Urteil des VerfGH Berlin vom 14.03.2017

VerfGH Berlin: anspruch auf rechtliches gehör, abweichende meinung, schutz der menschenwürde, subjektives recht, ddr, verfassungsbeschwerde, garantie der menschenwürde, recht auf akteneinsicht

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Gericht:
Verfassungsgerichtshof
des Landes Berlin
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
18/92
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
Art 6 Abs 1 S 1 Verf BE, Art 62
Verf BE, Art 63 Verf BE, Art 65
Verf BE, Art 67 Verf BE
Verfassungsgerichtshof Berlin: Verletzung des
Rechtsstaatsprinzips mit Verfassungsbeschwerde nicht
rügefähig - zum Rechtsschutzinteresse für eine
Verfassungsbeschwerde gegen die Ablehnung der Kassation
eines Strafurteils der ehemaligen DDR - zum Grundrecht des
rechtlichen Gehörs nach Verf BE - Gehörsverstoß durch
Verweigerung der Einsicht in Ermittlungsakten
Gründe
I.
Der Beschwerdeführer wendet sich gegen die Ablehnung der Kassation des Urteils eines
Gerichts der ehemaligen DDR. Mit Beschluß des Landgerichts Berlin - 506 Kass 467/91 -
vom 15. Januar 1992 wurde sein Kassationsantrag gegen das Urteil des Stadtgerichts
Berlin vom 25. Januar 1979 - rechtskräftig seit dem 2. Februar 1979 - gemäß § 349 Abs.
2 StPO als offensichtlich unbegründet verworfen.
Mit dem im Kassationsverfahren angegriffenen Urteil des Stadtgerichts Berlin vom 25.
Januar 1979 war der Beschwerdeführer wegen mehrfacher, teils allein, teils
gemeinschaftlich begangener planmäßiger staatsfeindlicher Hetze - Verbrechen gemäß
§§ 106 I 1 und 3, II, 108, 22 II 2 StGB-DDR - zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und
vier Monaten verurteilt worden. In dem Urteil war festgestellt worden, der
Beschwerdeführer habe behauptet, in der DDR herrsche eine Partei und
Staatsbürokratie, die Partei der Arbeiterklasse habe sich verselbständigt, sich zu einer
ideologischen Minderheit entwickelt und sich über das Volk gestellt. Der
Beschwerdeführer habe in diesem Sinne grafische Darstellungen als Künstler hergestellt.
So habe er einen Wandkalender mit der Überschrift "Nur die Machtlosen haben die
Macht" gefertigt. Er habe Ölbilder gemalt, auf denen er sich künstlerisch mit
Gesellschaftsproblemen, u.a. der Sportpolitik der DDR, auseinandergesetzt habe.
Schließlich habe er einen Kalender mitgestaltet, in dem er auf einem Blatt eine einseitig
zugunsten der Sowjetunion beherrschte Außenhandelspolitik der DDR symbolisch
dargestellt habe. Nach dem Antrag der Staatsanwaltschaft vom 10. Dezember 1991,
den Kassationsantrag als offensichtlich unbegründet zu verwerfen, hatte der
Beschwerdeführer am 18. Dezember 1991 beantragt, ihm Akteneinsicht zu gewähren
und die Frist für seine Gegenerklärung zu verlängern. Dies hatte der Vorsitzende des
Kassationsgerichts mit Schreiben vom 3. Januar 1992, das am 7. Januar 1992 zur Post
gegeben wurde, zurückgewiesen. Der Beschwerdeführer wurde dahingehend beschieden,
daß ein Recht zur Akteneinsicht nur einem zum Verteidiger gewählten oder bestellten
Rechtsanwalt eingeräumt sei. Bereits im Juli 1990 hätten die Akten seinem damaligen
Verteidiger zur Einsicht vorgelegen. Es bestehe kein Grund zur Einräumung weiterer
Fristen.
Mit Schreiben vom 11. Januar 1992 bat der Beschwerdeführer, ihm wegen seiner
Bedürftigkeit - er sei Sozialhilfeempfänger - einen Anwalt für die Akteneinsicht zu stellen.
Die von ihm früher beauftragten Rechtsanwälte hätten ihm gegenüber keine relevanten
Akteneinsichten offenbart.
Am Tage des Eingangs dieses Schreibens bei Gericht, dem 15. Januar 1992, erging der
angefochtene Beschluß. Der Beschluß ist damit begründet, daß das Kassationsverfahren
nur eine beschränkte Überprüfung ermögliche. Diese habe keine Gesetzesverletzungen
ergeben. Die erkannte Strafe sei zwar empfindlich, aber weder unangemessen hart noch
mit rechtsstaatlichen Maßstäben unvereinbar. Die tragenden
Strafzumessungserwägungen seien im angefochtenen Urteil ausreichend dargetan. Die
Aufhebung der angefochtenen Entscheidung sei im Kassationsverfahren aus rechtlichen
Gründen nicht möglich. Einen Antrag auf Rehabilitierung habe der Beschwerdeführer
trotz mehrfacher Hinweise nicht gestellt.
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Der Antrag des Beschwerdeführers vom 11. Januar 1992 blieb unbeschieden. Von dem
Beschluß des Landgerichts Berlin vom 15. Januar 1992 wurden auf Verfügung vom 28.
Januar 1992 die notwendigen Abschriften am 30. Januar 1992 gefertigt und u.a. an den
Beschwerdeführer zur Post gegeben.
Mit seiner am 15. Mai 1992 eingegangenen Verfassungsbeschwerde gegen den
Beschluß des Landgerichts Berlin vom 15.Januar 1992 trägt der Beschwerdeführer vor,
daß der Beschluß "auf unerträgliche Weise allen rechtsstaatlichen Maßstäben"
zuwiderlaufe. er rügt, daß ihm kein Rechtsbeistand gestellt und keine "Rechtshilfe"
gewährt worden sei.
II.
1. Die frist- und formgerecht. eingelegte Verfassungsbeschwerde erfüllt die
Zulässigkeitsvoraussetzung des § 49 Abs. 1 VerfGHG, soweit der Beschwerdeführer die
Verletzung seines Rechts auf rechtliches Gehör im Kassationsverfahren rügt. Diese Rüge
ergibt sich aus dem Vorbringen des Beschwerdeführers, der sich gegen die Versagung
der Akteneinsicht und gegen die Nichtbescheidung seines Antrags auf Stellung eines
Verteidigers wendet.
Dagegen ist sein Vorbringen, daß die angefochtene Entscheidung "rechtsstaatlichen
Maßstäben" zuwiderlaufe, keine Rüge eines "in der Verfassung von Berlin enthaltenen
Rechts" (§ 49 Abs. 1 VerfGHG). Das Rechtsstaatsprinzip, zu dem sich die Verfassung von
Berlin sinngemäß schon im Vorspruch sowie nach ihrer Gesamtkonzeption bekennt (vgl.
Pfennig in Pfennig/Neumann, Verfassung von Berlin, 2. Aufl., 1987, Rdnr. 1 zum
Vorspruch; zur Herleitung des Rechtsstaatsprinzips auf der Ebene des Grundgesetzes
vgl. BVerfGE 2, 380 <403>; 52, 131 <144>), ist kein mit der Verfassungsbeschwerde
unmittelbar rügefähiges individuelles Recht (ebenso die ständige Rechtsprechung des
Bayerischen Verfassungsgerichtshofs zum in der Verfassung des Freistaates Bayern
enthaltenen Rechtsstaatsprinzips, vgl. z.B. Entscheidung vom 23. November 1980,
BayVerfGH 43, 170 <177>), sondern entfaltet Rechtsansprüche des einzelnen nur im
Zusammenhang mit anderen subjektiven Rechten.
