Urteil des VerfGH Berlin vom 14.03.2017

VerfGH Berlin: beschlagnahme, verfassungsbeschwerde, faires verfahren, persönlichkeitsrecht, pos, strafverfahren, straftat, beweismittel, eingriff, privatsphäre

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Gericht:
Verfassungsgerichtshof
des Landes Berlin
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
170/08, 170 A/08
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
Art 6 Verf BE, Art 7 Verf BE, Art
15 Verf BE, § 49 Abs 2 S 1
VGHG BE, § 98 Abs 2 StPO
Allgemeines Persönlichkeitsrecht und Beschlagnahme und
Verwertung von tagebuchartigen Aufzeichnungen eines
Beschuldigten
Leitsatz
Die Beschlagnahme und Verwertung von tagebuchartigen Aufzeichnungen eines
Beschuldigten in einem gegen ihn gerichteten Strafverfahren ist nicht ausnahmslos verboten.
Enthalten solche Aufzeichnungen etwa Berichte über begangene oder Angaben über die
Planung zukünftiger Straftaten, stehen sie also in einem unmittelbaren Bezug zu konkreten
strafbaren Handlungen, gehören sie nicht zu dem unantastbaren Kernbereich privater
Lebensgestaltung. Gleichwohl können derartige Aufzeichnungen nicht uneingeschränkt
beschlagnahmt und im Strafverfahren verwertet werden. Vielmehr müssen Beschlagnahme
und Verwertung durch überwiegende Allgemeinwohlinteressen gerechtfertigt sein. Im Rahmen
der danach erforderlichen Einzelfallprüfung und -abwägung ist zu klären, ob die
Beschlagnahme und Verwertung der Aufzeichnungen für die Aufklärung der dem
Beschuldigten zur Last gelegten Straftat geeignet und erforderlich sind sowie, ob der dadurch
bedingte Eingriff in die Privatsphäre des Beschuldigten zum strafrechtlichen Aufklärungsziel -
insbesondere zu der Schwere der dem Beschuldigten zur Last gelegten Straftat - nicht außer
Verhältnis steht.
Tenor
Die Beschlagnahmeentscheidung des Polizeipräsidenten in Berlin vom 27. Juni 2008 -
LKA 424 080508-1044-122230 -, der Beschluss des Amtsgerichts Tiergarten vom 25. Juli
2008 - (353 Gs) 8 Ju Js 1045/08 (3157/08) - sowie der Beschluss des Landgerichts Berlin
vom 29. September 2008 - 501 Qs 159/08 - verletzen den Beschwerdeführer in seinem
in Art. 7 i. V. m. Art. 6 der Verfassung von Berlin verbürgten allgemeinen
Persönlichkeitsrecht, soweit sie die Beschlagnahme seiner Tagebücher aus den Jahren
1994 bis 2000 (Pos. 4 des Beschlagnahmeprotokolls - Notizbücher) und seiner
Kalenderbücher aus den Jahren 2005, 2006 und 2008 (Pos. 27 des
Beschlagnahmeprotokolls) betreffen. Sie werden insoweit aufgehoben. Die Sache wird
zur Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens an das Landgericht Berlin
zurückverwiesen.
Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde zurückgewiesen.
Damit erledigt sich zugleich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.
Das Verfahren ist gerichtskostenfrei.
Das Land Berlin hat dem Beschwerdeführer zwei Drittel seiner notwendigen Auslagen zu
erstatten.
Gründe
I.
Der Beschwerdeführer wendet sich mit der Verfassungsbeschwerde gegen die
Beschlagnahme von Tagebüchern sowie Kalenderbüchern.
Im Rahmen eines Ermittlungsverfahrens gegen einen gesondert verfolgten
Beschuldigten wegen Menschenhandels zum Zweck der sexuellen Ausbeutung entstand
bei der Vernehmung des im März 1992 geborenen Zeugen M. S. gegen den
Beschwerdeführer der Verdacht des sexuellen Missbrauchs von Jugendlichen (§ 182 Abs.
