Urteil des VerfGH Berlin vom 14.03.2017

VerfGH Berlin: zwischenverfügung, erlass, gerichtliche zuständigkeit, körperliche integrität, rechtliches gehör, abschiebung, duldung, verfahrensrecht, verfassungsbeschwerde, entziehung

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Gericht:
Verfassungsgerichtshof
des Landes Berlin
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
26 A/98, 26/98
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 123 Abs 2 VwGO, § 146 Abs 4
VwGO, Art 15 Abs 5 S 2 Verf BE
VerfGH Berlin: Verletzung des Grundrechts auf den gesetzlichen
Richter dadurch, dass sich das OVG zu einer Sachentscheidung
gegen eine Zwischenverfügung des VG für zuständig gehalten
hat - keine Abschiebung eines in Deutschland geduldeten
Kriegsflüchtlings aus Bosnien-Herzegowina bis zur
abschließenden Entscheidung des VG über weitere Duldung
trotz Begehung von Straftaten - abweichende Meinung
Gründe
I.
1. Der Beschwerdeführer, der die Staatsangehörigkeit von Bosnien-Herzegowina besitzt,
stammt aus Vitez bei Sarajevo, ist Moslem und gehört der Volksgruppe der Roma an. Er
kam 1993 mit seiner Frau und zwei Kindern als Kriegsflüchtling nach Berlin. Sein
Aufenthalt wurde zunächst bis zum 19. Dezember 1996 geduldet. Während seine Familie
gemäß §§ 53, 54 AuslG weitere Duldungen erhielt, wurde dies für ihn mit Bescheid des
Landeseinwohneramtes vom 5. Februar 1997 abgelehnt, weil er dreimal wegen Fahrens
ohne Fahrerlaubnis bzw. wegen Fischwilderei rechtskräftig verurteilt worden war und die
Strafe insgesamt mehr als 50, nämlich 65 Tagessätze betrug.
Gegen den Bescheid vom 5. Februar unternahm der Beschwerdeführer nichts. Mit
Schreiben vom 19. Juni 1997 beantragte er beim Landeseinwohneramt die Erteilung
einer weiteren Duldung und bat um Entscheidung binnen drei Tagen. Diesen Antrag hat
das Landeseinwohneramt innerhalb der gesetzten Frist und bis heute nicht beschieden.
Der Beschwerdeführer stellte daraufhin am 24. Juni 1997 beim Verwaltungsgericht Berlin
den Antrag, das Land Berlin durch einstweilige Anordnung zu verpflichten, ihm eine
weitere Duldung zu erteilen. Er begründete diesen Antrag vor allem damit, dass sein
Heimatort inzwischen ausschließlich von Kroaten bewohnt und sein ehemaliges
Wohnhaus zerstört sei und er als Moslem und Roma um seine körperliche Integrität
fürchten müsse und außerdem bei der Wohnungsbeschaffung, bei der Arbeitsaufnahme
und bei der Versorgung mit Hilfsgütern benachteiligt werde. Mit Verfügung vom 25. Juni
1997 bat das Verwaltungsgericht das Landeseinwohneramt um Übersendung der
Verwaltungsvorgänge sowie um schriftliche Äußerung binnen zwei Wochen. Erst am 20.
Oktober 1997 erhielt das Verwaltungsgericht vom Landeseinwohneramt die
Ausländerakte des Beschwerdeführers, verbunden mit der Mitteilung, dass dessen
Abschiebung für den 31. Oktober 1997 vorgesehen sei. Eine Stellungnahme zu der
Antragsschrift wurde vom Landeseinwohneramt nicht abgegeben.
Unter dem 27. Oktober 1997 erließ das Verwaltungsgericht eine als solche bezeichnete
"Zwischenverfügung" in der es der Ausländerbehörde untersagte, den Beschwerdeführer
vor Zustellung einer Entscheidung über den am 24. Juni 1997 gestellten Antrag auf
Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes abzuschieben.
