Urteil des VerfGH Berlin vom 14.03.2017

VerfGH Berlin: lwg, verteilung der mandate, verteilung der sitze, zahl, sitzverteilung, staatliches handeln, chancengleichheit, ermächtigung, wahlergebnis, vergleich

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Gericht:
Verfassungsgerichtshof
des Landes Berlin
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
169/06
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
Art 21 GG, Art 39 Abs 1 Verf
BE, Art 39 Abs 5 Verf BE, § 40
Abs 2 Nr 5 VGHG BE, § 40 Abs
3 Nr 1 VGHG BE
VerfGH Berlin: Wahlprüfungsverfahren: Feststellung des
Wahlergebnisses der Wahlen zum Abgeordnetenhaus 2006 im
Bezirk Steglitz-Zehlendorf durch den Landeswahlausschuss
rechtsfehlerfrei - Verteilung der Ausgleichsmandate nach § 17
Abs 3 WahlG BE auf die Bezirkslisten nach dem Hare-Niemeyer-
Verfahren bei verfassungskonformer Auslegung nicht zu
beanstanden - Chancengleichheit der Wahlbewerber nicht
verletzt
Tenor
1. Der Einspruch wird zurückgewiesen.
2. Das Verfahren ist gerichtskostenfrei.
3. Auslagen werden nicht erstattet mit Ausnahme der notwendigen Auslagen des
Beteiligten zu 9., die das Land Berlin zu erstatten hat.
Tatbestand
I.
Die Einsprechende wendet sich gegen die Verteilung der Sitze im Abgeordnetenhaus
von Berlin aufgrund des Beschlusses des Landeswahlausschusses vom 5. Oktober 2006
und begehrt ihre Berufung als Abgeordnete in das Abgeordnetenhaus.
Zu der am 17. September 2006 durchgeführten Wahl zum Abgeordnetenhaus von Berlin
kandidierte die Einsprechende im Wahlkreisverband Steglitz-Zehlendorf auf Listenplatz 3
der von der FDP eingereichten Bezirksliste. Nach dem vom Landeswahlleiter
veröffentlichten vorläufigen Wahlergebnis erzielte die FDP insgesamt 13 Mandate,
darunter ein Ausgleichsmandat. Auf die Bezirksliste Steglitz-Zehlendorf entfielen drei
Mandate einschließlich des Ausgleichsmandats mit der Folge, dass die Einsprechende
vom Landeswahlleiter vorläufig als gewählte Abgeordnete benannt wurde.
In seiner Sitzung vom 5. Oktober 2006 beschloss der Landeswahlausschuss, die
Verteilung der Ausgleichsmandate auf die Bezirkslisten der Parteien und damit die
Sitzverteilung abweichend von dem veröffentlichten vorläufigen Wahlergebnis
vorzunehmen. Das ursprünglich dem Wahlkreisverband Steglitz-Zehlendorf zugeordnete
Ausgleichsmandat entfiel auf den Wahlkreisverband Tempelhof-Schöneberg, so dass der
dort auf Listenplatz 2 geführte Kandidat anstelle der Einsprechenden als Abgeordneter in
das Abgeordnetenhaus von Berlin gewählt war. Das endgültige Wahlergebnis wurde am
20. Oktober 2006 im Amtsblatt für Berlin (S. 3757 <3780 ff.>) bekannt gemacht.
Im Einzelnen ermittelte der Landeswahlausschuss die Sitzverteilung auf die Bezirkslisten
wie folgt:
Nach dem Wahlergebnis konnte die FDP von den 130 Grundmandaten des
Abgeordnetenhauses (§ 7 Abs. 2 des Gesetzes über die Wahlen zum Abgeordnetenhaus
und zu den Bezirksverordnetenversammlungen - Landeswahlgesetz, LWG -) auf Grund
des gemäß § 17 Abs. 2 LWG, § 73 Abs. 4 der Landeswahlordnung - LWO -
anzuwendenden Verfahrens der mathematischen Proportion (Hare-Niemeyer) 12
Grundmandate beanspruchen. Die Verteilung der Grundmandate auf die zwölf
Bezirkslisten der FDP erfolgte gemäß § 17 Abs. 3 Sätze 2 bis 6 LWG, § 73 Abs. 5 LWO,
indem auf Grund des Verfahrens der mathematischen Proportion für jeden
Wahlkreisverband gesondert die Anzahl der Zweitstimmen in diesem Wahlkreisverband
mit der Zahl der Grundmandate von 12 multipliziert und dann durch die Gesamtzahl der
Zweitstimmen der FDP aus allen Wahlkreisverbänden (104.584 Stimmen) geteilt wurde.
Daraus ergaben sich für die Bezirksliste Steglitz-Zehlendorf zwei Grundmandate in
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Daraus ergaben sich für die Bezirksliste Steglitz-Zehlendorf zwei Grundmandate in
Gestalt von Listenmandaten. Auf die Bezirksliste Tempelhof-Schöneberg entfiel nach
dieser Berechnung ein Grundmandat in Gestalt eines Listenmandats.
In Anwendung des § 19 Abs. 1 LWG, § 73 Abs. 6 Buchst. c LWO verblieben den Parteien
die von ihnen errungenen Überhangmandate; dies waren bei der SPD sieben Mandate
und bei der CDU ein Mandat. Nach § 19 Abs. 2 LWG, § 73 Abs. 6 Buchst. d Sätze 1 bis 4
LWO erfolgte deshalb eine Erhöhung der Anzahl der Sitze des Abgeordnetenhauses
durch Ausgleichsmandate auf eine Gesamtmandatszahl von 149, um unter
Einbeziehung der Überhangmandate die Sitzverteilung im Wahlgebiet nach dem
Verhältnis der gesamten Zweitstimmenzahl der Parteien im Wahlgebiet zu
gewährleisten. Daraus ergaben sich neben den 130 Grundmandaten und acht
Überhangmandaten elf zusätzliche Ausgleichsmandate.
Im Folgenden kamen die für die streitgegenständliche Entscheidung maßgeblichen
Regelungen in § 73 Abs. 6 Buchst. d Sätze 5 bis 8 LWO zur Anwendung, die der
Verordnungsgeber mit der Achten Verordnung zur Änderung der Landeswahlordnung
vom 28. Februar 2006 (GVBl. S. 216; Neufassung vom 9. März 2006, GVBl. S. 224)
geschaffen hatte. Sie sind an die Stelle der zuvor geltenden Sätze 5 und 6 getreten und
lauten nunmehr:
"Die neue Gesamtzahl wird nach § 17 Abs. 2 des Landeswahlgesetzes auf die Parteien
verteilt. Der Unterschied der neuen Mandatszahl einer Partei zur Zahl ihrer zunächst
nach § 17 des Landeswahlgesetzes einschließlich der Überhangmandate errungenen
Sitze ergibt die Zahl der Ausgleichsmandate. Den Landes- und Bezirkslisten werden die
Ausgleichsmandate nach § 17 Abs. 3 des Landeswahlgesetzes zugeteilt. Dabei werden
Bezirkslisten übergangen, soweit auf sie Überhangmandate entfallen."