Der Rechtsweg ist erschöpft (§ 49 Abs. 2 Satz 1 VerfGH). Dies gilt auch unter
Berücksichtigung der durch § 33a StPO eröffneten Möglichkeit sich bei einem
unanfechtbaren Beschluß nachträglich das rechtliche Gehör zu verschaffen (vgl. insoweit
BVerfGE 33, 192 <194>; 42, 243 <247 f.>).Denn der Beschwerdeführer hatte sich
bereits wenige Tage nach dem Erhalt des angefochtenen Beschlusses mit Schreiben
vom 5. Februar 1992 an das Kassationsgericht gewandt und auf sein Schreiben vom 11.
Januar 1992 Bezug genommen, in dem er um "Rechtsbeihilfe wegen Bedürftigkeit"
nachgesucht habe. Er führte aus, sowohl der erbetene Aufschub als auch die
Beantragung eines Rechtsbeistandes seien unbedingte Voraussetzung für die
Kassationsentscheidung, und schlug vor, "so zu tun", als ob er "den Beschluß nicht
erhalten habe". Die Strafkammer müsse noch einmal darüber nachdenken, ob bei der
im Kassationsverfahren angegriffenen Entscheidung nicht doch das Gesetz gebeugt
worden sei, ob man seinerzeit z.B. nicht doch zu sehr den "offensichtlich erpreßten
Aussagen" vertraut habe. Dieses Schreiben ist der Sache nach als Antrag im Sinne von
§ 33a StRO anzusehen, für den das Gesetz eine besondere Form nicht vorgeschrieben
hat (vgl. Kleinknecht/Meyer, StPO, 40. Aufl., 1991, § 33a Rdnr. 3), da es dem
Beschwerdeführer nach wie vor darum ging, die begehrte Akteneinsicht zu erlangen, um
mit ihrer Hilfe substantiiert zum Antrag der Staatsanwaltschaft Stellung nehmen zu
können. Daß auch dieser Antrag nicht beschieden worden ist, kann der Zulässigkeit der
Verfassungsbeschwerde unter dem Gesichtspunkt des Gebots der
Rechtswegerschöpfung schon deswegen nicht entgegenstehen, weil das
Kassationsgericht, dem die Verfassungsbeschwerde zur Kenntnis gegeben worden ist,
eine derartige Bescheidung offensichtlich nicht beabsichtigt.Unter diesen Umständen ist
es dem Beschwerdeführer nicht zuzumuten, sich auf das Verfahren nach § 33a StPO,
das anders als ein normales Rechtsmittel den Eintritt der Rechtskraft der angefochtenen
Entscheidung nicht hemmt, verweisen zu lassen und damit auf die Möglichkeit, die
Entscheidung des Kassationsgerichts mit der Verfassungsbeschwerde anzugreifen,
endgültig zu verzichten. Im übrigen ist zwischenzeitlich - am 4. November 1992 - das
Erste SED-Unrechtsbereinigungsgesetz vom 29. Oktober 1992 (BGBl. I S. 1814) in Kraft
getreten, dessen Artikel 1 das Strafrechtliche Rehabilitierungsgesetz (StrRehaG) enthält.
§ 27 Nr. 5 StrRehaG setzt die der angefochtenen Entscheidung zugrundeliegenden
Regeln über das Kassationsverfahren außer Kraft, wodurch eine nachträgliche
Entscheidung gemäß § 33a StPO auch rechtlich zweifelhaft geworden ist.
Die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde scheitert auch nicht daran, daß der
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Die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde scheitert auch nicht daran, daß der
Beschwerdeführer nicht versucht hat, ein Rehabilitierungsverfahren nach dem noch von
der Volkskammer der DDR erlassenen Rehabilitierungsgesetz vom 6. September 1990
(GBl. I S. 1459) durchzuführen. Zwar wäre dieses Verfahren im vorliegenden Fall in Frage
gekommen. Es war jedoch lediglich auf eine Aufhebung des Strafurteils (ohne Freispruch,
vgl. Amelung u.a. Rehabilitierung und Kassation, 1991, S. 77) im Sinne einer politisch-
moralisch begründeten Rehabilitierung (vgl. § 2 Abs. 1 des Rehabilitierungsgesetzes vom
6. September 1990), der Kassationsantrag hingegen auf einen rechtlich begründeten
Freispruch wegen einer von Anfang an rechtswidrigen Verurteilung und damit auf eine
volle Genugtuung ausgerichtet. Im Hinblick gerade auf diese Genugtuungsfunktion hat
der Einigungsvertrag in Artikel 18 Abs. 2 das Recht des Verurteilten, eine gerichtliche
Kassation zu beantragen, besonders hervorgehoben und selbständig neben der
Möglichkeit der Rehabilitierung (Artikel 17 des Einigungsvertrages) gewährleistet. Diese
im Einigungsvertrag vorgenommene Differenzierung zwischen Kassation und
Rehabilitierung ist zu respektieren, so daß es an einer Rechtfertigung dafür fehlt, dem
Beschwerdeführer das Rechtsschutzinteresse für eine verfassungsgerichtliche
Überprüfung des von ihm gewählten Kassationsverfahrens zu versagen. Im übrigen ist
auch das Rehabilitierungsgesetz der Volkskammer inzwischen durch § 27 Nr. 2 StrRehaG
aufgehoben worden.
Dem Rechtsschutzinteresse des Beschwerdeführers steht schließlich auch das neue
Strafrechtliche Rehabilitierungsgesetz nicht entgegen. Zwar kommt nach § 1 Abs. 1 Nr.
1c StrRehaG ein Antrag auf Aufhebung des Urteils des Stadtgerichts Berlin in Betracht. §
1 Abs. 6 StrRehaG läßt jedoch bei einer rechtskräftigen Entscheidung über einen
früheren Kassationsantrag einen neuen Antrag nur zu, wenn dargelegt wird, daß der
frühere Antrag nach dem neuen Gesetz Erfolg gehabt hätte. Nach den Motiven des
Gesetzgebers sollte eine erneute Antragstellung nur möglich sein, wenn das neue Recht
den Antragsteller gegenüber der vorherigen Rechtslage besserstellt (vgl. Begründung zu
§ 1 Abs. 6 Satz 2 StrRehaG im Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drs. 12/1608).
Eine gefestigte Rechtsprechung zu § 1 Abs. 6 Satz 2 StrRehaG liegt noch nicht vor. Es
geht aber nicht an, den Beschwerdeführer auf diesen von der Auslegung der genannten
Vorschrift abhängigen und infolgedessen bisher noch unsicheren Weg zu verweisen (vgl.
ebenso im Zusammenhang mit dem Wiederaufnahmeverfahren BVerfGE 11, 61 <63>;
16, 211 <712 f.>; 22, 42 <47>). Angesichts dessen genügt es für das
Rechtsschutzbedürfnis des Beschwerdeführers, daß seine Antragsberechtigung nach
dem neuen Gesetz jedenfalls nicht völlig zweifelsfrei ist.
2. Die Rüge des Beschwerdeführers, das Landgericht habe seinen nicht nur durch das
Grundgesetz, sondern auch durch die Verfassung von Berlin verbürgten Anspruch auf
rechtliches Gehör verletzt, ist begründet.
a) Das Grundrecht des rechtlichen Gehörs ist durch die Verfassung von Berlin
gewährleistet. Nach Artikel 62 VvB ist die Rechtspflege "im Geist dieser Verfassung und
des sozialen Verständnisses auszuüben". Die Verfassung von Berlin garantiert damit -
neben der in den Artikeln 63, 67 und 69 VvB enthaltenen organisatorischen Fundierung
einer unabhängigen Justiz, wie sie von Artikel 3 Abs. 1 VvB gefordert wird - eine
bestimmte Art der Ausübung von Gerichtsbarkeit. Diese soll über die bereits in Artikel 23
Abs. 1 VvB angeordnete Bindung an die Grundrechte der Verfassung von Berlin hinaus -
der Gesamtkonzeption der Verfassung einschließlich ihres Vorspruchs als
rechtstaatlicher Grundordnung entsprechen. Für ein rechtsstaatliches Gerichtsverfahren
und damit für eine Ausübung der Rechtspflege nach Maßgabe von Artikel 62 VvB ist aber
das rechtliche Gehör konstituierend und grundsätzlich unabdingbar - vom
Bundesverfassungsgericht als "das prozessuale Urrecht des Menschen " bezeichnet (vgl.
