach Kenntnis des
Beschlusses des Kammergerichts vom 1. November 1991 gegen die Versäumung der
Frist zur formgerechten Begründung seiner Rechtsbeschwerde (§ 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG
in Verbindung mit § 345 StPO) gemäß §§ 44 Satz 2, 346 StPO in Verbindung mit § 46
OWiG Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu beantragen. Diese hätte dem
Beschwerdeführer zu 1. auch gewährt werden müssen, da ihm zuvor im Hinblick auf den
Beschluß des Amtsgerichts Tiergarten keine zutreffende Rechtsmittelbelehrung erteilt
worden war. Ein entsprechender Antrag hätte dem Beschwerdeführer zu 1. folglich den
Rechtszug zum Kammergericht erneut eröffnet.
2. Die Verfassungsbeschwerde das Beschwerdeführers zu 2. gegen den Beschluß des
Kammergerichts vom 1. November 1991 ist jedenfalls unbegründet. Gemäß § 49
VerfGHG kann jedermann die Verfassungsbeschwerde zum Verfassungsgerichtshof mit
der Behauptung erheben, durch die öffentliche Gewalt des Landes Berlin in einem seiner
in der Verfassung von Berlin enthaltenen Rechte verletzt zu sein. Die Zulässigkeit der
Verfassungsbeschwerde steht nicht entgegen, daß sie sich gegen Entscheidungen
wendet, welche auf der Anwendung von Bundesrecht beruhen. Der
Verfassungsgerichtshof ist grundsätzlich berechtigt, Entscheidungen der Berliner
Gerichte am Maßstab solcher in der Verfassung des Landes Berlin verbürgten
Individualrechte zu messen, die nicht im Widerspruch zu Bundesrecht stehen (vgl.
VerfGH NJW 1993, 513 sowie NJW 1994, 436 m. w. Nachw.).
Der Verfassungsgerichtshof ist keine zusätzliche gerichtliche Instanz. Er ist gegenüber
Entscheidungen der Fachgerichte in seinem Prüfungsmaßstab auf die Feststellung von
Verfassungsverstößen beschränkt. Die Gestaltung des Verfahrens, die Feststellung und
Würdigung des Tatbestands, die Auslegung das einfachen Rechts und seine Anwendung
auf den Einzelfall sind Sache der dafür allgemein zuständigen Gerichte und insoweit der
Nachprüfung durch den Verfassungsgerichtshof entzogen (Beschluß vom 13. Oktober
1993 - VerfGH 1/93 -).
Die Auslegung des § 138 Abs. 1 StPO im Hinblick auf den als Verteidiger in Strafsachen
wählbaren Personenkreis ist eine derartige Angelegenheit des einfachen Rechts. Eine
Auslegung das § 138 Abs. 1 StPO, die Lehrbeauftragte an einer Hochschule nicht
einbezieht, begegnet keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Ein Verstoß der von dem
Kammergericht vorgenommenen Auslegung gegen ein in der Verfassung von Berlin
verbürgtes, inhaltsgleich im Grundgesetz gewährleistetes Recht des Beschwerdeführers
zu 2. liegt ersichtlich nicht vor.
3. Soweit sich beide Beschwerdeführer gegen die Beschlüsse des Amtsgerichts
Tiergarten vom 3. Juni 1993 und des Landgerichts Berlin vom 6. August 1993 wenden,
sind ihre Verfassungsbeschwerden unzulässig. Ist bereits fraglich, ob die
Kostenentscheidung des Landgerichts vom 25. Juli 1991 eine Überbürdung der
notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers zu 1. zu Lasten der Landeskasse enthält,
so ist in den Verfassungsbeschwerden nichts vorgetragen, was auf e. Verletzung von
Rechten der Beschwerdeführer im Sinne von § 49 Abs. 1 VerfGHG hindeuten könnte.
Der Beschwerdeführer zu 1. hat überdies nicht dargetan, daß ihm Kosten gegenüber
dem Beschwerdeführer zu 2. entstanden sind, insbesondere, daß dieser ihm ein
Verteidigerhonorar in Rechnung gestellt hätte, dessen Erstattung er von der
Landeskasse verlangen könnte.
Der Beschwerdeführer zu 2. hat darüber hinaus nichts dargetan, was der Begleichung
eines von ihm etwa gegenüber dem Beschwerdeführer zu 1. beanspruchten Honorars
aufgrund der angegriffenen Beschlüsse entgegenstehen könnte.
4. Die Entscheidung über die Kosten und Auslagen folgt aus den aus den §§ 33, 34
VerfGHG.
Dieser Beschluß ist unanfechtbar.
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