Danach wurde zunächst die neue Gesamtzahl von 149 Mandaten gemäß § 73 Abs. 6
Buchst. d Sätze 5 und 6 LWO nach § 17 Abs. 2 LWG auf die Parteien verteilt. Auf die FDP
entfielen ein Ausgleichsmandat und damit insgesamt 13 Mandate.
Gemäß § 73 Abs. 6 Buchst. d Satz 7 LWO waren nunmehr die Ausgleichsmandate den
Landes- bzw. Bezirkslisten der Parteien nach § 17 Abs. 3 LWG zuzuteilen. Hierzu wurde
die Anzahl der Zweitstimmen in jedem Wahlkreisverband mit der Zahl der insgesamt zu
verteilenden Mandate einer Partei, für die FDP somit 13, multipliziert und dann durch die
Gesamtzahl der Zweitstimmen der Partei aus allen Wahlkreisverbänden, für die FDP
104.584 Stimmen, geteilt. Hieraus ergab sich für jede Bezirksliste der FDP eine
Berechnungszahl, aufgrund derer die 13 Mandate nach Ganzzahl und Zahlenbruchteil
auf die Bezirkslisten verteilt wurden.
Im Vergleich zur Verteilung der 12 Grundmandate erhielt bei der FDP im Ergebnis
lediglich die Bezirksliste Tempelhof-Schöneberg ein zusätzliches Mandat in Gestalt eines
Ausgleichsmandats zugewiesen. Während sich die Mandatszahl für Tempelhof-
Schöneberg somit von eins auf zwei erhöhte, blieb es für den Bezirk Steglitz-Zehlendorf
bei der ursprünglich ermittelten Zahl von zwei Mandaten.
Demgegenüber war nach dem vom Landeswahlleiter zunächst veröffentlichten
vorläufigen Wahlergebnis das Ausgleichsmandat der Bezirksliste Steglitz-Zehlendorf
anstelle der Bezirksliste Tempelhof-Schöneberg zugefallen. Dieses Ergebnis beruhte auf
einer abweichenden Berechnung der Ausgleichsmandatszuteilung gemäß § 73 Abs. 6
Buchst. d Satz 7 LWO i. V. m. § 17 Abs. 3 LWG dergestalt, dass die Anzahl der
Zweitstimmen in jedem Wahlkreisverband lediglich mit der Zahl der zu vergebenden
Ausgleichsmandate, hier also mit 1, multipliziert und dann durch die Gesamtzahl der
Zweitstimmen der Partei aus allen Wahlkreisverbänden geteilt worden war.
Die Einsprechende macht mit ihrem am 23. Oktober 2006 beim Verfassungsgerichtshof
eingereichten Einspruch geltend, sie sei anstelle des Beteiligten zu 9. auf einen Sitz im
Abgeordnetenhaus zu berufen. Sie hält die Auslegung und Anwendung der Vorschrift des
§ 73 Abs. 6 Buchst. d Satz 7 LWO durch den Landeswahlausschuss für unzutreffend.
§ 19 Abs. 2 Satz 2 LWG ermächtige den Verordnungsgeber allein dazu, die Verteilung
der Ausgleichsmandate zu regeln, nicht aber dazu, das Ergebnis gesetzlicher
Regelungen des Landeswahlgesetzes, also die Verteilung der Grundmandate nach § 17
Abs. 3 LWG, in Frage zu stellen. Für diese Auslegung spreche auch der Wortlaut des § 73
Abs. 6 Buchst. d Sätze 6 und 7 LWO. Danach seien die "Ausgleichsmandate" lediglich
zusätzlich zuzuteilen, nicht aber - wie die Mehrheit des Landeswahlausschusses meine -
auch die zunächst nach § 17 des Landeswahlgesetzes einschließlich der
Überhangmandate errungenen Sitze in die Verteilungsrechnung einzubeziehen. Bei der
vom Landeswahlausschuss vorgenommenen Berechnung sei die unzulässige Folge nicht
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vom Landeswahlausschuss vorgenommenen Berechnung sei die unzulässige Folge nicht
auszuschließen, dass sich über die Verweisung auf § 17 Abs. 3 LWG in rechnerischen
Randbereichen eine andere Sitzverteilung ergebe.
Dieses Verständnis entspreche auch der Auffassung des Verfassungsgerichtshofs in
seinem Urteil vom 21. März 2003. Danach dürfe die Wahlordnung nichts bestimmen
oder auch nur zulassen, was mit Wortlaut, Sinn und Zweck des Wahlgesetzes und der
Verordnungsermächtigung in Widerspruch stehe oder über das hinausgehe, was das
Wahlgesetz überhaupt geregelt haben wolle. Im Leitsatz seiner Entscheidung spreche
der Verfassungsgerichtshof aus, § 19 Abs. 2 Satz 2 LWG biete keinen Anhaltspunkt
dafür, dass der Gesetzgeber den Verordnungsgeber zu einer Regelung habe
ermächtigen wollen, die zur Verteilung von Ausgleichsmandaten auf die Bezirkslisten
einer Partei eine im Vergleich zur gesetzlichen Regelung des § 17 Abs. 3 LWG völlige
Neuregelung der innerparteilichen zwischenbezirklichen Sitzverteilung vorsehe. Die vom
Landeswahlausschuss favorisierte Auslegung des § 17 Abs. 3 LWG laufe jedoch hierauf
hinaus. Ihre Auffassung werde schließlich durch die amtliche Begründung zur
Neufassung des § 73 Abs. 6 Buchst. d LWO bestätigt. Bei zutreffender Auslegung ergebe
sich danach die Zuordnung des strittigen Ausgleichsmandats auf die Bezirksliste
Steglitz-Zehlendorf der FDP mit der Folge, dass sie, die Einsprechende, statt des
Beteiligten zu 9. in das Abgeordnetenhaus zu berufen sei.