BVerfGE 55, 1 <6>)-. Es wird deshalb durch Artikel 62 VvB mit gewährleistet. Diese
Garantie des rechtlichen Gehörs erschöpft sich nicht etwa in ihrem objektiv-rechtlichen
Gehalt der im Interesse der Allgemeinheit liegenden Gewährleistung von Gerechtigkeit.
Sie impliziert vielmehr - in Ausfüllung des im Vorspruch der Verfassung von Berlin
enthaltenen Auftrags, Freiheit und Recht jedes einzelnen zu schützen (vgl. zum
Vorspruch als Auslegungsrichtlinie: Landsberg/Goetz, Verfassung von Berlin, 1951,
Erläuterung 2 zum Vorspruch) - ein entsprechendes subjektives Recht, ein
Justizgrundrecht des von der Rechtspflege Betroffenen, das mit dem in Artikel 103 Abs. 1
GG ausdrücklich hervorgehobenen Justizgrundrecht des rechtlichen Gehörs identisch ist.
Mit der Gewährleistung des rechtlichen Gehörs in Artikel 62 VvB entspricht die
Verfassung von Berlin im übrigen neben dem Rechtsstaatsprinzip dem Grundrecht auf
Unantastbarkeit der Würde des Menschen, das seinerseits, wie der
Verfassungsgerichtshof im Beschluß vom 12. Januar 1993 - VerfGH 55.92 - (NJW 1993, S.
515) dargelegt hat, von der Verfassung von Berlin verbürgt wird (zu den Grundlagen des
rechtlichen Gehörs im Rechtsstaatsprinzip und in der Gewährleistung der
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rechtlichen Gehörs im Rechtsstaatsprinzip und in der Gewährleistung der
Menschenwürde vgl. BVerfGE 9, 89 <95>; 55, 1 <6>; vgl. auch Rüping, Bonner
Kommentar, Artikel 103 Abs. 1 Rdnr. 1 ff., 12). Gerade auf diese beiden Grundlagen
bezieht sich auch der Staatsgerichtshof des Landes Hessen (Beschluß vom 13. Januar
1988, Hess StAnz, 1988, S. 1873 <1874>), der das objektive Gebot des rechtlichen
Gehörs aus dem - ungeschriebenen - Rechtsstaatsprinzip der Hessischen Verfassung
herleitet und der Garantie der Menschenwürde die Gewährleistung dieses Gebots als
Grundrecht entnimmt.
b) Das Grundrecht auf rechtliches Gehör vor Gericht verlangt, daß einer gerichtlichen
Entscheidung nur solche Tatsachen und Beweisergebnisse zugrunde gelegt werden, zu
denen Stellung zu nehmen den Beteiligten Gelegenheit gegeben war (vgl. zu Art. 103
Abs. 1 GG: BVerfGE 7, 275 <279 f.>); 18, 339 <405>; 19, 32 <36>; 55, 95 <98>. Dabei
ist dieses Recht als solches von der Ausgestaltung des Verfahrens durch die
verschiedenen Verfahrensordnungen unabhängig, gilt also auch in Verfahren mit
Untersuchungsgrundsatz (BVerfGE 7, 53 <57>; 7, 275 <281>), während seine nähere
Ausgestaltung den einzelnen Verfahrensordnungen überlassen ist (BVerfGE 9, 89 <95,
96>).
Das vom Beschwerdeführer geltend gemachte Recht auf Akteneinsicht (§ 147 StPO) und
die Regelungen über die Stellung eines Verteidigers zu deren Durchführung (§ 140 StPO,
vgl. Kleinknecht/Meyer, StPO, 40. Auflage 1991, § 140 Rdnr. 27; vgl. auch § 364a StPO)
sind vom Gesetzgeber im Rahmen des Strafprozesses vorgesehene Ausprägungen des
verfassungsgerichtlichen Gebots des rechtlichen Gehörs (zu § 147 StPO vgl. BVerfGE 18,
399 <405>; vgl. auch Rüping, Bonner Kommentar, Artikel 103 Abs. 1 Rdnr. 29). Daß
weder das eine noch das andere dem Beschwerdeführer gewährt wurde, beruht
allerdings auf der Auslegung und Anwendung von Bundesrecht. Dennoch kann die unter
diesen Bedingungen zustande gekommene Entscheidung des Landgerichts Berlin
insoweit vom Verfassungsgerichtshof am Maßstab des von der Verfassung von Berlin
übereinstimmend mit dem Grundgesetz verbürgten Gebots des rechtlichen Gehörs
überprüft werden (vgl. in diesem Zusammenhang den Beschluß des
Verfassungsgerichtshofs des Landes Berlin vom 23. Dezember 1992 - VerfGH 38/92 -
NdW 1993, S. 513; bei Verfahrensgrundrechten ebenso die ständige Rechtsprechung
des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs, z.B. Entscheidung vom 14. Februar 1992, -
BayVBl. 1992, S. 700). Denn vorliegend geht es nicht um den Vorwurf, Bundesrecht
verstoße als solches gegen das Gebot des rechtlichen Gehörs, sondern um die Rüge,
daß bei der Anwendung der maßgeblichen Vorschriften der Strafprozeßordnung dagegen
verstoßen worden ist.
c) Das Landgericht hat bei dem von ihm gewählten Verfahrensgang die Bedeutung des
rechtlichen Gehörs verkannt und dem Beschwerdeführer die Möglichkeit einer effektiven
Stellungnahme zum Verfahren - insbesondere zum Antrag der Staatsanwaltschaft -
vorenthalten, obwohl es ihm diese nach der Strafprozeßordnung auf verschiedene Weise
hätte gewähren können. Eine Verletzung dieses Gebots ist nicht etwa deswegen zu
verneinen, weil der Antrag des Beschwerdeführers auf Stellung eines Rechtsanwalts erst
am 15. Januar 1992 bei Gericht eingegangen ist. Zwar ist aus den Akten nicht ersichtlich,
ob der Beschluß des Landgerichts vom selben Tage zeitlich vor oder nach dem Eingang
des Schreibens des Beschwerdeführers unterschrieben worden ist. Darauf kommt es
jedoch auch nicht an, da erst am 30. Januar 1992 auf Verfügung vom 28. Januar 1992 hin
die notwendigen Abschriften gefertigt und u.a. an den Beschwerdeführer zur Post
gegeben worden sind. Bis zu diesem Zeitpunkt eingehende Schriftsätze hätten im
Rahmen der Gewährung rechtlichen Gehörs noch berücksichtigt werden müssen, da der
im schriftlichen Verfahren erlassene Beschluß noch nicht wirksam geworden war (vgl. in
diesem Zusammenhang auch Beschluß des BVerfG vom 4. August 1992, NJW 1993, S.
51). Auf ein Verschulden des Gerichts kommt es hierbei nicht an (siehe dazu u.a.
BVerfGE 46, 185 <188>; 48, 394 <395/396>; 53, 219 <223>).
Der Antrag des Beschwerdeführers vom 11. Januar 1992 war im Hinblick auf dessen
rechtliches Gehör erheblich und hätte beschieden werden müssen. Zwar hatte sein
früherer Prozeßbevollmächtigter im Juli 1990 - d.h. noch vor dem Einigungsvertrag -
Gelegenheit gehabt, die Akten einzusehen. Der Beschwerdeführer machte aber geltend,
sein früherer Anwalt, zu dem er das Vertrauen verloren und von dem er sich bereits
Ende 1990 getrennt hatte, habe ihm gegenüber keine "relevante Akteneinsicht"
offenbart.Mit der in der Verfügung das Vorsitzenden des Kassationsgerichts vom 3.