Das Verwaltungsgericht begründete die Zwischenverfügung u. a. wie folgt:
"Der Erlass einer Zwischenverfügung zur Verhinderung der zum 31. Oktober 1997
geplanten Abschiebung des Antragstellers ist zur Wahrung effektiven Rechtsschutzes
(Art. 19 Abs. .4 GG) notwendig. Eine Abschiebung des Antragstellers nach Vitez, den
früheren Wohnort des Antragstellers, scheidet aus. Vitez ist eine kroatische Enklave in
Mittelbosnien (vgl. Auswärtiges Amt - 514-516 80/3 BOS - Bericht vom 30.9.1997, S. 2),
in Teilen der bosnischen Föderation, die unter der Kontrolle von bosnischen Kroaten
stehen und nunmehr fast rein kroatisch besiedelt sind, ist eine Rückkehr von
Angehörigen anderer Ethnien in der Regel nicht möglich, weil die Rückkehr durch
diskriminierende Maßnahmen hinsichtlich Arbeitsplatzvergabe, Ausstellung offizieller
Dokumente und Verhinderung der Wohnungsrückgabe bis hin zu tätlichen Übergriffen
und der Zerstörung von Häusern behindert bzw. unterbunden wird (AA,.S..7).
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Dass der Antragsteller ohne erhebliche eigene Gefährdung in das Föderationsgebiet
Bosniens zurückkehren kann, erscheint schon deshalb zweifelhaft, weil die Gewährung
humanitärer Hilfe - auf die der Antragsteller bei einer Rückkehr angesichts der
Arbeitsmarktlage (Arbeitslosenquote von 70 %, AA, S. 4) mit größter Wahrscheinlichkeit
angewiesen wäre - an die Registrierung geknüpft ist, die wiederum davon abhängt, dass
der Antragsteller Wohnraum in einer Gemeinde hat (AA, S. 15), wofür - gegenwärtig -
nichts ersichtlich ist.
Da bei dem nicht auszuschließenden Fehlen von Unterkunft und/oder humanitärer Hilfe
davon auszugehen ist, dass dem Antragsteller - zumal im Hinblick auf den
anbrechenden Winter - extreme Gefahren für Gesundheit und Leben drohen, was aus
verfassungsrechtlichen Gründen (Art. 2 Abs. 1 GG) eine vorläufige Aussetzung der
Abschiebung erforderlich macht (vgl. VGH Mannheim, Beschluss vom 17.3.1997 - 11 S
3301/96 - NVwZ Beilage Nr. 5/97), bedarf es weiterer Aufklärung, welche tatsächlichen
Folgen die Abschiebung des Antragstellers für ihn hätte."
Die Zwischenverfügung endete mit dem Hinweis, dass sie unanfechtbar sei.
2. Auf Antrag des Landeseinwohneramtes, das die Zwischenverfügung für anfechtbar
und sachlich unzutreffend hielt, ließ das Oberverwaltungsgericht durch Beschluss vom 8.
Dezember 1997 die Beschwerde gegen die "Zwischenverfügung" des
Verwaltungsgerichts gemäß §§ 146 Abs. 4, 124 Abs. 4 Nr. 3 VwGO mit der Begründung
zu, die Rechtssache habe grundsätzliche Bedeutung für die Frage der Abgrenzung einer
Zwischenverfügung als unanfechtbare prozessleitende Verfügung von einer der
Beschwerde unterliegenden Sachentscheidung. Zuvor hatte das Oberverwaltungsgericht
die Beteiligten darauf hingewiesen, dass es eine fortlaufend ergänzte Dokumentation
über die Lage in Bosnien-Herzegowina führe, die hiermit in das Verfahren eingeführt
werde und auf der Geschäftsstelle eingesehen werden könne. Es gab außerdem den
Beteiligten weitere die Sache betreffende Hinweise.