Auch wenn es für die Entscheidung nur auf die Auslegung des § 17 Abs. 3 LWG
ankomme, sei klarzustellen, dass die Verfahrensweise des Landeswahlausschusses in
dessen Sitzung vom 5. Oktober 2006 rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht entsprochen
habe. Eine von dem Bevollmächtigten des für die CDU auf Platz 2 der Bezirksliste
Marzahn-Hellersdorf Kandidierenden verfasste schriftliche Stellungnahme sei vor der
Sitzung den sieben übrigen Mitgliedern des Landeswahlausschusses, nicht aber dem
Landeswahlleiter zugeleitet worden. Im Verlauf der Sitzung habe der Bevollmächtigte
Gelegenheit erhalten, eingehend seine Rechtsauffassung darzulegen; den nach dem
vom Landeswahlleiter veröffentlichten vorläufigen Ergebnis gewählten Bewerbern, zu
deren Nachteil diese Rechtsauffassung habe führen müssen, sei hingegen keine
Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben worden.
Gemäß § 41 VerfGHG hat der Verfassungsgerichtshof den Vorsitzenden der im
Abgeordnetenhaus von Berlin vertretenen Fraktionen, dem Präsidenten des
Abgeordnetenhauses, der Senatsverwaltung für Inneres (Beteiligte zu 7.), dem
Landeswahlleiter (Beteiligter zu 8.) einschließlich der übrigen Mitglieder des
Landeswahlausschusses sowie dem betroffenen Bewerber Gelegenheit zur Äußerung
eingeräumt.
Die Beteiligte zu 7. schließt sich, zugleich im Namen des Beteiligten zu 8., im
Wesentlichen den Rechtsausführungen der Einsprechenden an. Sie verweist ergänzend
auf die Ausführungen des Verfassungsgerichtshofs in dessen Urteil vom 21. März 2003,
wonach § 19 Abs. 2 Satz 2 LWG lediglich die Ermächtigung enthalte, in der
Landeswahlordnung zu regeln, welche Bezirkslisten ungeachtet der ihnen bereits auf
Grund des § 17 Abs. 3 LWG zugeteilten Sitze "die zusätzlich anfallenden
Ausgleichsmandate erhalten". Während die der Wahlprüfungsentscheidung zugrunde
liegende Fassung der Landeswahlordnung eine Gesamtverteilung aller Mandate
einschließlich der Überhang- und Ausgleichsmandate vorgesehen habe, beschränke sich
§ 73 Abs. 6 Buchst. d Satz 7 LWO in der geltenden Fassung allein auf die Verteilung der
Ausgleichsmandate. Damit werde vermieden, dass die durch die Grundverteilung den
Bezirkslisten bereits nach § 17 LWG zugeteilten Mandate in der Ausgleichsrechnung
wieder verändert würden. Zum anderen schreibe die Landeswahlordnung nunmehr vor,
dass Bezirkslisten übergangen würden, soweit auf sie Überhangmandate entfielen. Bei
der erneuten Gesamtverteilung aller Mandate einschließlich der Überhang- und
Ausgleichsmandate - wie sie der Landeswahlausschuss vorgenommen habe - könnten
diese für die rechtskonforme Mandatsverteilung wesentlichen Gesichtspunkte nicht
berücksichtigt werden.
Der Vorsitzende der Fraktion der FDP im Abgeordnetenhaus (Beteiligte zu 5.) begehrt
die Zurückweisung des Einspruchs. Er ist der Auffassung, die angegriffene
Mandatsverteilung entspreche dem Verfahren, welches der Verfassungsgerichtshof in
seinem Urteil vom 21. März 2003 zugrunde gelegt habe. Auch aus Systematik und
Entstehungsgeschichte der einschlägigen Vorschriften folge die vom
Landeswahlausschuss vorgenommene Auslegung der § 73 Abs. 6 Buchst. d Satz 7 LWO
i. V. m. § 17 Abs. 3 LWG. Demgegenüber widerspreche das von der Einsprechenden
postulierte Berechnungsverfahren gesetzlichen und verfassungsrechtlichen
Grundsätzen. So habe sich der Gesetzgeber im Hinblick auf die Verteilung der
Listenmandate einer Partei auf ihre Bezirkslisten für die Anwendung des Hare-Niemeyer-
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Listenmandate einer Partei auf ihre Bezirkslisten für die Anwendung des Hare-Niemeyer-
Verfahrens entschieden. Dem liege der Wille zugrunde, im Rahmen der mathematischen
Gesetzmäßigkeiten die Mandate einer Partei lieber auf möglichst viele Bezirke zu
verteilen, als sie auf starke Bezirkslisten zu konzentrieren. Diese Grundentscheidung
habe auch der Verordnungsgeber für die Zuteilung der Ausgleichsmandate zu beachten.
Nach dem von der Einsprechenden postulierten Verfahren beginne die Zuteilung der
Ausgleichsmandate jedoch wieder bei der stimmenstärksten Bezirksliste. Zudem stelle
ein separates Zuteilungsverfahren einen erheblichen Eingriff in den Grundsatz der
Wahlgleichheit dar, der auch die Chancengleichheit der Wahlbewerber gewährleiste. In
Steglitz-Zehlendorf würden in diesem Fall für die Erlangung eines Sitzes der FDP 6.114
Stimmen genügen, während in Tempelhof-Kreuzberg 13.029 Stimmen erforderlich seien.
Im Hinblick auf den sog. Wesentlichkeitsgrundsatz dürfe allein der parlamentarische
Gesetzgeber einen solchen erheblichen Eingriff in die Chancengleichheit der Bewerber
anordnen.
Der Beteiligte zu 9. wendet sich ebenfalls gegen die Rechtsauffassung der
Einsprechenden. Er führt im Wesentlichen aus, dass ein Ausgleichsmandat im
rechtlichen Sinne ein über die Liste, also über das Verhältniswahlrecht erlangtes Mandat
sei, das den übrigen Listenmandaten gleichgestellt sei. Es entspreche nicht dem Status
der Ausgleichsmandate, ihre Zuteilung zeitlich und hierarchisch nachrangig gegenüber
den "originären" Listenmandaten vorzunehmen. Der Gesetzgeber habe in diesem Sinne
mit der Ermächtigung in § 19 Abs. 2 Satz 2 LWG nur die Berechnung der
Ausgleichsmandate und der "neuen Gesamtzahl" an den Verordnungsgeber delegiert,
die Regelung der Verteilung habe er sich hingegen selbst vorbehalten. Selbst wenn man
aber davon ausgehe, dass zunächst die "originären" Listenmandate nach § 17 Abs. 3
LWG verteilt und erst dann die Ausgleichsmandate nach § 19 Abs. 2 LWG i. V. m. § 73
LWO bestimmt und parteiintern den Bezirkslisten zugewiesen würden, müsse die zweite
Verteilungsrunde dort beginnen, wo die erste aufgehört habe. Anderenfalls werde der
verfassungsrechtliche Grundsatz der Chancengleichheit der Bewerber verletzt, da der
Bezirk, in dem die meisten gültigen Zweitstimmen für die Partei abgegeben worden
seien, überproportional profitieren würde.