Januar 1992 angeführten Gelegenheit zur Akteneinsicht durch seinen früheren
Verteidiger im Juli 1990 konnte dem Anspruch des Beschwerdeführers auf rechtliches
Gehör deshalb nicht genügt werden. Im übrigen erschöpft sich das Grundrecht auf
rechtliches Gehör nicht darin, dem Betroffenen die Gelegenheit zu gewährleisten, daß er
im Verfahren überhaupt gehört wird, sondern gewährleistet die Gelegenheit, sich zu dem
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im Verfahren überhaupt gehört wird, sondern gewährleistet die Gelegenheit, sich zu dem
der Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt zu äußern, also grundsätzlich zu jeder
dem Gericht zur Entscheidung unterbreiteten Stellungnahme der Gegenseite, der
Hinweis auf eine in einem früheren Stadium des Verfahrens gewahrte Akteneinsicht geht
deshalb fehl (vgl. BVerfGE 19, 33 <36>). Denn zwischenzeitlich lag der Antrag der
Staatsanwaltschaft vom 10. Dezember 1991 vor, den Kassationsantrag durch Beschluß
entsprechend § 349 Abs. 2 StPO als offensichtlich unbegründet zu verwerfen, zu dessen
Begründung u.a. angeführt worden war, die Überprüfung des Strafverfahrens habe
keinen den Verurteilten beschwerenden schwerwiegenden Rechtsfehler im Hinblick auf
das Zustandekommen des Schuldspruchs erbracht, insbesondere seien Anhaltspunkte
dafür daß es sich bei dem Schuldspruch um reine, unter Verletzung grundlegender
Verfahrensvorschriften zustande gekommene Willkürentscheidungen handeln könnte,
nicht ersichtlich. Hierdurch entstand für den Beschwerdeführer erneut Veranlassung,
sich mit dem Akteninhalt auseinanderzusetzen, zumal es nachvollziehbar ist, daß er
zunächst davon ausging, sein Kassationsantrag werde aus materiellen Gründen Erfolg
haben, weil er rechtsstaatswidrig wegen politischer Meinungsäußerungen und zudem
unverhältnismäßig hart bestraft worden sei. Dem Begehren des Beschwerdeführers
hatte das Landgericht auch ungeachtet der Zwei-Wochen-Frist des § 349 Abs. 2 Satz 2
StPO entsprechen können, da es sich dabei nicht um eine Ausschlußfrist handelt (vgl.
Kleinknecht/Meyer, Strafprozeßordnung, 40. Auflage 1991, § 349 Rdnr. 17) und im
übrigen auch keine rechtliche Notwendigkeit bestand, ohne mündliche Verhandlung über
den Kassationsantrag in Anwendung von § 349 StPO zu entscheiden. Die Unterlassung
des Landgerichts war also nicht etwa durch Regeln des Prozeßrechts geboten.
Im Hinblick auf das Grundrecht des rechtlichen Gehörs hätte das Landgericht dem
Beschwerdeführer ermöglichen müssen, die Ermittlungsakten kennenzulernen. Der
Beschwerdeführer hatte zur Erläuterung seines Kassationsantrages lediglich Kopien der
Anklageschrift und des Urteils des Stadtgerichts Berlin, jedoch nicht einmal die von ihm
gefertigten Originalkunstwerke zur Verfügung, die sich aufgrund der nach wie vor
rechtskräftigen Verurteilung und Einziehung aus dem Jahre 1979 in den 20 Beiakten des
Verfahrens befinden. Insbesondere zur Wahrnehmung des Rechts auf Beseitigung von
DDR-Unrecht kann es sich im Einzelfall als erforderlich erweisen, dem seinerzeit
Verurteilten eine Kenntnis von allen Unterlagen zu geben, die zu der Anklageerhebung
geführt haben. Eine Einsichtnahme in die Strafverfahrensakten der DDR erscheint dabei
dann in besonderem Maße notwendig, wenn es sich - wie hier - um eine eindeutige und
ausschließliche Verurteilung nach dem politischen Strafrecht handelt: Solche Verfahren
wurden vom Ministerium für Staatssicherheit vorbereitet, dessen
"Untersuchungsorgane" gemäß § 88 Abs. 2 Nr. 2 StPO/DDR zu den staatlichen
Untersuchungsorganen für das Ermittlungsverfahren gehörten. In solchen Fällen wurden
den Verurteilten nicht einmal die Urteile zugestellt, sondern "mündlich zur Kenntnis
gebracht" (vgl. die entsprechende Möglichkeit nach § 184 Abs. 5 in Verbindung mit § 211
Abs. 3 StPO/DDR). Unter diesem Blickwinkel verstößt die Nichtinformation des
Beschwerdeführers - sei es durch Überlassung von Kopien wesentlicher Teile der Akten ,
sei es durch Stellung eines Rechtsanwalts entsprechend § 140 Abs. 2 StPO oder § 364a
StPO (vgl. Amelung u.a., Rehabilitierung und Kassation, 1991, S. 179 ff.), sei es durch
Gewährung direkter Akteneinsicht im Hinblick darauf, daß es sich nicht um
Ermittlungsakten aus einem aktuellen rechtsstaatlichen Ermittlungsverfahren, sondern
um ein von DDR-Behörden geführtes, längst abgeschlossenes Verfahren handelt, so daß
das Schutzgut der Unversehrtheit der Akten und Beweismittel (vgl. OLG Zweibrücken,
NJW 1977, S. 1699 zur Akteneinsicht im Beisein eines Verteidigers) dadurch relativiert
wird - gegen das verfassungsrechtliche Gebot des rechtlichen Gehörs aus Artikel 103
Abs. 1 GG und - für den Verfassungsgerichtshof maßgeblich - aus Artikel 62 VvB.
d) Die Entscheidung des Landgerichts beruht auch auf der Verletzung des Gebots des
rechtlichen Gehörs. Denn es kann nicht ausgeschlossen werden, daß die Entscheidung
über den Kassationsantrag zugunsten des Beschwerdeführers ergangen wäre, wenn er
mit Hilfe von Akteneinsicht zu dem seinerzeit gegen ihn gerichteten Verfahren hätte
Stellung nehmen können. In seinem Schreiben vom 5. Februar 1992, das das
Landgericht nach § 33a StPO hätte bescheiden müssen, hat der Beschwerdeführer von
offensichtlich erpreßten Aussagen gesprochen, die seiner Verurteilung zugrunde gelegt
worden seien. Einen derartigen Vorwurf hätte er möglicherweise mit Hilfe der
Akteneinsicht konkretisieren können, was gegebenenfalls zur Folge gehabt hätte, daß
das Kassationsgericht eine "schwerwiegende Verletzung des Gesetzes" im Sinne von §
311 Abs. 2 Nr. 1 StPO/DDR angenommen hätte (vgl. dazu Amelung u.a., a.a.O. S. 185).
Da die Verfassungsbeschwerde mit Rücksicht auf das Gebot des rechtlichen Gehörs
Erfolg hat, bedarf es keiner Prüfung, ob mit der Wertung des Landgerichts Berlin, die
gegen den Beschwerdeführer verhängte Strafe sei "weder unangemessen hart noch mit
rechtsstaatlichen Maßstäben unvereinbar", weitere Rechte des Beschwerdeführers aus
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rechtsstaatlichen Maßstäben unvereinbar", weitere Rechte des Beschwerdeführers aus
der Verfassung von Berlin verletzt sein können und ob insoweit eine den gesetzlichen
Anforderungen des § 50 VerfGHG genügende Rüge vorliegt.
III.