Mit Beschluss vom 3. Februar 1998 hat das Oberverwaltungsgericht die Entscheidung
des Verwaltungsgerichts vom 27. Oktober 1997 geändert und den Antrag auf Erlass
einer einstweiligen Anordnung abgelehnt. Es sah die Beschwerde als zulässig und
begründet an. Zwar seien Zwischenverfügungen grundsätzlich unanfechtbar, weil sie der
Sache nach prozessleitenden, eine Sachentscheidung vorbereitenden Verfügungen im
Sinne des § 146 Abs. 2 VwGO glichen und noch keine die Instanz abschließende
Sachentscheidung enthielten, diese vielmehr dem weiteren Verfahren vorbehielten. Der
Erlass einer Zwischenverfügung komme in Betracht, wenn eine abschließende
Sachentscheidung aktuell noch nicht getroffen werden könne; das vorläufige
Rechtsschutzbegehren nicht offensichtlich aussichtslos sei und ein spezifisches, auf den
Erlass der Zwischenverfügung bezogenes Sicherungsbedürfnis bestehe, weil zu
befürchten sei, dass anderenfalls unter Verletzung des verfassungsrechtlichen Gebots
effektiver Rechtsschutzgewährung vollendete Tatsachen geschaffen würden. Der
Beschluss des Verwaltungsgerichts beschränke sich jedoch nicht auf eine solche
Zwischenregelung, sondern enthalte eine Sachentscheidung über das
Duldungsbegehren und spreche dem Antragsteller im Ergebnis auf unabsehbare Zeit
einen Duldungsanspruch zu. Daran ändere die Bezeichnung der Entscheidung als
"Zwischenverfügung" nichts; sie sei für sich allein irrelevant. Auch lägen die
Voraussetzungen für den Erlass einer Zwischenverfügung nicht vor.
3. Mit seiner gegen die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts gerichteten
Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer die Verletzung von Art. 15 Abs. 1, 4
und 5 Satz 2 VvB. Er ist der Auffassung, ihm sei der gesetzliche Richter entzogen
worden, indem das Oberverwaltungsgericht die ausdrücklich als Zwischenverfügung
erlassene Entscheidung des Verwaltungsgerichts als Sachentscheidung angesehen und
diese willkürlich durch eine eigene Sachentscheidung ersetzt habe. Selbst bei Annahme
der Entscheidungsreife durch das Oberverwaltungsgericht wäre allenfalls die Aufhebung
der Zwischenverfügung gerechtfertigt gewesen, keinesfalls jedoch eine
Sachentscheidung unter Übergehung der ersten Instanz. Auch der Grundsatz der
Gewährung rechtlichen Gehörs gemäß Art. 15 Abs. 1 VvB sei verletzt. Die Entscheidung
des Oberverwaltungsgerichts habe ihm die Möglichkeit weiterer Sachaufklärung durch
das Verwaltungsgericht genommen. Auch habe er, wie er näher ausführt, im
Beschwerdeverfahren keine hinreichende Gelegenheit zur Äußerung gehabt.
Die Senatsverwaltungen für Justiz und Inneres und das Landeseinwohneramt hatten
Gelegenheit zur Äußerung.
II.
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Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist begründet. Der angegriffene Beschluss verletzt
den Beschwerdeführer in seinem Recht aus Art. 15 Abs. 5 Setz 2 VvB. Dieses
Grundrecht ist inhaltsgleich mit der Gewährleistung aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Es ist
daher von den Gerichten des Landes Berlin auch in den auf Bundesrecht beruhenden
gerichtlichen Verfahren zu beachten (BVerfGE 96, 345). Dementsprechend ist der
Verfassungsgerichtshof befugt, im Rahmen der Verfassungsbeschwerde die in
bundesrechtlich geregelten Verfahren ergehenden Entscheidungen der Berliner Gerichte
auf ihre Vereinbarkeit u. a. mit den verfahrensrechtlichen Grundrechten der Verfassung
von Berlin zu überprüfen, soweit diese mit Gewährleistungen des Grundgesetzes
inhaltsgleich sind (st. Rspr. seit Beschluss vom 23. Dezember 1992 - VerfGH 38/92 -
LVerfGE 1, 44; ebenso BVerfGE 96, 345).