Die von dem Bevollmächtigten des für die CDU auf Platz 2 der Bezirksliste Marzahn-
Hellersdorf Kandidierenden verfasste Stellungnahme sei jedenfalls der stellvertretenden
Landeswahlleiterin bekannt gewesen, und die Sitzung des Landeswahlausschusses sei
zum Zweck des Überdenkens der Entscheidung unterbrochen worden. Schließlich sei
auch die Relevanz der Verfahrensweise für das Ergebnis der Verteilung des
Ausgleichsmandats zu bestreiten.
Entscheidungsgründe
II.
1. Der Einspruch ist gemäß § 40 Abs. 2 Nr. 5, Abs. 3 Nr. 1, Abs. 4 Sätze 1 und 5 des
Gesetzes über den Verfassungsgerichtshof - VerfGHG - zulässig. Bei der Einsprechenden
handelt es sich um einen "betroffenen Bewerber" im Sinne des § 40 Abs. 3 Nr. 1
VerfGHG. Sie macht geltend, zu Unrecht, nämlich infolge einer von ihr für
rechtsfehlerhaft gehaltenen Auslegung einer Regelung der Landeswahlordnung, nicht in
das Abgeordnetenhaus berufen worden zu sein (vgl. dazu Urteil vom 21. März 2003 -
VerfGH 175/01 - LVerfGE 14, 63 <68>).
2. Der Einspruch ist jedoch unbegründet. Die Einsprechende ist nicht als Abgeordnete in
das Abgeordnetenhaus von Berlin zu berufen, da der Landeswahlausschuss das
Ergebnis der Wahl vom 17. September 2006 zutreffend festgestellt hat. Das von der
Einsprechenden für die Bezirksliste Steglitz-Zehlendorf begehrte Ausgleichsmandat ist
zu Recht dem Beteiligten zu 9. für die Bezirksliste Tempelhof-Schöneberg zugewiesen
worden.
Das in § 14 Nr. 3, §§ 40 ff. VerfGHG geregelte Wahlprüfungsverfahren dient dem Schutz
des objektiven Wahlrechts, somit der Gewährleistung der richtigen Zusammensetzung
des Abgeordnetenhauses (Urteile vom 17. März 1997 - VerfGH 87/95 und VerfGH 90/95
- LVerfGE 6, 32 <38>). Der Verfassungsgerichtshof kann im Falle eines auf § 40 Abs. 2
Nr. 5 VerfGHG gestützten Einspruchs gemäß § 42 Nr. 5 VerfGHG die Feststellung des
Verlustes des Sitzes des berufenen Bewerbers, hier des Beteiligten zu 9., treffen und die
Berufung des berechtigten Bewerbers, hier der Einsprechenden, anordnen, wenn die
Einsprechende zu Unrecht nicht in das Abgeordnetenhaus berufen worden ist. Die
Berufung eines Bewerbers ist - wie sich mittelbar aus § 40 Abs. 2 Nr. 8 VerfGHG ("sonst")
ergibt - an den Vorschriften des Grundgesetzes, der Verfassung von Berlin, des
Landeswahlgesetzes und der Landeswahlordnung zu messen (vgl. Urteil vom 6.
Dezember 2002 - VerfGH 192/01 - LVerfGE 13, 71 <82>).
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a) Nach Art. 39 Abs. 1 der Verfassung von Berlin - VvB - werden die Abgeordneten in
allgemeiner, gleicher, geheimer und direkter Wahl gewählt. Alles Nähere wird durch das
Wahlgesetz geregelt (Art. 39 Abs. 5 VvB). So enthält das Landeswahlgesetz vom 25.
September 1987 (GVBl. S. 2370; zuletzt geändert durch Gesetz vom 11. Oktober 2005,
GVBl. S. 534) hinsichtlich der Wahl zum Abgeordnetenhaus insbesondere in § 17 und §
19 LWG Bestimmungen über das Verfahren der Wahl nach Bezirks- oder Landeslisten.
Nach § 17 Abs. 2 LWG erfolgt die Verteilung der Sitze auf die Bezirks- und Landeslisten
der Parteien auf Grund des Verfahrens der mathematischen Proportion (Hare-
Niemeyer). § 17 Abs. 3 LWG regelt in den Sätzen 2 bis 6 für Parteien, die Bezirkslisten
eingereicht haben, die Unterverteilung der ihnen zustehenden Sitze auf ihre einzelnen
Wahlkreisverbände, und zwar entsprechend dem Anteil der gültigen Zweitstimmen der
Partei in jedem Wahlkreisverband an der gesamten Zweitstimmenzahl der Partei im
ganzen Wahlgebiet, auf Grund des Verfahrens der mathematischen Proportion. Soweit
die in den Wahlkreisen direkt errungenen Sitze einer Partei die so nach § 17 LWG
ermittelte Anzahl von Sitzen übersteigen, verbleiben sie nach § 19 Abs. 1 LWG den
Parteien als Überhangmandate. § 19 Abs. 2 LWG enthält für diesen Fall eine Regelung
des angemessenen Ausgleichs der Überhangmandate. Nach Satz 1 erhöht sich die
Anzahl der Sitze um so viele Ausgleichsmandate, wie erforderlich sind, um unter
Einbeziehung der Überhangmandate die Sitzverteilung im Wahlgebiet nach dem
Verhältnis der gesamten Zweitstimmenzahl der Parteien im Wahlgebiet zu
gewährleisten. Nach Satz 2 bestimmt das Nähere über die Berechnung die
Landeswahlordnung.
Diese Verordnungsermächtigung begegnet im Hinblick auf Art. 39 Abs. 5 VvB keinen
verfassungsrechtlichen Bedenken (vgl. Urteil vom 21. März 2003, a. a. O., S. 70). § 19
Abs. 2 Satz 2 LWG leitet sich von der allgemeinen Verordnungsermächtigung des § 34
LWG ab und konkretisiert diese. Der Gesetzgeber braucht Inhalt, Zweck und Ausmaß der
Ermächtigung nicht ausdrücklich im Gesetz zu bestimmen. Vielmehr gelten für die
Interpretation von Ermächtigungsnormen die allgemeinen Auslegungsregeln, so dass
der Sinnzusammenhang mit anderen Vorschriften, das Ziel, das die gesetzliche
Regelung insgesamt verfolgt, und die Entstehungsgeschichte zur Auslegung
herangezogen werden können (Urteil vom 21. März 2003, a. a. O., S. 70; vgl. BVerfGE
58, 257 <277>). Hiernach beschränkt sich die Verordnungsermächtigung in § 19 Abs. 2
Satz 2 LWG - entgegen der Auffassung des Beteiligten zu 9. - nicht auf das bloße
Berechnungsverfahren zur Ermittlung der notwendigen Zahl an Ausgleichsmandaten.