Erweist sich die Verfassungsbeschwerde gegen eine Entscheidung als begründet, hebt
der Verfassungsgerichtshof sie gemäß § 54 Abs. 3 VerfGHG auf. Die Sache wird in
entsprechender Anwendung des § 95 Abs. 2 BVerfGG an das Landgericht Berlin
zurückverwiesen, das nach dem zwischenzeitlichen Inkrafttreten des Ersten Gesetzes
zur Bereinigung von SED-Unrecht in eigener Zuständigkeit zu prüfen hat, nach welchen
Verfahrensvorschriften über das sachliche Begehren des Beschwerdeführers auf
Aufhebung des seinerzeitigen Urteils nunmehr zu entscheiden ist.
Die Entscheidung über die Gerichtskosten folgt aus §§ 33, 34 VerfGHG.
Dieser Beschluß ist unanfechtbar.
Abweichende Meinung
Abweichende Meinung 1:
Wir halten die Verfassungsbeschwerde für unzulässig, weil es - 1. - am
Rechtsschutzinteresse fehlt und - 2. - die Verfassung von Berlin das von der Mehrheit als
verletzt angesehene Grundrecht auf rechtliches Gehör in Entsprechung zu Art. 103 Abs.
1 GG nicht verbürgt.
1. Die Verfassungsbeschwerde ist nach unserer Meinung unzulässig, ihr fehlt das
Rechtsschutzinteresse.
Schon zur Zeit der angegriffenen Entscheidung des Landgerichts im Januar 1992 und der
Einlegung der Verfassungsbeschwerde im Mai 1992 stand dem Beschwerdeführer mit
dem noch von der Volkskammer der DDR erlassenen Rehabilitierungsgesetz vom 6.
September 1990 (GBl. I S. 1459) ein geeigneter und zumutbarer anderer Weg zur
Verfügung, um das Verfahrensziel der Aufhebung des rechtskräftigen Urteils des
Stadtgerichts Berlin vom 25. Januar 1979 und damit der Beseitigung seiner rechtlichen
Wirkungen und zur Freimachung des Weges für soziale Ausgleichsleistungen zu
erreichen. Nach § 3 Abs. 2 Nr. 1 dieses Gesetzes fielen darunter insbesondere auch
Verurteilungen nach Strafbestimmungen des 2. Kapitels des Besonderen Teils des DDR-
Strafgesetzbuchs, die wie im Falle des Beschwerdeführers darauf beruhten, daß der
Betroffene in Wahrnehmung verfassungsmäßiger politischer Grundrechte politischen
Widerspruch in Wort und Schrift oder durch friedliche Demonstrationen oder
Zusammenschlüsse erhoben hatte. In dem angegriffenen Beschluß des
Kassationsgerichts vom 15. Januar 1992 wird der Beschwerdeführer auf den Weg
verwiesen, "im Wege der Rehabilitierung eine Aufhebung der Urteile und einen Freispruch
zu erwirken". Die Antragsfrist nach dem früheren Rehabilitierungsgesetz war noch nicht
abgelaufen, und die ablehnende Entscheidung des Kassationsgerichts bildete auch kein
rechtliches Hindernis für die Erfolgsaussicht eines Rehabilitierungsantrags.
Diese Situation besteht im übrigen bis heute unverändert fort, da das
Rehabilitierungsgesetz der Volkskammer vom 6. September 1990 ebenso wie die alte
Kassationsregelung nunmehr durch das Strafrechtliche Rehabilitierungsgesetz -
StrRehaG - vom 29. Oktober 1992 unter Einführung einer neuen Antragsfrist bis zum 31.
Dezember 1994 abgelöst worden ist. Auf einen entsprechenden Antrag des
Beschwerdeführers wäre die wegen sog. "staatsfeindlicher Hetze" nach § l06 Abs. 1 Nr. 1
und 3 und Abs. 2 DDR-StGB erfolgte Verurteilung nunmehr von der
Rehabilitierungskammer des Landgerichts Berlin für rechtsstaatswidrig zu erklären und
aufzuheben (§ 1 Nr. 1c StrRehaG). Die verwerfende Entscheidung vom 15. Januar 1992 in
dem vorangegangenen Kassationsverfahren bildet kein Zulässigkeitshindernis im Sinne
von § 1 Abs. 6 Satz 1 StrRehaG, weil der Beschwerdeführer dort gerade auf den Weg der
Rehabilitierung verwiesen worden war. Im übrigen liegt zweifelsfrei die in § 1 Abs. 3 Satz 2
StrRehaG bezeichnete Fallgestaltung vor, daß der frühere Antrag nach den Vorschriften
dieses Gesetzes Erfolg gehabt hätte". Damit steht fest, daß das Rechtsschutz bedürfnis
selbst dann, wenn es ursprünglich bestanden hätte, jedenfalls mit Inkrafttreten des
Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetzes entfallen wäre.
Möglicherweise ist der Entschluß des Beschwerdeführers zur Anrufung des
Verfassungsgerichtshofs dadurch mit veranlaßt worden, daß in den Gründen des
angegriffenen Beschlusses die unglückliche Formulierung enthalten ist, die erkannte
Strafe sei "weder unangemessen hart noch mit rechtsstaatlichen Maßstäben
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Strafe sei "weder unangemessen hart noch mit rechtsstaatlichen Maßstäben
unvereinbar". Eine die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde eröffnende
Rechtsverletzung im Sinne von § 49 Abs. 1 VerfGHG kann durch den Inhalt der Gründe
nur dann in Betracht kommen, wenn eine evidente und schwere Beeinträchtigung von
Persönlichkeitsrechten vorliegt und insbesondere jeder funktionale Bezug der
betreffenden verbalen Kundgebung mit den dem Gericht im konkreten Fall obliegenden
Aufgaben fehlt (vgl. Jakobs, JZ 1971, 279 ff., 283 mit Nachw.). Ein solcher Eingriff durch
die Art der Begründung steht hier nicht in Rede. Nach dem Zusammenhang der Gründe
hat das Kassationsgericht nicht etwa die Billigung von SED-Unrechtsmaßnahmen zu
Lasten des Beschwerdeführers aussprechen wollen. Mit dem ausdrücklichen Hinweis auf
die Erfolgsaussicht eines Rehabilitierungsantrags hat das Landgericht vielmehr erkennen
lassen, daß es die der Verurteilung zugrundeliegenden Handlungen als Wahrnehmung
verfassungsmäßiger politischer Grundrechte im Sinne des § 3 Abs. 1 DDR-RehaG
ansehe.
2. Die Auffassung der Mehrheit, die Verfassung von Berlin beinhalte ein dem Art. 103
Abs. 1 GG entsprechendes Grundrecht, halten wir für unzutreffend. ein derartiges
Grundrecht ist weder dem Abschnitt II ("Die Grundrechte") noch dem Abschnitt VII ("Die
Rechtspflege") der Verfassung von Berlin zu entnehmen. Dabei ist vorab zu betonen,
daß ein durch die Auslegung der Verfassung von Berlin ermittelter Befund, ein
bestimmtes bundesrechtlich verbürgtes Grundrecht, finde hier keine Entsprechung, nicht
mit der Erwägung infrage gestellt werden könnte, ein derartiger Befund führe zu
rechtsstaatlich nicht hinnehmbaren Ergebnissen bzw. attestiere der Verfassung von
Berlin einen gegenüber dem Grundgesetz oder auch anderen Landesverfassungen
zurückbleibenden Grad an Rechtsstaatlichkeit - was wiederum der Berliner
Verfassungsgeber nicht gewollte haben könne. Solche Überlegungen sind nicht
tragfähig. Die Auffindung eines im Grundgesetz enthaltenen Grundrechts auch in der
Verfassung von Berlin bedeutet nicht eine Ausweitung des materiellen
Grundrechtsschutzes, sondern hat lediglich zur Konsequenz, dem Bürger zusätzlichen,
angesichts der Möglichkeit der Verfassungsbeschwerde nach Bundesrecht ggf.