1 Nr. 1 StGB). In dem daraufhin gegen den Beschwerdeführer eingeleiteten
Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft Berlin ordnete das Amtsgericht Tiergarten
mit Beschluss vom 24. Juni 2008 die Durchsuchung der Wohnräume des
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mit Beschluss vom 24. Juni 2008 die Durchsuchung der Wohnräume des
Beschwerdeführers an, da diese zum Auffinden von Beweismitteln, insbesondere von
Bildmaterial des Zeugen S., Terminkalender, schriftliche Aufzeichnungen über Treffen
mit dem Zeugen sowie von Unterlagen über einen möglichen Weiterverkauf der
entstandenen Bilddateien führen werde. Zur Begründung heißt es in dem Beschluss:
Dem Beschwerdeführer werde vorgeworfen, im Sommer 2007 an dem Zeugen S. in
wenigstens sieben Fällen während vorgenommener Fotoshootings den Oralverkehr
ausgeübt und dem Zeugen hierfür Geld gegeben zu haben. Ferner habe er im
genannten Tatzeitraum in dem Lokal „J.“ in die Boxershort des Zeugen gefasst und an
dessen Geschlechtsteil manipuliert, um ihm anschließend einen Geldschein in die
Boxershort zu stecken. Anlässlich einer Reise an die Ostsee habe er dem Zeugen S.
Marihuana angeboten. Als beide das Marihuana geraucht hätten, habe der
Beschwerdeführer das Geschlechtsteil des Zeugen in den Mund genommen. Weitere
Handlungen habe der Zeuge abwehren können.
Am 27. Juni 2008 wurden bei der Durchsuchung der Wohnung des Beschwerdeführers in
Berlin insgesamt 43 Positionen Beweismittel beschlagnahmt, darunter sieben
Notizbücher aus den Jahren 1994 bis 2000 (Pos. 4) und vier Kalenderbücher aus den
Jahren 2005 bis 2008 (Pos. 27). Mit Beschluss vom 25. Juli 2008 bestätigte das
Amtsgericht Tiergarten die Beschlagnahme auf Antrag der Staatsanwaltschaft gemäß §
98 Abs. 2 StPO, weil die beschlagnahmten Gegenstände als Beweismittel für die
Untersuchung von Bedeutung sein könnten. Die hiergegen eingelegte Beschwerde, mit
der der Beschwerdeführer unter anderem die Verfassungswidrigkeit der Beschlagnahme
der Tagebücher und der Kalenderbücher geltend machte, wies das Landgericht Berlin
mit Beschluss vom 29. September 2008, soweit es die Tage- und Kalenderbücher
betrifft, zurück und erlegte dem Beschwerdeführer die Kosten des Verfahrens auf. Zur
Begründung führt der Beschluss aus: Die Notiz- und Kalenderbücher könnten i. S. des §
94 Abs. 1 StPO als Beweismittel für die Untersuchung von Bedeutung sein. Dies stelle
der Beschwerdeführer, soweit es die tatsächliche Seite angehe, auch nicht in Frage. Der
Beschlagnahmeanordnung stehe aber auch ein Beweisverwertungsverbot nicht
entgegen. Allerdings handele es sich nach dem Inhalt der Notizbücher und Kalender, die
nicht nur Termine und organisatorische Notizen, sondern eingestreut auch Vermerke
über das eigene Gefühlsleben und sexuelle Beschreibungen teils überaus intimen
Charakters enthielten, um jedenfalls tagebuchhafte Inhalte umfassende
Aufzeichnungen, denen nach Art. 1 und 2 GG wegen der Unantastbarkeit seiner
Menschenwürde und des Rechts auf freie Entfaltung der Person ein
Beweisverwertungsverbot zukommen könne. Dass dennoch eine mögliche
Beweisbedeutung der Aufzeichnungen bestehe, ergebe sich aus dem Umstand, dass vor
dem Hintergrund des Spannungsverhältnisses zwischen dem Persönlichkeitsrecht des
Beschuldigten und der ebenfalls grundgesetzlichen Schutz genießenden
Funktionsfähigkeit der Rechtspflege kein uneingeschränktes Verwertungsverbot gelte.