Vielmehr lässt sich der Vorschrift auch die an den Verordnungsgeber gerichtete
Ermächtigung entnehmen, Regelungen zu treffen, wie angefallene Ausgleichsmandate
im Fall des Vorhandenseins von Bezirkslisten parteiintern zu verteilen sind (Urteil vom
21. März 2003, a. a. O., S. 71).
Auf dieser Grundlage hat der Verordnungsgeber in § 73 Abs. 6 Buchst. d LWO, der mit
der Achten Verordnung zur Änderung der Landeswahlordnung vom 28. Februar 2006 (a.
a. O.) geändert worden ist, nähere Regelungen der Vergabe von Ausgleichsmandaten
getroffen. Die Vorschrift gibt in den Sätzen 1 bis 6 im Einzelnen vor, wie die zur
Herstellung des Parteienproporzes gebotene neue Gesamtzahl der Mandate, d. h. aller
Mandate einschließlich Überhang- und Ausgleichsmandate, zu ermitteln und wiederum
auf Grund des Verfahrens der mathematischen Proportion auf die Parteien zu verteilen
ist. Im Anschluss sieht sie zum Zweck der Herstellung des sog. parteiinternen Proporzes
in den hier maßgeblichen Sätzen 7 und 8 eine Zuteilung der so ermittelten
Ausgleichsmandate auf die Landes- und Bezirkslisten der jeweiligen Parteien "nach § 17
Abs. 3 des Landeswahlgesetzes" vor.
b) Der Landeswahlausschuss hat diese Verweisung auf § 17 Abs. 3 LWO bei der
Feststellung des Wahlergebnisses zutreffend ausgelegt und angewendet.
aa) Sein Verständnis der Vorschrift des § 73 Abs. 6 Buchst. d Satz 7 LWO ist mit deren
Wortlaut vereinbar. Zwar bestimmt die Vorschrift, dass "die Ausgleichsmandate" nach §
17 Abs. 3 LWG zugeteilt werden. Entgegen der Auffassung der Einsprechenden folgt
hieraus aber nicht zwingend, dass in die zum Zweck der Verteilung der
Ausgleichsmandate vorzunehmende Berechnung als Rechenfaktor lediglich die (vier) zu
vergebenden Ausgleichsmandate einzubeziehen sind. Die Verweisung auf § 17 Abs. 3
LWG kann auch als Anordnung eines Berechnungsverfahrens verstanden werden, das -
unter Verwendung eines aus § 17 Abs. 3 LWG zu entnehmenden, von der Zahl der zu
verteilenden Ausgleichsmandate abweichenden Rechenfaktors - erst im Ergebnis zu
einer Zuteilung der Ausgleichsmandate führt. In diesem Sinne stellt das der
Entscheidung des Landeswahlausschusses zu Grunde liegende Normverständnis auf den
in § 17 Abs. 3 Satz 3 LWG gewählten Begriff der "Gesamtzahl" der Sitze einer Partei ab
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in § 17 Abs. 3 Satz 3 LWG gewählten Begriff der "Gesamtzahl" der Sitze einer Partei ab
und interpretiert ihn dahin, dass er - für die Berechnung nach § 73 Abs. 6 Buchst. d Satz
7 LWO - alle aufgrund der Zweitstimmenzahl erworbenen Mandate einer Partei zuzüglich
der Überhang- und der Ausgleichsmandate umfasst. Für diese Auslegung spricht, dass
die so verstandene "Gesamtzahl" mit dem Begriff der "neuen Gesamtzahl" in § 73 Abs. 6
Buchst. d Sätze 2 und 5 LWO korrespondiert, welche sich nach Satz 2 unter
Berücksichtigung der "Zahl der errungenen Sitze der Partei einschließlich ihrer
Überhangmandate" nach Berechnung der Zahl der Ausgleichsmandate ergibt.
bb) Welche der beiden streitgegenständlichen Verfahrensweisen zur Zuteilung der
Ausgleichsmandate der Verordnungsgeber anordnen wollte, lässt sich der Regelung des
§ 73 Abs. 6 Buchst. d Satz 7 LWO nicht unmittelbar entnehmen.
(1.) Der Umstand, dass der Verordnungsgeber für die Zuteilung der Ausgleichsmandate
keine entsprechende, sondern - scheinbar - eine unmittelbare Anwendung der
Berechnung nach § 17 Abs. 3 LWO vorgeschrieben hat, ist nicht aussagekräftig. Da in §
17 Abs. 3 LWG die Gesamtzahl der nach § 17 Abs. 2 LWG für jede Partei ermittelten
Sitze, also die Zahl der Grundmandate, als Berechnungsfaktor vorgesehen, diese Zahl
(hier: 12) für eine Verteilung der Ausgleichmandate nach dem System Hare-Niemeyer
jedoch unbehelflich ist, kann § 73 Abs. 6 Buchst. d Satz 7 LWO in jedem Fall nur eine
entsprechende Anwendung der Berechnung nach § 17 Abs. 3 LWG zum Inhalt haben.
(2.) Die Auslegung von § 73 Abs. 6 Buchst. d Satz 7 LWO durch den
Landeswahlausschuss erweist sich auch nicht schon deshalb als eindeutig zutreffend,
weil der Verordnungsgeber darin konkret auf die Regelung des § 17 Abs. 3 LWG und nicht
- wie in den Absätzen 4 und 5 des § 73 LWO - abstrakt auf das Verfahren der
mathematischen Proportion nach Hare-Niemeyer verweist. Hätte der Verordnungsgeber
Letzteres getan, stünde ebenfalls nicht zweifelsfrei fest, welche Mandatszahl bei der
Berechnung zur Verteilung der Ausgleichsmandate zu verwenden wäre. In diesem Fall
ließe sich darüber streiten, ob zwei nacheinander durchgeführte Berechnungen nach
Hare-Niemeyer mit jeweils nur einem Teil der angefallenen Mandate (hier: 12 und 1) den
an ein Verfahren der mathematischen Proportion zu stellenden Anforderungen genügte.