1. Nach Art. 15 Abs. 5 Satz 2 VvB darf niemand seinem gesetzlichen Richter entzogen
werden. Dies bedeutet nicht nur, dass von Verfassungs wegen allgemeine Regelungen
darüber bestehen müssen, welches Gericht, welcher Spruchkörper und welcher Richter
zur Entscheidung eines Rechtsstreits berufen ist, sondern bedeutet auch, dass im
Einzelfall kein anderes Gericht entscheiden darf als dasjenige, das in den allgemeinen
Normen der Gesetze und sonstigen Vorschriften dafür vorgesehen ist (vgl. zu Art. 101
Abs. 1 Satz 2 GG BVerfGE 48 ,246 <254>; 21, 139 <145>). Dies ist im vorliegenden Fall
nicht geschehen. Zuständig zur Entscheidung über den Antrag des Beschwerdeführers,
das Land Berlin durch einstweilige Anordnung zu verpflichten, ihm eine weitere Duldung
zu erteilen, war nach § 123 Abs. 2 VwGO das Verwaltungsgericht. Eine Sachentscheidung
über den Antrag des Beschwerdeführers hat das Verwaltungsgericht jedoch nicht
getroffen. Es hat lediglich am 27. Oktober 1997 eine "Zwischenverfügung" erlassen, mit
der es dem Land Berlin (Landeseinwohneramt) untersagt hat, den Beschwerdeführer vor
einer Entscheidung über den Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes
abzuschieben. Diese Tenorierung bringt unmissverständlich zum Ausdruck, dass das
Verwaltungsgericht am 27. Oktober 1997 noch keine die Instanz abschließende
Entscheidung über den Antrag des Beschwerdeführers auf Erlass einer einstweiligen
Anordnung treffen wollte, sondern nur eine Zwischenentscheidung zur Sicherung der
Effektivität der künftigen Sachentscheidung. Auch ihrem Inhalt nach ist die
"Zwischenverfügung" vom 27. Oktober 1997 keine Sachentscheidung über den Antrag
des Beschwerdeführers, das Land Berlin zur Erteilung einer Duldung zu verpflichten. Die
Entscheidung behandelt lediglich die beabsichtigte alsbaldige Abschiebung des
Beschwerdeführers, die sie bis zur Entscheidung des Gerichts über den Antrag des
Beschwerdeführers, das Land Berlin zur Erteilung einer Duldung zu verpflichten,
untersagt. Dadurch, dass das Oberverwaltungsgericht diese "Zwischenverfügung" des
Verwaltungsgerichts als "Sachentscheidung über das Duldungsbegehren" angesehen,
auf die Beschwerde des Landes Berlin hin aufgehoben und den Antrag des
Beschwerdeführers auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt hat, wurde dem
Verwaltungsgericht entgegen § 123 Abs. 2 VwGO die Möglichkeit genommen, eine
Sachentscheidung über das Duldungsbegehren des Beschwerdeführers zu treffen. Das
aus den §§ 45, 123 Abs. 2 VwGO einfachgesetzlich folgende Recht des
Beschwerdeführers, dass über seinen Antrag das Verwaltungsgericht als das Gericht der
Hauptsache eine Sachentscheidung trifft, ist dadurch verletzt worden.
2. Für die Annahme eines Verstoßes gegen Art. 15 Abs. 5 Satz 2 VvB reicht die bloße
Verletzung verfahrensrechtlicher Zuständigkeitsregelungen nicht aus. Die fehlerhafte
Auslegung und Anwendung einfachgesetzlicher Vorschriften über die gerichtliche
Zuständigkeit ist erst dann ein Verstoß gegen Art. 15 Abs. 5 Satz 2 VvB, wenn sie
willkürlich ist (so zu Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG BVerfGE 87, 282 <284 f.> mit zahlreichen
weiteren Nachweisen). Dies ist insbesondere der Fall, wenn die die
Zuständigkeitsverletzung begründende gerichtliche Entscheidung nicht mehr
verständlich erscheint und offensichtlich unhaltbar ist (vgl. BVerfGE 29, 45 <49>; 19, 38
<43>). So liegt es hier. Es ist offensichtlich unhaltbar und nicht nachvollziehbar, dass
das als Beschwerdegericht gegen die "Zwischenverfügung" angerufene
Oberverwaltungsgericht sich für die von ihm getroffene Sachentscheidung für zuständig
gehalten hat. Seine Auffassung, die "Zwischenverfügung" des Verwaltungsgerichts sei
eine Sachentscheidung über das Duldungsbegehren des Beschwerdeführers ist
schlechterdings nicht nachvollziehbar. Die "Zwischenverfügung" des Verwaltungsgerichts
trifft keine Entscheidung über das Duldungsbegehren des Beschwerdeführers, sondern
betrifft ausschließlich die dem Beschwerdeführer angedrohte Abschiebung, die bis zur
Entscheidung in der Sache untersagt wird. Das Wort "Duldung" kommt in der
"Zwischenverfügung" des Verwaltungsgerichts kein einziges Mal vor. Es trifft deshalb
auch nicht zu, dass das Verwaltungsgericht dem Beschwerdeführer "im Ergebnis auf
unabsehbare Zeit einen Duldungsanspruch zugesprochen hat".