Vielmehr müsse zwischen den genannten Verfassungsprinzipien unter besonderer
Berücksichtigung sowohl der Schwere der aufzuklärenden Straftat als auch der
konkreten Bedeutung der in Frage stehenden Aufzeichnungen für die Aufklärung
abgewogen werden. Dass diese Abwägung von vornherein zu der Annahme eines
Beweisverbotes führe, werde sich aber derzeit nicht sagen lassen. Einerseits ergäben
sich über den Verdacht von Vergehen nach § 182 StGB und § 29a Abs. 1 Nr. 1
Betäubungsmittelgesetz - BtMG - (betreffend die Verabreichung von Haschisch) hinaus
aus den Ermittlungsakten auch für Taten zu Lasten von Kindern Anhaltspunkte, die
Ansätze zu weiteren, gegebenenfalls auch Verbrechen i. S. des § 176a Abs. 2 und 3
StGB betreffenden Ermittlungen böten, andererseits lasse sich in diesem frühen
Stadium des Ermittlungsverfahrens auch eine Beurteilung der Beweisbedeutung der
beschlagnahmten Aufzeichnungen nicht vornehmen. Die Beschlagnahmeanordnung
werde aber aufzuheben sein, sobald sich die Schwere der dem Beschwerdeführer zur
Last zu legenden Taten wie auch die Bedeutung der in Rede stehenden Aufzeichnungen
überblicken ließen und eine Abwägung der genannten Verfassungsprinzipien zur
Annahme der Unverwertbarkeit der Schriftstücke führe.
Gegen die Beschlagnahmeentscheidung und die hierzu ergangenen
Gerichtsentscheidungen hat der Beschwerdeführer unter dem 7. November 2008
Verfassungsbeschwerde erhoben und zugleich den Erlass einer einstweiligen Anordnung
beantragt. Zur Begründung trägt er vor: Durch die angegriffenen Entscheidungen werde
er in seinem allgemeinen Persönlichkeitsrecht und seiner Menschenwürde (Art. 6 und 7
der Verfassung von Berlin - VvB -) sowie in seiner weltanschaulichen Freiheit (Art. 29
VvB) verletzt. Eine Beschlagnahme sei unzulässig, soweit die beschlagnahmten
Gegenstände einem verfassungsrechtlichen Verwertungsverbot unterlägen. So verhalte
es sich im vorliegenden Fall. Gerade in den „Tagebuchfällen“ erkenne das
Bundesverfassungsgericht wegen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts einen
unantastbaren Bereich privater Lebensgestaltung an, welcher der öffentlichen Gewalt -
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unantastbaren Bereich privater Lebensgestaltung an, welcher der öffentlichen Gewalt -
selbst bei schwerwiegenden Interessen der Allgemeinheit - schlechthin entzogen sei. Bei
der Bewertung des vorliegenden Einzelfalls stehe fest, dass er seine höchstpersönlichen
Gedanken und Phantasien niedergelegt habe, was auch das Landgericht in seinem
Beschluss bestätigt habe. Auf den jeweiligen Seiten der Notiz- bzw. Kalenderbücher
befänden sich neben schlichten Terminvermerken und sonstigen Notizen
höchstpersönliche Vorgänge seines Sexuallebens. Dabei handele es sich um reine
Phantasieabläufe und -vorstellungen seines inneren Lebens und keinesfalls um
tatsächlich stattfindende Vorgänge im realen Leben. Insofern handele es sich auch nicht
um Verbrechensaufzeichnungen, da die Niederschriften keine Vorgänge der Außenwelt
wiedergäben, sondern sich allein auf innere Vorgänge des Gefühlslebens bezögen. Für
ein Eindringen in seine durch die beschlagnahmten Aufzeichnungen verkörperte