cc) Welche Berechnungsweise der Verordnungsgeber vorgeben wollte, ergibt sich auch
nicht aus der Begründung der Achten Verordnung zur Änderung der
Landeswahlordnung, in der es heißt (in: Vorlage an das Abgeordnetenhaus von Berlin
unter A. b) zu 33.):
"Die Neuregelung in Absatz 6 beschränkt sich übereinstimmend mit der Rechtsprechung
des Verfassungsgerichtshofs des Landes Berlin auf die Verteilung der
Ausgleichsmandate. Insoweit wird die Anwendung der in § 17 Abs. 2 und 3 des
Landeswahlgesetzes vorhandenen Regeln ausdrücklich angeordnet. Damit ist
klargestellt, dass im Falle von Überhang- und Ausgleichsmandaten eine erneute
Verteilung sämtlicher Mandate nicht stattfindet. …"
Dieser Begründung kann nur entnommen werden, dass § 73 Abs. 6 LWO - entsprechend
dem Urteil des Verfassungsgerichtshofs vom 21. März 2003 (VerfGH 175/01 - LVerfGE
14, 63 ff.) - die Verteilung der Grundmandate auf die Bezirkslisten nach § 17 Abs. 3
Sätze 2 bis 6 LWG unberührt lässt. Daraus folgt zwar notwendigerweise, dass die
Unterverteilung der Ausgleichsmandate auf die Bezirkslisten in einem gesonderten
Rechenschritt zu erfolgen hat. Welcher Rechenweg dabei nach der Vorstellung des
Verordnungsgebers zu beschreiten ist, wird hingegen nicht deutlich.
dd) Entgegen der Auffassung der Einsprechenden scheidet die vom
Landeswahlausschuss gewählte Auslegung von § 73 Abs. 6 Buchst. d Satz 7 LWO nicht
deshalb aus, weil sie von der gesetzlichen Ermächtigung in § 19 Abs. 2 Satz 2 LWG nicht
gedeckt wäre. Vielmehr ist die Auslegung mit den Vorgaben des
Verfassungsgerichtshofs aus seinem Urteil vom 21. März 2003 (a. a. O.) vereinbar.
Auch bei einer verordnungsrechtlichen Regelung, die - wie hier - auf die Anwendung einer
gesetzlichen Vorschrift verweist, sind allerdings die Anforderungen des Vorbehalts des
Gesetzes zu beachten. Dieser verlangt, dass staatliches Handeln in bestimmten
grundlegenden Bereichen durch förmliches Gesetz legitimiert wird. Der Gesetzgeber ist
verpflichtet, alle wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen (vgl. BVerfGE 98, 218
<251>). Hierzu zählen grundsätzlich auch wahlrechtliche Regelungen zur Herstellung
eines parteiinternen Proporzes; diese darf der Gesetzgeber nicht insgesamt dem Willen
des Verordnungsgebers überlassen (Urteil vom 21. März 2003, a. a. O., S. 71 f.). § 19
Abs. 2 Satz 2 LWG kann daher nicht entnommen werden, dass der Gesetzgeber den
Verordnungsgeber zu einer Regelung des innerparteilichen zwischenbezirklichen
Ausgleichs in Gestalt einer völligen Neuverteilung der Sitze auf die einzelnen
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Ausgleichs in Gestalt einer völligen Neuverteilung der Sitze auf die einzelnen
Bezirkslisten einer Partei ermächtigen wollte, die die auf Grund des § 17 Abs. 3 Sätze 2
bis 6 LWG erfolgte Verteilung der Mandate auf die einzelnen Bezirkslisten einer Partei für
den Fall von Überhang- und Ausgleichsmandaten aufhebt und dazu führen kann, dass
eine Bezirksliste in Anwendung der Landeswahlordnung weniger Sitze zugeteilt bekommt
als in Anwendung des Landeswahlgesetzes. § 19 Abs. 2 Satz 2 LWG enthält vielmehr nur
die Ermächtigung, in der Landeswahlordnung zu regeln, welche Bezirkslisten ungeachtet
der ihnen bereits aufgrund des § 17 Abs. 3 LWG zugeteilten Sitze die zusätzlich
angefallenen Ausgleichsmandate erhalten (Urteil vom 21. März 2003, a. a. O., S. 71 f.).
Das Ziel der Neufassung des § 73 Abs. 6 LWO, diesem begrenzten Umfang der in § 19
Abs. 2 Satz 2 LWG enthaltenen Ermächtigung Rechnung zu tragen und eine
Veränderung der bereits nach § 17 Abs. 3 LWG erfolgten Mandatsverteilung zu Lasten
einer Bezirksliste bei der Zuteilung von Ausgleichsmandaten zu verhindern, kann auch
bei Anwendung des vom Landeswahlausschuss beschlossenen Berechnungsverfahrens
gewährleistet werden; es ist bei der Feststellung des endgültigen Ergebnisses der am 17.
September 2006 durchgeführten Wahl auch erreicht worden.
(1.) Insbesondere hat der Landeswahlausschuss - entgegen der Auffassung der
Einsprechenden sowie der Beteiligten zu 7. und 8. - nicht eine unzulässige völlige
Neuregelung oder Neuberechnung der zwischenbezirklichen Sitzverteilung
vorgenommen. Denn er hat nach Ermittlung der auf die jeweiligen Bezirkslisten
entfallenden Grundmandate gemäß § 17 Abs. 3 LWG aufgrund der Verweisung durch die
Landeswahlordnung wiederum gemäß § 17 Abs. 3 LWG, somit in Anwendung des
gleichen Berechnungssystems der mathematischen Proportion nach Hare-Niemeyer,
lediglich eine um die Zahl der Ausgleichsmandate (hier um eins) erhöhte Anzahl an
Mandaten verteilt mit der Folge, dass die einzelnen Bezirkslisten abhängig von ihrem
Zweitstimmenanteil an der Gesamtstimmenzahl (regelmäßig) zumindest ihre bereits
errungene Mandatszahl behalten und die zur Verfügung stehenden weiteren Mandate
(hier ein Mandat) ebenfalls in Abhängigkeit von dem Stimmenanteil vergeben werden.
Im Gegensatz dazu beruhte die der Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs vom 21.
März 2003 zu Grunde liegende Zuteilung der Ausgleichsmandate auf einem von § 17
Abs. 3 LWG abweichenden Berechnungssystem, bei dem die zu berücksichtigende
Zweitstimmenzahl um die Zahl der für Direktmandate anzurechnenden Zweitstimmen
vermindert worden war.
(2.) Dementsprechend weist auch das vom Landeswahlausschuss in dessen Sitzung
vom 5. Oktober 2006 festgestellte endgültige Wahlergebnis nach Verteilung der
Ausgleichsmandate keine Verringerung der Anzahl der auf die einzelnen Bezirkslisten
entfallenden Mandate auf. Handelte es sich hierbei indessen um ein eher zufällig
aufgetretenes Ergebnis eines potentiell erheblich fehlerbehafteten und die oben
genannten Grundsätze verletzenden Berechnungsverfahrens, könnte dieses unter
verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten keinen Bestand haben. Das ist indessen nicht
der Fall. Zutreffend macht die Einsprechende zwar geltend, dass sich bei Anwendung
des Verfahrens in rechnerischen Randbereichen eine von der Verteilung der
Grundmandate abweichende Sitzverteilung ergeben kann. Denn dem Verfahren der
mathematischen Proportion nach Hare-Niemeyer ist systemimmanent, dass dasselbe
Stimmenergebnis bei einer Erhöhung der Gesamtmandatszahl in Ausnahmefällen zu
einem Verlust eines Mandats führen kann (sog. "Alabama-Paradoxon"; vgl. die
Ausführungen des Landeswahlleiters im Verfahren VerfGH 175/01, Urteil vom 21. März
2003, a. a. O., S. 73).