Das Verwaltungsgericht war im Zeitpunkt seiner "Zwischenverfügung" erst seit wenigen
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Das Verwaltungsgericht war im Zeitpunkt seiner "Zwischenverfügung" erst seit wenigen
Tagen im Besitz der Ausländerakte des Beschwerdeführers. Auch hatte das
Verwaltungsgericht, wie es hervorhebt, noch keine hinreichenden Erkenntnisse über die
regionalen Registrierungs- und Hilfevoraussetzungen in Bosnien. Es ist daher ohne
weiteres verständlich und drängt sich geradezu auf, dass für das Verwaltungsgericht das
Verfahren am 27. Oktober 1997 noch nicht entscheidungsreif war und es daher noch
keine Entscheidung in der Sache treffen konnte. Auch die Auffassung des
Oberverwaltungsgerichts, die Voraussetzungen für den Erlass einer "Zwischenverfügung"
durch das Verwaltungsgericht hätten nicht vorgelegen, vermag, wäre sie zutreffend, die
willkürliche Verletzung der Zuständigkeit des Verwaltungsgerichts zur Entscheidung in
der Sache nicht zu beseitigen. Das Oberverwaltungsgericht wäre in diesem Fall gehalten
gewesen, die "Zwischenverfügung" des Verwaltungsgerichts aufzuheben und die Sache
an das Verwaltungsgericht zurückzuverweisen, um diesem Gelegenheit zu geben, eine
Entscheidung in der Sache zu treffen.
3. Da die Verfassungsbeschwerde somit bereits wegen Verletzung des Art. 15 Abs. 5
Satz 2 VvB begründet ist, kann es dahinstehen, ob die Entscheidung des
Oberverwaltungsgerichts auch den Anspruch des Beschwerdeführers auf rechtliches
Gehör (Art. 15 Abs. 1 VvB) verletzt, wie dieser meint.
4. Nach § 54 Abs. 3 VerfGHG ist die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts
aufzuheben und die Sache in entsprechender Anwendung des § 95 Abs. 2 Halbs. 3
BVerfGG an das Oberverwaltungsgericht zur Entscheidung über die Beschwerde des
Landes Berlin zurückzuverweisen. Mit der Aufhebung des Beschlusses des
Oberverwaltungsgerichts ist die "Zwischenverfügung" vom 27. Oktober 1997 wieder
wirksam, so dass dem Landeseinwohneramt untersagt ist, bis zu einer vom
Verwaltungsgericht zu treffenden abschließenden Entscheidung den Beschwerdeführer
abzuschieben. Angesichts dessen bedarf es des Erlasses der ebenfalls beantragten
einstweiligen Anordnung zur vorübergehenden Sicherung des Aufenthalts des
Beschwerdeführers nicht.
Die Entscheidung ist mit fünf zu vier Stimmen ergangen.
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 33, 34 VerfGHG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar.