alternativen Rechtsschutz (vgl. § 49 Abs. 1 VerfGHG) zu eröffnen (s. dazu Friesenhahn
in: Starck, Hrsg., Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, Erster Band, 1976, 784,
765; Bartisperger, DVBl. 1993, 333, 348).
a) Der Abschnitt VII der Verfassung von Berlin betrifft "Die Rechtspflege". Er beinhaltet
objektiv-rechtliche Anordnungen (wie z.B. die Garantie einer unabhängigen Rechtspflege,
Art. 63 Abs. 1 VvB), organisatorische Bestimmungen (wie diejenige über die Ernennung
der Berufsrichter, Art. 63 VvB), aber auch subjektive, demzufolge mit der
Verfassungsbeschwerde rügefähige Recht. Zu den letzteren, welche vorliegend allein
interessieren können, zählt ein Grundrecht auf rechtliches Gehör nicht. Die Verfassung
von Berlin prägt das fundamentale Interesse des einzelnen, sich vor Gericht Gehör zu
verschaffen, subjektiv- rechtlich lediglich als ein Recht aus, sich eines Strafverteidigers
zu bedienen (Art. 65 Abs. 1 VvB) und erreicht damit eine den - zusätzlichen -
landesverfassungsgerichtlichen Rechtsschutz ermöglichende Doppelverbürgung nur für
einen Teilbereich der bundesrechtlichen Bestimmung des Art. 103 Abs. 1 GG, mag über
letztere insoweit möglicherweise sogar hinausgehen. Die ausdrückliche Beschränkung
des Art. 65 Abs. 1 VvB in Gegenstand und Anspruchsinhalt schließt ein Verständnis
dieser Bestimmung als Sitz eines allgemeinen verfassungsrechtlichen Anspruchs auf
rechtliches Gehör aber aus.
Die Mehrheit des Verfassungsgerichtshofs meint, auch Art. 62 VvB als subjektives Recht
ansprechen zu können. Das ist nicht haltbar. Der Wortlaut der Vorschrift, die im
Schrifttum als "Verhaltensregel" oder "Erinnerung" an den Richter bezeichnet worden ist
(s. Pfennig, in: Pfennig/ Neumann, Verfassung von Berlin, 2. Aufl., 1937, Art. 62 Rdn. 2,
3), steht dem ebenso entgegen wie ihre systematische Stellung. Art. 62 VvB eröffnet
den VII. Abschnitt der Verfassung von Berlin allgemeinen Sinnes und wird in den
nachfolgenden Bestimmungen, wie an den oben bereits erwähnten Beispielen gezeigt,
funktionell unterschiedlich konkretisiert. Keineswegs ist Art. 62 VvB geeignet, selbst als
Grundlage "des" Individualrechts auf rechtliches Gehör zu dienen. Er mag zur Auslegung
anderer Normen beitragen, kann aber über deren Fehlen nicht hinweghelfen,
insbesondere auch nicht die Begrenzung des Art. 65 Abs. 1 VvB auf die
Strafverteidigung überwinden.
b) Aus dem II. Abschnitt der Verfassung von Berlin kommt ernsthaft nur Art. 6 Abs. 1 S.
1 als Grundlage des Gehöranspruchs in Betracht, den die von der Mehrheit des
Verfassungsgerichtshofs beschlossenen Entscheidungsgründe nicht heranziehen, den
allerdings der Richter Körting ausweislich seines Sondervotums vorliegend als verletzt
ansieht. Auch dieser Auffassung folgen wir nicht. Die genannte Bestimmung trifft - wie
der Verfassungsgerichtshof bereits mehrfach entschieden hat (vgl. z.B. den Beschluß
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der Verfassungsgerichtshof bereits mehrfach entschieden hat (vgl. z.B. den Beschluß
vom 23. Februar 1993 - VerfGH 43/92 -, Umdruck S. 5 f.) - eine dem Art. 3 Abs. 1 GG
vergleichbare Aussage, wobei hier dahinstehen kann, ob beide Grundrechte gänzlich
identisch sind. Das Verhältnis zwischen dem Gehöranspruch und dem allgemeinen
Gleichheitssatz ist in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 103
Abs. 1 GG bzw. Art. 3 Abs. 1 GG nicht eindeutig bestimmt worden, insbesondere wurde
offensichtlich teilweise das erstgenannte, teilweise das zweitgenannte Grundrecht als
das jeweils "speziellere" Grundrecht betrachtet (vgl. zu den Schwankungen der
Rechtsprechung und zu Divergenzen auch zwischen beiden Senaten des
Bundesverfassungsgerichts eingehend Mauder, Der Anspruch auf rechtliches Gehör,
seine Stellung im System der Grundrechte und seine Auswirkung auf die
Abgrenzungsproblematik zwischen Verfassungs- und Fachgerichtsbarkeit, 1986, 45 ff.
mit zahlr. Nachw.). Das rührt auch daher, daß der allgemeine Gleichheitssatz einerseits
als Verbot willkürlicher Differenzierung, andererseits und darüber hinaus als ein Anspruch
gegenüber allen staatlichen Gewalten auf an materieller Gerechtigkeit orientiertes
Handeln verstanden wird (vgl. nur BVerfGE 42, 64, 73; s. auch BayVerfGH, NJW 1985,
1096). Es besteht kein Anlaß, dem im einzelnen nachzugehen. Zwar läßt sich gewiß
sagen, daß die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts dem allgemeinen
Gleichheitssatz Anwendungsfelder für die Überprüfung der Willkürfreiheit gerichtlicher
Verfahren erschlossen hat, die außerhalb der Garantie des rechtlichen Gehörs liegen
(vgl. Gubelt, in: v. Münch/Kunig, Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 4. Aufl., 1992, Art. 3
Rdn. 43 ff.), doch ist auch danach die letztere nicht etwa noch zusätzlich im
Gleichheitssatz verankert (zutreffend etwa Kopp, AöR 106, 1981, 604, 611; s. dazu auch
Dörr, Faires Verfahren, 1984, 127). Dafür besteht auch nach Berliner Verfassungsrecht,
also für Art. 6 Abs. 1 S. 1 VvB, kein Anlaß, dies ungeachtet des Umstandes, daß Art. 65
Abs. 1 VvB inhaltlich - wie gezeigt - hinter Art. 103 Abs. 1 GG zurückbleibt. Denn die
hierin zum Ausdruck kommende Entscheidung des Berliner Verfassungsgebers, das
Gehörrecht nur in einem Teilbereich grundrechtlich zu verbürgen, darf nicht dadurch
beiseite geschoben werden, daß eine aus dem Willkürverbot gewonnene und sich sodann
verselbständigende Gerechtigkeitsformel entdifferenzierend zu einer vom
Verfassungsgeber nicht vorgesehene Ausweitung des Grundrechtsschutzes führt.
c) Das bisher gefundene Ergebnis kann auch nicht dadurch modifiziert werden, daß aus
einer Zusammenschau einzelner Grundrechte der Verfassung von Berlin der Rückschluß
auf ein ungeschriebenes, gleichsam durch Gesamtanalogie getragenes Grundrecht auf
rechtliches Gehör gewonnen würde, wie es die Mehrheit wohl anklingen läßt, wenn sie
unter Ziff. II 2a die von "Freiheit und Recht jedes einzelnen" handelnde Präambel der
Verfassung von Berlin, "im übrigen" das (freilich rein objektiv-rechtliche) allgemeine
Rechtsstaatsprinzip, dazu noch den Grundsatz der Unverletzlichkeit der Menschenwürde
(dazu u. d) anspricht. Die Auffindung ungeschriebener Grundrechte ist allerdings auch
der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht fremd, wie insbesondere die
Herausbildung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts und des auf diesem gründenden
Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung gezeigt hat, doch entbindet dies
nicht von dem Erfordernis einer angeschriebenem Recht orientierten Ableitung. Insofern
ist nicht bereits der Umstand ausreichend, daß (auch) die Verfassung von Berlin durch
zahlreiche Grundrechte das Bestreben zeigt, Gerechtigkeit für den einzelnen durch
Verbürgung subjektiver Rechte zu erreichen; als Ableitungsgesichtspunkte kommen
vielmehr nur jeweils Einzelverbürgungen infrage (wie auf Bundesebene bei dem
allgemeinen Persönlichkeitsrecht Art. 2 Abs. 1 und Art. 1 Abs. 1 GG; vgl. in diesem
Zusammenhang Jarass, NJW 1989, 857). Daß die in der Verfassung von Berlin
enthaltenen Grundrechte zwingend nach ihrer eigenen landesverfassungsrechtlichen
Ergänzung durch ein über insbesondere Art. 65 Abs. 1 VvB hinausführendes Grundrecht
auf rechtliches Gehör verlangten, kann nicht angenommen werden.