Dieser Umstand stellt jedoch die Auslegung von § 73 Abs. 6 Buchst. d LWO, § 17 Abs. 3
LWG durch den Landeswahlausschuss nicht grundsätzlich in Frage. Vielmehr ist davon
auszugehen, dass die Offenheit der streitgegenständlichen Regelungen im Einzelfall
Verfahrensschritte zulässt, mit denen eine Verletzung der dargestellten Grundsätze
vermieden werden kann. So ist es mit den Regelungen des Landeswahlgesetzes
vereinbar und von der Ermächtigungsnorm gedeckt, wenn in dem Fall, in dem die
entsprechend der Berechnung des Landeswahlausschusses vorgenommene Verteilung
der Ausgleichsmandate auf die Bezirkslisten bei einer dieser Listen zu einer niedrigeren
Mandatszahl im Vergleich zur ursprünglichen Verteilung der Grund- und
Überhangmandate nach § 17 Abs. 3 und 4 LWG führte, die betroffene Bezirksliste mit
ihrer Zweitstimmenzahl und den bereits zugewiesenen Mandaten (einschließlich
etwaiger Überhangmandate) aus der Berechnung genommen und die Berechnung
erneut ohne sie durchgeführt würde.
Für diese Verfahrensweise fehlt es - entgegen der Auffassung der Einsprechenden - nicht
an einer rechtlichen Grundlage. Sie ist vielmehr in der ebenfalls durch die Achte
Verordnung zur Änderung der Landeswahlordnung eingeführten Vorschrift des § 73 Abs.
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Verordnung zur Änderung der Landeswahlordnung eingeführten Vorschrift des § 73 Abs.
6 Buchst. d Satz 8 LWO angelegt, nach der bei der Zuteilung der Ausgleichsmandate
Bezirkslisten übergangen werden, soweit auf sie Überhangmandate entfallen. Hierin
kommt der Wille des Verordnungsgebers zum Ausdruck, in diesem Fall das in den
vorhergehenden Rechen- und Zuteilungsschritten erlangte Ergebnis nicht wieder in
Frage zu stellen und gleichwohl eine disproportionale Verteilung der einer Partei
zustehenden Mandate auf die Bezirkslisten dadurch zu vermeiden, dass die
entsprechende Bezirksliste aus der Verteilungsberechnung herausgenommen wird. Es
kann dabei dahinstehen, ob damit bereits alle denkbaren Fälle des rechnerischen
Wegfalls eines zuvor schon zugeteilten Mandats abgedeckt sind; denn dieser
Rechtsgedanke ließe sich entsprechend auf die Fälle übertragen, bei denen das
Auftreten des "Alabama-Paradoxons" bei einer Bezirksliste zu einer niedrigeren
Mandatszahl im Vergleich zur ursprünglichen Verteilung der Grundmandate führte.
In beiden Fällen kann somit durch die Herausnahme der betroffenen Bezirkslisten
(einschließlich der auf sie entfallenden Stimmen und Mandate) sichergestellt werden,
dass diese ihre bereits aufgrund der vorrangigen gesetzlichen Regelungen erworbenen
Mandate behalten. Die Regelung der § 73 Abs. 6 Buchst. d Sätze 7 und 8 LWO i. V. m. §
17 Abs. 3 LWG kann danach gesetzeskonform in der Weise ausgelegt werden, dass die
durch die Anwendung von § 17 Abs. 3 und 4 LWG ermittelte ursprüngliche Sitzverteilung
beim Anfallen von Überhang- und Ausgleichsmandaten nicht in Frage gestellt bzw.
wieder verändert wird (vgl. zu diesem Erfordernis Urteil vom 21. März 2003, a. a. O., S.
72 f.).
ee) Entscheidend für diese Auslegung von § 73 Abs. 6 Buchst. d Satz 7 LWO spricht,
dass sie den im Landeswahlgesetz enthaltenen Grundgedanken, wonach die einer Partei
zustehenden Mandate nach dem Verfahren der mathematischen Proportion auf deren
Bezirkslisten verteilt werden sollen, folgerichtig weiterführt. Indem an die Berechnung der
Grundmandate nach Hare-Niemeyer angeknüpft und diese Berechnung unter
Beibehaltung des Systems fortgesetzt wird, ergibt sich eine proportionale Verteilung
aller einer Partei zustehenden Mandate auf die Bezirkslisten. Demgegenüber verfehlt die
von der Einsprechenden vertretene Auslegung das durch das Landeswahlgesetz
vorgegebene Ziel, möglichst alle Mandate einer Partei proportional auf die Bezirkslisten
zu verteilen. Da die Ausgleichsmandate in einem von der Zuteilung der Grundmandate
vollständig getrennten Rechenschritt auf die Bezirkslisten verteilt werden, fallen sie
notwendigerweise den Bezirkslisten mit dem höchsten Zweitstimmenanteil zu. Eine
weitere Stärkung gerade derjenigen Wahlkreisverbände, die bereits über die größten
Stimmen- und damit Mandatsanteile verfügen, steht jedoch im Widerspruch zur
Entscheidung des Landesgesetzgebers, für die Wahl zum Abgeordnetenhaus das
Verfahren der mathematischen Proportion nach Hare-Niemeyer zu Grunde zu legen. Im
Gegensatz zum Verfahren nach d´Hondt, das tendenziell stärkere Parteien bzw. Listen
bevorzugt, wird das Verfahren nach Hare-Niemeyer eher dem Erfolgswert der für
kleinere Parteien bzw. Listen abgegebenen Stimmen gerecht (Beschluss vom 21.
Februar 2000 - VerfGH 121/99 - JR 2001, 497; Schreiber, Handbuch des Wahlrechts zum
Deutschen Bundestag, 7. Aufl. 2002, § 6 Rn. 6a). Da nach der Regelung des § 73 Abs. 6
Buchst. d Satz 7 LWO i. V. m. § 17 Abs. 3 LWG auch die Zuteilung der
Ausgleichsmandate nach dem Hare-Niemeyer-Verfahren, also nach dem proportionalen
Verhältnis der Bezirkslisten, vorzunehmen und keine abweichende gesetzgeberische
Wertung zu erkennen ist, widerspricht es dem Gebot der Folgerichtigkeit innerhalb jedes
Abschnitts der Wahl (vgl. BVerfGE 1, 208 <246>), diese Regelung dergestalt
auszulegen, dass dadurch stärkere Bezirkslisten mit hohen Stimmenanteilen gegenüber
schwächeren Bezirkslisten mit kleineren Stimmenanteilen bevorzugt werden.