Intimsphäre fehle es an einer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung. Hinsichtlich der
Tagebücher aus den Jahren 1994 bis 2006 und 2008 sei schon ein Bezug zu dem
Sachverhalt, der Verfahrensgegenstand sei, nicht gegeben. Aber auch hinsichtlich der
Aufzeichnungen aus dem Jahre 2007 sei die Beschlagnahme nach der
verfassungsgerichtlichen Abwägungslehre bei dem Tatvorwurf des Missbrauchs von
Jugendlichen und des einmaligen Verabreichens von Betäubungsmitteln
unverhältnismäßig. So habe das Landgericht es versäumt, die weiteren Beweismittel, die
zur Verfügung stünden, in die Abwägung einzustellen. Der Hinweis des Landgerichts, es
stehe möglicherweise die Verwirklichung von Taten zu Lasten von Kindern im Raum,
erfolge pauschal und ohne Aktenbezug und sei tatsächlich aus der Luft gegriffen. Aus
den Ermittlungsakten ergäben sich bislang keine Anhaltspunkte für andere Tatvorwürfe
als die des § 182 StGB und des § 29a Abs. 1 Nr. 1 BtMG.
Die Durchsuchungsbeschlüsse verletzten ihn auch in seinem prozessualen Recht auf ein
faires Verfahren, das in Art. 15 VvB als selbstverständlich bestehend vorausgesetzt
werde. Nach dem Wohnungsdurchsuchungsbericht vom 1. Juli 2008 seien die
tagebuchähnlichen Aufzeichnungen durch das bewusste Erregen und Ausnutzen eines
von dem Beamten unterhaltenen Irrtums des Beschwerdeführers in den Gewahrsam der
Vollzugsbeamten gelangt. Nach dem Bericht habe der Beschwerdeführer telefonisch
Kontakt zu seinem Rechtsanwalt hergestellt, mit dem während der Maßnahme kurz
gesprochen worden sei. Der Rechtsanwalt habe hierbei das Beschlagnahmeverbot von
Tagebuchaufzeichnungen thematisiert. Ihm sei dazu erklärt worden, dass diese für den
Fall eines Auffindens nicht Gegenstand einer Beschlagnahme/Auswertung seien. Die
dennoch erfolgte Beschlagnahme der Aufzeichnungen verletze das Gebot eines fairen
Verfahrens, weil beim Bestehen eines Beschlagnahmeverbots der Eigentümer darauf
hinzuweisen sei, dass eine zwangsweise Mitnahme des Gegenstandes nicht möglich sei,
anderenfalls ein Verwertungsverbot entstehe. Dies gelte auch für ein Verwertungsverbot
aus dem Grundgesetz.
Die Beteiligten hatten Gelegenheit zur Äußerung. Der Präsidenten des Landgerichts und
des Amtsgerichts Tiergarten haben sich nicht geäußert, die Staatsanwaltschaft Berlin
tritt der Verfassungsbeschwerde unter Hinweis auf die aktuelle Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts (Entscheidung vom 26. Juni 2008 – 2 BvR 219/08) entgegen.
II.
1. Die Verfassungsbeschwerde ist unzulässig, soweit der Beschwerdeführer mit ihr
erstmals eine Verletzung der Garantie eines fairen Verfahrens rügt. Ihr steht insoweit der
in § 49 Abs. 2 Satz 1 des Gesetzes über den Verfassungsgerichtshof - VerfGHG - zum
Ausdruck kommende Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde
entgegen. Dieser verlangt von dem Beschwerdeführer, vor einer Anrufung des
Verfassungsgerichtshofs über die Erschöpfung des Rechtswegs im engeren Sinne hinaus
alle zur Verfügung stehenden und ihm zumutbaren rechtlichen Möglichkeiten zu
ergreifen, um auf diese Weise eine Korrektur des geltend gemachten
Verfassungsverstoßes zu erwirken oder eine Grundrechtsverletzung zu verhindern (vgl.