Abweichende Meinung
Die den Beschluss des Verfassungsgerichtshofs tragende Mehrheit nimmt an, das
Oberverwaltungsgericht habe mit seiner Entscheidung vom 3. Februar 1998 das durch
Art. 15 Abs. 5 Satz 2 VvB verbürgte Recht des Beschwerdeführers auf den gesetzlichen
Richter verletzt: Dem vermögen wir nicht zu folgen.
1. Einzuräumen ist, dass das Recht auf den gesetzlichen Richter dadurch verletzt werden
kann, dass ein Gericht seine Zuständigkeit zu Unrecht bejaht oder verneint und dadurch
eine Verschiebung der gesetzlichen Zuständigkeit im Einzelfall zum Nachteil einer
Prozesspartei bewirkt (vgl. zum Bundesrecht ebenso BVerfG, u. a. Beschlüsse vom 26.
Februar 1954 - 1 BvR 537/53 - BVerfGE 3, 359 <364> und vom 30. Juni 1970 - 2 BvR
48/70 - BVerfGE 29, 45 <48> sowie u. a. Leibholz/Rinck/ Hesselberger, Grundgesetz, Art.
101 Rn. 206). Voraussetzung für die Annahme einer Verletzung des Art. 15 Abs. 5 Satz 2
VVB ist danach eine zu Unrecht bejahte oder verneinte Zuständigkeit und infolgedessen
eine Verschiebung der sich aus dem einfachen Verfahrensrecht ergebenden
Zuständigkeit; deshalb ist im Einzelfall gleichsam auf einer ersten Stufe zu prüfen, ob die
zu beurteilende gerichtliche Entscheidung eine verfahrensfehlerhafte
Zuständigkeitsverschiebung bewirkt hat. Ist das nicht der Fall, fehlt es von vornherein an
einer Entziehung des gesetzlichen Richters und mithin an einer möglichen Verletzung
des Art. 15 Abs. 5 Satz 2 VvB., und zwar völlig unabhängig davon, wie das erkennende
Gericht seine - im Ergebnis richtige - Zuständig- bzw. Unzuständigkeit begründet hat
und ob die für seine Zuständig- oder Unzuständigkeit angestellten Erwägungen zu
überzeugen vermögen oder es ihnen gar an einer Nachvollziehbarkeit mangelt. Hat - mit
anderen Worten - das erkennende Gericht mit welchen Erwägungen auch immer die
Zuständigkeitsfrage in Auslegung und Anwendung des einschlägigen Verfahrensrechts
zutreffend beantwortet, scheidet eine Verletzung des verfassungsrechtlich garantierten
Rechts auf den gesetzlichen Richter aus. Im Ergebnis Entsprechendes gilt, wenn die vom
Fachgericht behandelte Zuständigkeitsfrage in Rechtsprechung und Literatur
unterschiedlich beantwortet wird, etwa weil es an einer höchstrichterlichen
Rechtsprechung bisher fehlt, also offen ist, ob die Ansicht des Fachgerichts zur
Zuständigkeitsfrage mit dem einschlägigen Verfahrensrecht vereinbar ist. Auch dann
fehlt es bereits an einer Berechtigung des Vorwurfs, das Fachgericht habe gegen
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fehlt es bereits an einer Berechtigung des Vorwurfs, das Fachgericht habe gegen
einfaches Verfahrensrecht verstoßen und damit an einer Grundlage für die Annahme
eines Verstoßes gegen Verfassungsrecht. Ausschließlich dann, wenn ein Gericht die
Zuständigkeitsfrage fehlerhaft beantwortet. hat, kann sich folglich die Frage nach einer
Verletzung des Art. 15 Abs. 5 Satz 2 VvB stellen. Indes führt nicht schon jede irrtümliche
Überschreitung der einem Fachgericht zugewiesenen Zuständigkeit zu einem Verstoß
gegen Art.15 Abs. 5 Satz 2 VvB. Vielmehr ist die Grenze zur Verfassungswidrigkeit erst
überschritten, wenn die - fehlerhafte gerichtliche Zuständigkeitsentscheidung willkürlich
ist (vgl. zum Bundesrecht BVerfG, statt vieler Beschluß vom 3. November 1992 - 1 BvR
137/92 - BVerfGE 87, 282 <284 f.>), d. h. wenn - in einem Fall der hier vorliegenden Art -
die Auffassung des Fachgerichts, es sei in einem bestimmten Einzelfall nach dem
einschlägigen Verfahrensrecht .zur Entscheidung berufen, "im Bereich des schlechthin
Abwegigen anzusiedeln ist" (vgl. zu dieser Bezeichnung der durch das
verfassungsrechtliche Willkürverbot gezogenen Grenze die ständige Rechtsprechung des
Verfassungsgerichtshofs, u.a. Beschlüsse vom 25. April 1994 - VerfGH 34/94 - LVerfGE
2, 16 <18>, vom 12. Oktober 1994 - VerfGH 68/94 - LVerfGE 2, 67 <71>, vom 11.