Eine systemgerechte Verteilung der Ausgleichsmandate ist auch im Hinblick auf den
verfassungsrechtlichen Grundsatz der Chancengleichheit der Wahlbewerber geboten.
Dieser Grundsatz folgt - mit Einwirkung auch auf das Landesverfassungsrecht - aus Art.
21 des Grundgesetzes (GG) und verbietet jede staatliche Maßnahme, die den Anspruch
einer Partei bzw. eines Bewerbers auf die Gleichheit der Chancen im politischen
Wettbewerb willkürlich beeinträchtigt (Urteile vom 17. März 1997 - VerfGH 87/95 und
VerfGH 90/95 - LVerfGE 6, 32 <39>; vgl. BVerfGE 82, 322 <337 f.>). Zwar wäre im
vorliegenden Fall nicht das aus dem Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit folgende Gebot
der Gleichheit des Erfolgswertes der Wählerstimmen tangiert; denn bei der Verteilung
der Mandate einer Partei auf die Bezirke handelt es sich um einen den Parteienproporz
im Abgeordnetenhaus und damit den Erfolgswert der Stimmen nicht beeinflussenden
parteiinternen Vorgang (Beschluss vom 31. Juli 1998 - VerfGH 82/95 - LVerfGE 9, 23
<28> und Urteil vom 21. März 2003, a. a. O., S. 71 f.). Der Landesgesetzgeber ist im
Hinblick auf das aktive Wahlrecht zur Wahrung des gleichen Erfolgswertes einer für eine
Partei abgegebenen Wählerstimme demgemäß nicht verpflichtet, ein Wahlsystem zu
schaffen, das zur gleichmäßigen Repräsentanz der Bezirke im Abgeordnetenhaus führt
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schaffen, das zur gleichmäßigen Repräsentanz der Bezirke im Abgeordnetenhaus führt
(Beschluss vom 31. Juli 1998, a. a. O.).
Durch die Verteilung der Mandate auf die Bezirkslisten wird jedoch die Chancengleichheit
der Wahlbewerber berührt (Urteil vom 21. März 2003, a. a. O., S. 72). Es wäre mit
diesem Gebot unvereinbar, bei der Auslegung wahlrechtlicher Regelungen einem
Verfahren den Vorzug zu geben, das zu einer systemwidrigen Verzerrung der Chancen
eines auf einer Bezirksliste kandidierenden Wahlbewerbers gegenüber Bewerbern
anderer Bezirkslisten führt, wenn eine andere, systemkonforme Auslegung der Regelung
möglich ist (vgl. StGH Baden-Württemberg, VBlBW 1991, 133 <137>). Dabei ist auch zu
berücksichtigen, dass sich die Behandlung unterschiedlicher Bezirkslisten nicht als ein
rein parteiinterner Vorgang darstellt, dem sich der Wahlbewerber, wie dies bei der
Entscheidung über seine Listenplatzierung der Fall wäre, freiwillig unterworfen hat (vgl.
BVerfGE 7, 63 <70 f.>).
Eine Beeinträchtigung der Chancengleichheit von Wahlbewerbern, die auf
unterschiedlichen Bezirkslisten kandidieren, erscheint möglich, wenn - wie von der
Einsprechenden vertreten - die Zuteilung von Ausgleichsmandaten isoliert, d. h.
unabhängig von der bereits erfolgten Verteilung der Grundmandate, in einem
Berechnungsverfahren nach Hare-Niemeyer vorgenommen wird. Eine derartige
Berechnungsweise hätte, wie dargelegt und aus dem vom Landeswahlleiter
veröffentlichten vorläufigen Wahlergebnis auch ersichtlich, regelmäßig zur Folge, dass
die zu vergebenden Ausgleichsmandate den Bezirkslisten wiederum in der gleichen
Reihenfolge wie die Grundmandate, d. h. beginnend mit den stimmenstärksten Listen,
zugeteilt werden müssten. Hinzu kommt, dass aufgrund der zweimaligen Anwendung
des Verfahrens nach Hare-Niemeyer die dort möglichen erheblichen
Aufrundungsschritte bei einzelnen Listen zu einem gleich zweifachen Mandatszuwachs
führen könnten, der - etwa beim Vergleich zweier nahezu gleich starker Bezirkslisten -
dann außer Verhältnis zu den tatsächlichen Stimmenanteilen stünde. Zutreffend weisen
die Beteiligten zu 5. und 9. darauf hin, dass im Fall der Zuteilung des
streitgegenständlichen Ausgleichsmandats an die Bezirksliste Steglitz-Zehlendorf - im
Sinne der Auffassung der Einsprechenden - die Bezirksliste bei insgesamt 18.342
erzielten Stimmen drei Mandate erhielte; für ein Mandat müssten demnach 6.114
Stimmen aufgebracht werden. Für die Bezirksliste Tempelhof-Schöneberg des
Beteiligten zu 9. verbliebe in diesem Fall lediglich ein Mandat, für das insgesamt 13.029
Stimmen abgegeben worden wären. Demgegenüber sind die erforderlichen
Stimmenzahlen bei der vom Landeswahlausschuss vorgenommenen Berechnung
deutlich angenähert (Bezirksliste Steglitz-Zehlendorf: 9.171 Stimmen pro Mandat;
Bezirksliste Tempelhof-Schöneberg: 6.514 Stimmen pro Mandat).
c) Soweit sich die Einsprechende schließlich darauf beruft, die Verfahrensweise des
Landeswahlausschusses in dessen Sitzung vom 5. Oktober 2006 habe rechtsstaatlichen
Grundsätzen nicht entsprochen, kann dahinstehen, ob der Ausschuss gehalten war, vor
seiner Entscheidung den von der strittigen Rechtsfrage betroffenen Bewerbern, und
damit auch dem Einsprechenden, Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben. Die
unterbliebene Anhörung hat sich jedenfalls nicht ausgewirkt, da die Entscheidung des
Landeswahlausschusses - wie dargestellt - auf einer zutreffenden Auslegung und
Anwendung der gesetzlichen Vorschriften beruht. Auch im Übrigen ist kein Verstoß
gegen Vorschriften des Grundgesetzes, der Verfassung von Berlin, des
Landeswahlgesetzes oder der Landeswahlordnung gegeben, durch den die vom
Landeswahlausschuss wahlrechtskonform ermittelte Sitzverteilung rechtswidrig sein
könnte.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 33, § 34 Abs. 2 VerfGHG.
Dieses Urteil ist unanfechtbar.
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