Beschluss vom 16. Dezember 1993 - VerfGH 104/93 – LVerfGE 1, 199 <201>; st. Rspr.).
Damit ist es unvereinbar, wenn im Instanzenzug ein verfassungsrechtlicher Mangel
deshalb nicht nachgeprüft werden konnte, weil er nicht oder nicht in ordnungsgemäßer
Form gerügt worden war (vgl. Beschluss vom 18. Juni 1998 – VerfGH 56/97 – LVerfGE 8,
59 <62>, st. Rspr.; vgl. zum Bundesrecht: BVerfGE 16, 124 <127>; 54, 53 <65>; 74,
102 <114>).
2. Im Übrigen ist die Verfassungsbeschwerde zulässig und überwiegend begründet. Die
angefochtenen Entscheidungen verletzen den Beschwerdeführer in dem in der
Entscheidungsformel genannten Umfang in seinem durch Art. 7 i. V. m. Art. 6 VvB
gewährleisteten allgemeinen Persönlichkeitsrecht.
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a) Das allgemeine Persönlichkeitsrecht gewährt jedem einen individuellen Schutzraum,
der ihm eine private Lebensgestaltung frei von staatlicher Beeinflussung garantiert.
Zwar steht nicht der gesamte Bereich des privaten Lebens unter dem unbedingten
Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts. Absolut geschützt und damit der
Einwirkung der öffentlichen Gewalt schlechthin entzogen ist vielmehr nur ein Kernbereich
privater Lebensgestaltung (vgl. hierzu und zum Folgenden Beschluss vom 24. Januar
2003 - VerfGH 39/99 - NJW 2004, 593; zum Bundesrecht: BVerfGE 80, 367 <373>;
BVerfG, Beschluss vom 26. Juni 2008 - 2 BvR 219/08 - StraFo 2008, 421).
Die Beschlagnahme und Verwertung von tagebuchartigen Aufzeichnungen eines
Beschuldigten in einem gegen ihn gerichteten Strafverfahren ist danach nicht
ausnahmslos verboten. Enthalten solche Aufzeichnungen etwa Berichte über begangene
oder Angaben über die Planung künftiger Straftaten, stehen sie also in einem
unmittelbaren Bezug zu konkreten strafbaren Handlungen, gehören sie nicht zu dem
unantastbaren Kernbereich privater Lebensgestaltung. Gleichwohl können derartige
Aufzeichnungen nicht uneingeschränkt beschlagnahmt und im Strafverfahren verwertet
werden. Vielmehr müssen Beschlagnahme und Verwertung durch überwiegende
Allgemeinwohlinteressen gerechtfertigt sein. Im Rahmen der danach erforderlichen
Einzelfallprüfung und -abwägung ist zu klären, ob die Beschlagnahme und Verwertung
der Aufzeichnungen für die Aufklärung der dem Beschuldigten zur Last gelegten Straftat
geeignet und erforderlich sind sowie, ob der dadurch bedingte Eingriff in die Privatsphäre
des Beschuldigten zum strafrechtlichen Aufklärungsziel - insbesondere zu der Schwere
der dem Beschuldigten zur Last gelegten Straftat - nicht außer Verhältnis steht
(Beschluss vom 24. Januar 2003, a.a.O.).
b) Gemessen daran war die Beschlagnahme der Tagebücher aus den Jahren 1994 bis
2000 (Pos. 4 des Beschlagnahmeprotokolls - Notizbücher) und der Kalenderbücher aus
den Jahren 2005, 2006 und 2008 (Pos. 27 des Beschlagnahmeprotokolls) nicht zulässig,
da sie keinen hinreichenden Bezug zu den dem Beschwerdeführer vorgeworfenen
Straftaten aufweisen.