d) Schließlich ergibt sich auch aus dem Zusammenhang zwischen dem Bundes- und
dem Landesverfassungsrecht kein anderes Ergebnis. Das Grundgesetz und die
Verfassungen der Länder stehen zwar keineswegs beziehungslos nebeneinander, auch
können verfassungsrechtliche Weichenstellungen des Bundes unmittelbar das
Landesverfassungsrecht mitgestalten. Der Verfassungsgerichtshof hat daraus in einer
früheren Entscheidung (v. 12. Januar 1993 - 55/92 -, DVBl. 1993, 368) hergeleitet, daß
ein dem Art. 1 Abs. 1 GG entsprechendes ungeschriebenes Grundrecht auch im Berliner
Verfassungsrecht gelte. Er hat in diesem Zusammenhang aber hervorgehoben, daß Art.
1 Abs. 1 GG, im Gegensatz zu jedem anderen Grundrecht, in Art. 79 Abs. 3 GG
ausdrücklich angesprochen und für verfassungsänderungsfest erklärt worden ist. Der
Schutz der Menschenwürde steht einzig da unter den Grundrechten. Der
Menschenwürdeschutz ist konstituierendes Element moderner deutscher Staatlichkeit
(s. dazu Häberle, in : Isensee/Kirchhof, Hrsg., Handbuch des Staatsrechts, Bd. 1, 1987, 6
29 Rdn. 57), Einzelgrundrechte tragen zu ihrer Ausgestaltung bei (s. zur herausragenden
Stellung des Menschenwürdeschutzes gegenüber allen anderen Grundrechten ferner
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Stellung des Menschenwürdeschutzes gegenüber allen anderen Grundrechten ferner
etwa BVerfGE 45, 187, 227; Starck, JZ 1981, 457; Kunig, in: v. Münch/Kunig, aaO., Art. 1
Rdn. 4 bis 6). Auf Art. 103 Abs. 1 GG ist der Gedanke des "Hineinwirkens" des
Grundgesetzes in das Landesverfassungsrecht nicht übertragbar.
e) Auch landesverfassungsrechtlich verbürgter Individualrechtsschutz der
Menschenwürde selbst vermag nicht zu begründen, daß landesverfassungsrechtlich ein
dem Art. 103 Abs. 1 GG vergleichbares Grundrecht in Geltung wäre, Insbesondere auch
der in diesem Zusammenhang von der Mehrheit des Verfassungsgerichtshofs
zustimmend, aber angesichts der angenommenen Einschlägigkeit des Art. 62 VvB wohl
ergänzend erwähnte Beschluß des Staatsgerichtshofs des Landes Hessen vom 13.
Januar 1938 (HessStAnz 1988, 1873, 1874), mit dem der Staatsgerichtshof seine
frühere abweichende Auffassung korrigiert hat, bietet keine tragfähige Begründung für
die dort offenbar angenommene Gleichsetzung der Grundrechte auf den Schutz der
Menschenwürde und auf rechtliches Gehör. Die von dem Staatsgerichtshof zum Beleg
angeführten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts tragen diese Meinung
nicht. Dort wird Art. 103 Abs. 1 GG u.a. als ein "prozessuales Urrecht" bezeichnet, auch
als "objektiv-rechtliches Verfassungsprinzip" (so jeweils BVerfGE 55, 1, 6 und E 70, 180,
188), doch geht es jeweils um die Auslegung des Art. 103 Abs. 1 GG bzw. seine
Auswirkungen auf das einfache Gesetzesrecht. Auch wenn - bundesrechtlich Art. 1 Abs.
1 GG zur Auslegung von Art. 103 Abs. 1 GG herangezogen werden mag, heißt das nicht,
daß die erstgenannte Norm bereits den vollen Inhalt der zweitgenannten in sich berge.
Die Redeweise vom "Urrecht", derer sich auch die Mehrheit des Verfassungsgerichtshofs
bedient, kann das nicht überspielen. Und nicht alles, was der Achtung und Würde des
Menschen "dient" (so der Staatsgerichtshof, aaO.), ist bereits deshalb auch in den
Schutzbereich des Art. 1 Abs. 1 GG bzw. landesverfassungsrechtlicher Entsprechungen
einzubeziehen.
Gewiß ist der Zusammenhang zwischen der Qualität gerichtlichen Rechtsschutzes,
insbesondere "der aktiven Teilnahme des Bürgers an den ihm zukommenden
Rechtsschutz", und dem Grundsatz, "daß über die Rechte des einzelnen nicht
kurzerhand von Obrigkeits wegen verfügt werden darf" (BVerfGE 38, 105, 114),
offensichtlich (s. etwa auch Badura, JZ 1964, 337, 342). Es ist auch durchaus vorstellbar,
daß die Verweigerung rechtlichen Gehörs sich in einzelnen Fallgestaltungen als
verfassungswidrige Herabwürdigung des einzelnen zum Objekt staatlichen Handelns
darstellen mag (worauf im vorliegend zu entscheidenden Fall nichts deutet), doch kann -
bundesrechtlich - keine Rede davon sein, daß Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 103 Abs. 1 GG
identisch sind; hiervon unterscheidet sich die Rechtslage nach dem Berliner
Verfassungsrecht nicht.
Abweichende Meinung 2:
Ich halte die Verfassungsbeschwerde wegen fehlenden Rechtsschutzbedürfnisses für
unzulässig und folge insoweit den Ausführungen unter 1 in dem Sondervotum der
Richter D. und K.
Abweichende Meinung 3:
Ich schließe mich dem Sondervotum der Richter D. und K. insoweit an, als der
Verfassung von Berlin ein mit der Verfassungsbeschwerde geltend machbares
subjektives Recht im Sinne des § 49 Abs. 1 VerfGHG auf rechtliches Gehör nicht zu
entnehmen ist. Die Verfassungsgeber der Verfassung von Berlin haben sich, wie aus der
Gesamtkonzeption zu entnehmen ist, bei den Grundrechten, aber auch bei anderen
Regelungen wie der über die Rechtspflege, darauf beschränkt, das zu regeln, was ihnen
aus der konkreten historischen Situation wichtig erschien. Das wird zusätzlich durch die
Entstehungsgeschichte belegt. Der Vorsitzende des Verfassungsausschusses der
Stadtverordnetenversammlung hat als Berichterstatter bei der zweiten Beratung der
Verfassung von Berlin am 22. März 1948 vorgetragen, daß "alle Parteien bei den
Beratungen des Verfassungsausschusses übereingekommen" sind, "sich auf jene
unabänderlichen Grundrechte zu beschränken, die den Kern der Grundrechtserklärung in
der Französischen Revolution ausgemacht haben" (vgl. Reichhardt, Die Entstehung der
Verfassung von Berlin, Band II, Berlin 1990, Dok, 146, S. 1521). Diese Beschränkung
schließt nicht aus, in einer bestimmten historischen Situation formulierte Grundrechte
heute zu interpretieren. Es schließt aber aus, die bewußte Beschränkung auf wenige
Grundrechte durch Hineininterpretation zusätzlicher Rechte zu durchbrechen. Anders als
bei dem Recht auf Achtung der Würde des Menschen, das vom Verfassungsgerichtshof
aus der Gesamtkonzeption der Grundrechte und auch aus der Entstehungsgeschichte
abgeleitet wurde, gibt es für den Anspruch auf rechtliches Gehör keinen Ansatz in den
Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten der Verfassung von Berlin.