Januar 1995 - VerfGH 81/94 - LVerfGE 3, 3 <7>, vom 25. April 1996 - VerfGH 69, 69 A/95
- LVerfGE 4, 54 <62> und vom 12. Dezember 1996 - VerfGH 38/96 - LVerfGE 5, 58
<60>). Davon kann hier u. E. keine Rede sein.
2. Das Verwaltungsgericht hat im Rahmen eines einstweiligen Anordnungsverfahrens (§
123 VwGO) am 27. Oktober 1997 eine "Zwischenverfügung" erlassen; es hat dem
Antragsgegner untersagt, "den Antragsteller vor Zustellung einer Entscheidung der
Kammer über den Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes vom 24. Juni 1997
abzuschieben". Es hat am Ende der Gründe der "Zwischenverfügung" ausgeführt, diese
sei "unanfechtbar". Gleichwohl hat der Antragsgegner die Zulassung der Beschwerde
beim Oberverwaltungsgericht beantragt und nach deren Zulassung Beschwerde gegen
die "Zwischenverfügung" beim Oberverwaltungsgericht eingelegt. Daraufhin hat das
Oberverwaltungsgericht mit Beschluss vom 3. Februar 1998 den "Beschluss des
Verwaltungsgerichts Berlin vom 27. Oktober 1997 geändert" und den "Antrag auf Erlass
einer einstweiligen Anordnung ... abgelehnt". Die Auffassung des
Oberverwaltungsgerichts, bei der "Zwischenverfügung" des Verwaltungsgerichts handle
es sich um eine beschwerdefähige und deshalb von ihm überprüfbare Entscheidung,
könnte ausschließlich dann als eine willkürliche Entziehung des gesetzlichen Richters
gewertet werden, wenn sie - erstens - eine mit dem einschlägigen Verfahrensrecht nicht
vereinbarende Zuständigkeitsverschiebung zur Folge hätte und sie - zweitens - über die
einfachgesetzliche Rechtsverletzung hinausgehend als willkürlich zu werten, also im
Bereich des schlechthin Abwegigen anzusiedeln sein sollte. Es ist schon sehr zweifelhaft,
ob die erste Voraussetzung erfüllt ist, d. h. ob überhaupt eine fehlerhafte
Zuständigkeitsverschiebung vorliegt, und angesichts dessen fehlt es an einer Grundlage
für die Annahme einer sozusagen qualifizierten, nämlich willkürlichen
Zuständigkeitsverschiebung.
"Zwischenverfügungen" der hier in Rede stehenden Art sind nach herrschender Meinung
sowohl im Aussetzungsverfahren (§ 80 VwGO) als auch im einstweiligen
Anordnungsverfahren (§ 123 VwGO) statthaft; durch sie soll der Zeitraum zwischen dem
Eingang des Eilantrags und der endgültigen Eilentscheidung überbrückt werden (vgl.