Dem Beschwerdeführer wird in dem gegen ihn geführten Ermittlungsverfahren
vorgeworfen, im Sommer 2007 - er spricht in seiner Einlassung von August und
September 2007 - einen jugendlichen Zeugen sexuell missbraucht und ihm Marihuana
angeboten zu haben. Dieser nach den bisherigen Ermittlungen auf einen engen
Zeitraum eingegrenzte Tatvorwurf steht in keinem Zusammenhang zu den
beschlagnahmten Tagebüchern aus den Jahren 1994 bis 2000 und den Kalenderbüchern
aus den Jahren 2005, 2006 und 2008. Mögliche strafbare Handlungen des
Beschwerdeführers aus diesen Jahren sind nicht Gegenstand der Ermittlungen. Ihre
Beschlagnahme kann aber auch nicht damit gerechtfertigt werden, dass sie über die
Aufklärung des unmittelbaren Tatgeschehens hinaus Aufschlüsse über die Persönlichkeit
des Beschwerdeführers geben und hierdurch Erkenntnisse vermitteln können, die für
eine gerechte Bewertung der Tat unerlässlich sind (vgl. zu diesem Gesichtspunkt
BVerfGE 80, 367 <377 f.>). Die Beschlagnahme steht insoweit im Hinblick auf die
besondere Bedeutung des Schutzes der Privatsphäre des Einzelnen außer Verhältnis zu
dem Eingriff.
Für die dem Beschwerdeführer vorgeworfenen Straftaten sieht das Gesetz in § 182 Abs.
1 Nr. 1 StGB und § 29 Abs. 1 Nr. 1 BtMG Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder
Geldstrafe vor. Mit dieser Strafandrohung wird der sexuelle Missbrauch von Jugendlichen
und die Verschaffung und Abgabe von Rauschmitteln als nicht unerhebliches Unrecht
einstuft. Andererseits ist zu berücksichtigen, dass die genannten Straftatbestände nicht
als Verbrechen, sondern nur als Vergehen ausgestaltet sind und statt einer
Freiheitsstrafe auch die Verhängung einer Geldstrafe in Betracht kommt. Hierdurch wird
deutlich, dass die hier in Frage stehenden Delikte nicht zur Schwerkriminalität zählen
und ihrem in der Strafandrohung zum Ausdruck kommenden Unrechtsgehalt nach etwa
dem einfachen Diebstahl (§ 242 StGB) gleichstehen. Der Unrechtsgehalt der dem
Beschwerdeführer vorgeworfenen Tat erweist sich danach nicht als gewichtig genug, um
eine Beschlagnahme der Tagebuchaufzeichnungen und den darin liegenden Eingriff in
die Privatsphäre des Beschwerdeführers allein zum Zweck einer Erfassung und
Beurteilung seiner den Tatvorwürfen zugrundeliegenden Persönlichkeitsstruktur zu
rechtfertigen.