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Damit tritt in einem Bundesstaat, in dem die Grundrechte der Landesverfassung neben
den Verbürgungen der Bundesverfassung ohnehin nur eine begrenzte Wirkung entfalten,
auch keine Verkürzung der Rechtsstellung für die Bürger eines Landes ein, dessen
Verfassung keine oder weniger Grundrechte enthält als die Bundesverfassung. Die
Bundesverfassung und ihre Garantien gelten uneingeschränkt und uneinschränkbar in
jedem Land. Die landesverfassungsrechtlich garantierten Grundrechte entfalten Wirkung
nur als zusätzliche bzw. Doppelsicherung.
Im Ergebnis folge ich der von der Mehrheit getragenen Entscheidung. Ich halte die
Verfassungsbeschwerde für zulässig und wegen Verletzung des (auch) durch die
Verfassung von Berlin grundrechtlich verbürgten Anspruchs auf Waffengleichheit im
Prozeß für begründet.
Die Verfassung von Berlin verbürgt übereinstimmend mit dem Grundgesetz des
Grundrecht auf Gleichheit vor dem Gesetz, Art. 6 Abs. 1 Satz 1 VvB. Der
Gleichbehandlungsgrundsatz nach Art. 6 Abs. 1 Satz 1 VvB stellt nicht etwa lediglich eine
der Regelung des Art. 3 Abs. 2 GG vergleichbare Vorschrift dar. Vielmehr liegt darin nach
dem sachlichen Regelungsgehalt die umfassende Gleichheitsgarantie für alle Menschen
mit demselben Umfang wie die Verbürgung in Art. 3 Abs. 1 GG und damit auch in der
materiellen Ausprägung als Willkürverbot (vgl. das Urteil VerfGH 24/92 vom 19. Oktober
1992, Umdruck S. 14/16, sowie den Beschluß VerfGH 53/93 vom 17. Februar 1993,
Umdruck S. 3). Jedenfalls im Strafprozeß ist die grundsätzliche Waffengleichheit im
Verfahrensverlauf ein verfassungsrechtlich gebotenes Erfordernis des Gleichheitssatzes
(vgl. Dürig in Maunz-Dürig u.a., Grundgesetz, Art. 3 Abs. 1 Rdnr. 50) und des
Rechtsstaates, zu dem sich auch die Verfassung von Berlin bekennt (vgl. Pfennig in
Pfennig/Neumann, Die Verfassung von Berlin, 2. Aufl., Rdnr. 1 zum Vorspruch).
Dementsprechend hat auch das Bundesverfassungsgericht die "Waffengleichheit" als
Ausprägung der Rechtsstaatlichkeit und des allgemeinen Gleichheitssatzes angesehen,
wenn auch im Zivilprozeß mit Einschränkungen (BVerfGE 52, 131/156 und die noch
weitergehende abweichende Meinung der Minderheit BVerfGE 52, 131/143 ff; BVerfGE
38, 105/111, - damals noch aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip
hergeleitet; BVerfGE 55, 72/94; BVerfGE 69, 126/140; BVerfGE 74, 78/92; Beschluß vom
27. Oktober 1988 NJW 1989, S. 3271; Beschluß vom 15. Dezember 1988 - 1 BvR 750/88 -
; Beschluß vom 19. Dezember 1988 - 1 BvR 1492/88 -; vgl. ferner Dürig in Maunz-Dürig
u.a. , Kommentar zum Grundgesetz, Art. 3 Abs. 1 Rdnr. 50).
Nach der Verwehrung der vom Beschwerdeführer ausdrücklich unter Hinweis auf den
Kenntnisstand der Staatsanwaltschaft aus den Verfahrensakten begehrten Akteneinsicht
durch Verfügung des Landgerichts vom 3. Januar 1992 (die Ablehnung ist auf § 147 StPO
gestützt) hätte im vorliegenden Einzelfall nahegelegen, die verfassungsrechtlich
gebotene Waffengleichheit durch Stellung eines Verteidigers oder zumindest durch
auszugsweise Mitteilung des Akteninhalts an den Beschwerdeführer zu schaffen. Einen
entsprechenden Antrag des Beschwerdeführers auf Stellung eines Verteidigers, der am
gleichen Tage bei Gericht einging, an dem dieses durch Beschluß entschieden hat,
wurde nicht mehr berücksichtigt.
Die Entscheidung des Landgerichts Berlin beruht auch auf diesem Verstoß. Zwar
standen dem Beschwerdeführer die Anklageschrift und das Urteil des Stadtgerichts
Berlin, mit dem er seinerzeit verurteilt worden war, in Kopie zur Verfügung. Die zur
Anklageerhebung führenden Ermittlungen sind ihm von der Strafjustiz der seinerzeitigen
DDR nach seinem Vortrag nicht offenbart worden. Er schreibt selber in einem Schreiben
vom 26. Dezember 1991 an das Landgericht:
"Um meinen Antrag umfassend begründen zu können, benötige ich allerdings dringend
die Akten über die Untersuchung und den Prozeß. Ich besitze keinerlei Unterlagen über
diesen Vorgang."
Das Landgericht Berlin hat ihm keine Akteneinsicht gewährt und im schriftlichen
Verfahren entschieden. Zur Wahrnehmung des Rechts auf Beseitigung des DDR-
Unrechts kann es sich aber im Einzelfall als erforderlich erweisen, dem seinerzeit
Verurteilten eine Kenntnis von den Ermittlungen zu geben, die zu der Anklageerhebung
geführt haben. Eine Einsichtnahme in die Strafverfahrensakten der DDR erscheint dabei
dann in besonderem Maße notwendig, wenn es sich um eine Verurteilung nach dem
politischen Strafrecht handelte. In den Gründen der die Entscheidung tragenden
Mehrheit ist zu Recht darauf hingewiesen worden, daß dem Beschwerdeführer nicht
einmal ermöglicht wurde, selber Kenntnis von den seinerzeit von ihm geschaffenen
Kunstwerken durch Augenschein zu erhalten. Es mutet kafkaesk an, daß ein Künstler in
der ehemaligen DDR unter Zugrundelegung rechtsstaatswidriger Strafbestimmungen zu
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der ehemaligen DDR unter Zugrundelegung rechtsstaatswidriger Strafbestimmungen zu
einer hohen Freiheitsstrafe verurteilt wird, weil er dem damaligen Regime nicht genehme
Kunstwerke geschaffen hat, und daß dann nach Herstellung rechtsstaatlicher
Verhältnisse in einem Kassationsverfahren zur Aufhebung des seinerzeitigen Unrechts
dem Betroffenen unter Berufung auf offensichtlich für derartige Verfahren gar nicht
gedachte Verfahrensbestimmungen verboten wird, seine eigenen Kunstwerke
anzusehen.
Im Einzelfall des Beschwerdeführer, in dem dieser vorgetragen hatte, daß ihm keinerlei
Unterlagen über das seinerzeitige Verfahren mehr zur Verfügung standen, das zudem
immerhin 13 Jahre zurücklag, erforderte das in Art. 6 Abs. 1 Satz 1 VvB
übereinstimmend mit Art. 3 Abs. 1 GG enthaltene Gebot der strafprozessualen
Waffengleichheit, dem Beschwerdeführer Kenntnis vom Akteninhalt zu geben.
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