statt vieler Schoch in Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, Stand Mai.1997, § 80
Rn. 242 und § 123 Rn. 164). Die Frage, ob diese "Zwischenverfügungen" nach Maßgabe
des § 146 Abs. 4 VwGO mit der Beschwerde angegriffen werden können und mithin der
Überprüfung durch das Oberverwaltungsgericht unterliegen, ist in Rechtsprechung und
Literatur umstritten. Während u. a. der Verwaltungsgerichtshof Kassel (Beschluss vom
23. August 1994 - 1 TG 2086/94 - NVwZ-RR 95, 302) eine Beschwerde gegen eine
derartige Zwischenentscheidung für unzulässig hält, meinen z. B. das OVG Hamburg
(Beschluss vom 10. März 1988 - Bs V 10/88 - NVwZ 89, 479) und das OVG Münster
(Beschluss vom 10. Oktober 1996 - 10 B 2434/96 -), eine. Beschwerde sei - nach
entsprechender Zulassung - zulässig. In der Literatur vertritt beispielsweise Schoch
(a.a.0., § 123 Rn. 181) die Ansicht, "Zwischenverfügungen" seien mit der Beschwerde
anfechtbar; dagegen hält etwa Schenke (Kopp/Schenke, VwGO, 11. Aufl., § 146 Rn. 8) sie
für nicht beschwerdefähig.
Eine höchstrichterliche Entscheidung des zur Auslegung des Verwaltungsprozessrechts
berufenen Bundesverwaltungsgerichts gibt es bisher nicht, so dass gegenwärtig die
Annahme geboten ist, es sei einfachrechtlich offen, ob ein Oberverwaltungsgericht für
die Entscheidung über ein Rechtsmittel gegen eine "Zwischenverfügung" zuständig ist.
Vor diesem Hintergrund fehlt es schon an einer Rechtfertigung für den Vorwurf, ein
Oberverwaltungsgericht, das - wie im vorliegenden Fall – seine Zuständigkeit bejaht,
verstoße gegen einfaches Verwaltungsprozessrecht, und angesichts dessen mangelt es
an jeder Grundlage für die Annahme einer qualifizierten, nämlich willkürlichen
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an jeder Grundlage für die Annahme einer qualifizierten, nämlich willkürlichen
Rechtsverletzung (Entziehung des gesetzlichen Richters).
3. Eine ganz andere Frage ist, ob das Oberverwaltungsgericht im Rahmen der von ihm
bejahten Zuständigkeit zur Überprüfung der "Zwischenverfügung" des
Verwaltungsgerichts ausschließlich befugt war, diese Zwischenentscheidung zu
bestätigen bzw. sie aufzuheben und die Sache zur Entscheidung über die begehrte
einstweilige Anordnung selbst an das Verwaltungsgericht "zurückzugeben" oder ob es -
wie es angenommen hat - eine Entscheidung in dem einstweiligen Anordnungsverfahren
treffen durfte. Auf einzig diese Frage stellt die Mehrheit des Verfassungsgerichtshofs ab;
ohne jede Begründung beantwortet sie sie in letzterem Sinne und lässt dabei schlicht
unberücksichtigt, dass die Beantwortung dieser Frage mangels Vorliegens einer
höchstrichterlichen Entscheidung einfachrechtlich ebenfalls als offen zu bezeichnen ist:
Während etwa das OVG Hamburg (a.a.0.) - ohne dies zu problematisieren – inzident die
erste Alternative für zutreffend hält, meint z.B. Schoch (in Schoch/Schmidt-
Aßmann/Pietzner, VwGO, Stand Februar 1998, § 123 Rn. 185) unter Hinweis auf seine
Ansicht stützende Stimmen in Rechtsprechung und Literatur, das
Oberverwaltungsgericht habe selbst eine den Instanzenzug abschließende. Entscheidung
nach Maßgabe der für das Verwaltungsgericht geltenden Regeln zu treffen; die Funktion
des Eilverfahrens spreche dafür, dass das Beschwerdegericht zu einer eigenen
Sachentscheidung über die gestellten Sachanträge berufen sei. Auch in diesem
Zusammenhang lässt sich gegenwärtig somit nicht einmal feststellen, das
Oberverwaltungsgericht habe durch seine Entscheidung gegen einfachgesetzliches
Verfahrensrecht verstoßen, und angesichts dessen kann keine Rede davon sein, es habe
die durch das Willkürverbot gezogene Grenze überschritten und deshalb Art. 15 Abs. 5
Satz 2 VvB verletzt.
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