Soweit der angegriffene Beschluss des Landgerichts darauf abstellt, dass sich aus den
Ermittlungsakten auch Ansätze für weiter führende Ermittlungen gegen den
Beschwerdeführer wegen sexueller Straftaten zum Nachteil von Kindern (§ 176a Abs. 2
und 3 StGB) ergäben, trägt dies die angegriffene Beschlagnahmeentscheidung ebenfalls
nicht. Anhaltspunkte dafür, dass der Beschwerdeführer sich auch an Kindern vergangen
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nicht. Anhaltspunkte dafür, dass der Beschwerdeführer sich auch an Kindern vergangen
haben könnte, lassen sich der Ermittlungsakte nicht entnehmen. Der Vermerk der
Staatsanwaltschaft vom 23. Juli 2008 (Bl. 147 der Ermittlungsakte), der dem Amtsgericht
mit der Bitte um richterliche Bestätigung der Beschlagnahme übersandt wurde, legt
insoweit dar, dass es bei den Aufzeichnungen des Beschwerdeführers nach
stichprobenartigem Durchblättern auch um die unmittelbare Beschreibung begangener
schwerer Straftaten mit Datum, Uhrzeit, Ort und Namen der Geschädigten gehe; hierbei
sei zu vermuten, dass es sich bei den Geschädigten nicht nur um Jugendliche, sondern
auch um Kinder handele, was den Vorwurf eines Verbrechens nach sich ziehe. Ein sich
möglicherweise aus der Beschlagnahme und Verwertung persönlicher Aufzeichnungen
ergebender Verdacht weiterer Straftaten reicht indes für eine Beschlagnahme
höchstpersönlicher Aufzeichnungen nicht aus. Denn eine solche Beschlagnahme darf
nicht zu einer systematischen Suche nach „Zufallsfunden“ genutzt werden, die - wie hier
- mit dem durch die Durchsuchungsanordnung umschriebenen Verfahrensgegenstand
nichts zu tun haben (vgl. Beschluss vom 6. Juli 2005 - VerfGH 32/05 – im Internet unter
www.gerichtsentscheidungen.berlin-brandenburg.de, Rn. 57 m.w.N.).
c) Durchgreifende verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Beschlagnahme des
Kalenderbuchs aus dem Jahr 2007 bestehen hingegen nicht. Die dortigen Eintragungen
können Aufschluss über Art und Umfang der sexuellen Kontakte des Beschwerdeführers
zum Zeugen S. geben und damit die Ermittlungen wesentlich fördern. Gerechtfertigt ist
dies aber nur insoweit, als es um die Vorgänge bei den Treffen („Fotoshootings“) des
Beschwerdeführers mit dem Zeugen S. im Sommer 2007 (Juni bis September),
insbesondere bei der vom Beschwerdeführer auf den 22. August 2007 datierten
Eintagesreise an die Ostsee, geht. Zu den dem Beschwerdeführer in diesem Zeitraum
vorgeworfenen Missbrauchshandlungen zum Nachteil des Zeugen S. machen der
Beschwerdeführer und der Zeuge S. stark divergierende Angaben. Eine hierauf
beschränkte Durchsicht und Verwertung trägt einerseits dem Interesse an einer Klärung
des Tatvorwurfs Rechnung, wirkt aber andererseits einem durch den Gegenstand des
Ermittlungsverfahrens nicht veranlassten Eindringen in die Intimsphäre des
Beschwerdeführers entgegen.
3. Gemäß § 54 Abs. 2 VerfGHG ist festzustellen, dass die Beschlagnahmeentscheidung
des Polizeipräsidenten und die die Beschlagnahme betreffenden Beschlüsse des
Amtsgerichts und des Landgerichts das Grundrecht des Beschwerdeführers aus Art. 7 i.
V. m. Art. 6 VvB verletzt haben. Da das Strafverfahren noch nicht abgeschlossen ist und
die Beschlüsse deshalb noch in vollem Umfang Wirkung entfalten, sind die genannten
Entscheidungen gemäß § 54 Abs. 3 VerfGHG aufzuheben; hinsichtlich der im Beschluss
des Landgerichts enthaltenen Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens
ist die Sache in entsprechender Anwendung des § 95 Abs. 2 Halbs. 2 i.V.m. § 90 Abs. 2
Satz 1 Bundesverfassungsgerichtsgesetz an das Landgericht zurückzuverweisen.
Die Kostenentscheidung folgt aus den §§ 33, 34 VerfGHG. Da der Beschwerdeführer mit
seiner Verfassungsbeschwerde überwiegend Erfolg hat, in einem für das Strafverfahren
wesentlichen Punkt aber unterlegen ist, erscheint es angebracht, die Erstattung seiner
notwendigen Auslagen auf zwei Drittel zu beschränken.
Mit dieser Entscheidung ist das Verfahren vor dem Verfassungsgerichtshof
abgeschlossen.
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