Urteil des VerfGH Berlin vom 14.03.2017

VerfGH Berlin: aufschiebende wirkung, duldung, abschiebung, öffentliche gewalt, nulla poena sine culpa, zusicherung, strafbarkeit, vollziehung, aussetzung, verfassungsbeschwerde

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Gericht:
Verfassungsgerichtshof
des Landes Berlin
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
34/00
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
Art 19 Abs 4 S 1 GG, Art 7 Verf
BE, Art 15 Abs 4 S 1 Verf BE, §
3 Abs 1 S 1 AuslG 1990, § 3
Abs 1 S 1 AuslG
(VerfGH Berlin: Verletzung des Anspruch auf Gewährleistung
vorläufigen effektiven fachgerichtlichen Rechtsschutzes durch
Verurteilung wegen illegalen Aufenthalts im Bundesgebiet -
einschränkende Auslegung und Anwendung der Strafvorschrift
des AuslG § 92 Abs 1 Nr 1 bei Zusicherung der
Ausländerbehörde, eine Abschiebung nicht vorzunehmen -
Zumutbarkeit normgerechten Verhaltens - abweichende
Meinung)
Tenor
1. Der Beschluss des Kammergerichts vom 17. Januar 2000 - (3) 1 Ss 367/99 (109/99) -
sowie das Urteil des Amtsgerichts Tiergarten vom 22. Juli 1999 - 239 Ds 415/98 -
verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 15 Abs. 4 Satz 1 der
Verfassung von Berlin, soweit sie eine Strafbarkeit des Beschwerdeführers gemäß § 92
Abs. 1 Nr. 1 AuslG für den Zeitraum 4. Januar 1996 bis zum 16. Juli 1997 feststellen. Sie
werden insoweit aufgehoben. Die Sache wird an diesem Umfang an das Amtsgericht
Tiergarten zurückverwiesen.
Gründe
I.
Der 1970 geborene Beschwerdeführer ist türkischer Staatsangehöriger. Im August 1994
heiratete er in der Türkei eine 1962 geborene deutsche Staatsangehörige und reiste im
Oktober 1994 mit einem auf drei Monate befristeten Visum der Deutschen Botschaft in
Ankara zum Zwecke der Familienzusammenführung nach Berlin ein.
Die Berliner Ausländerbehörde sah nach Prüfung eine auf Dauer angelegte
Lebensgemeinschaft nicht für gegeben an. Durch Bescheid vom 9. August 1995, dem
Beschwerdeführer zugestellt am 14. August 1995, verweigerte sie die beantragte
Aufenthaltserlaubnis mit dieser Begründung und forderte den Beschwerdeführer unter
Androhung der Abschiebung zur Ausreise innerhalb eines Monats nach Zustellung des
Bescheides auf. Zugleich wies die Ausländerbehörde darauf hin, dass der Aufenthalt in
der Bundesrepublik ohne Aufenthaltsgenehmigung nach § 92 Abs. 1 AuslG mit
Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr und mit Geldstrafe bestraft werden könne, und zwar
auch im Falle der Einlegung etwaiger Rechtsbehelfe gegen den Bescheid.
Den vom Beschwerdeführer am 31. August 1995 erhobenen Widerspruch sowie seinen
zugleich gestellten Antrag auf Aussetzung der Vollziehung gemäß § 80 Abs. 4 VwGO
wies die Senatsverwaltung für Inneres durch Widerspruchsbescheid vom 28. November
1995, dem Beschwerdeführer zugestellt am 30. November 1995, zurück.
Der Beschwerdeführer erhob im Dezember 1995 gegen das Land Berlin
Verpflichtungsklage auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis vor dem Verwaltungsgericht
Berlin (VG 11 A 670.95) und beantragte anschließend am 4. Januar 1996 die Gewährung
vorläufigen verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes (VG 11 A 2.96). Das
Landeseinwohneramt sicherte dem Verwaltungsgericht auf dessen Bitte mit Schreiben
vom 4. Januar 1996 zu, dass es die Abschiebung des Beschwerdeführers bis zu einer
Entscheidung des Gerichts über den Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO nicht vollziehen
werde.
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Am 16. Juli 1997 nahm der Beschwerdeführer den Antrag auf Gewährung vorläufigen
Rechtsschutzes und im September 1997 auch die Verpflichtungsklage auf Erteilung einer
Aufenthaltserlaubnis zurück.
Nach erfolgter Scheidung heiratete der Beschwerdeführer im März 1998 eine andere
deutsche Staatsangehörige und erhielt auf Antrag vom 18. März 1998 eine
Aufenthaltserlaubnis für die Dauer von drei Jahren. Seit dem Jahr 2001 ist er im Besitz
einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis.
Am 22. Juli 1999 verurteilte das Amtsgericht Tiergarten den Beschwerdeführer wegen
unerlaubten Aufenthalts im Bundesgebiet gemäß § 92 Abs. 1 Nr. 1 AuslG zu einer
Freiheitsstrafe von sechs Monaten, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt
wurde. Er habe sich in der Zeit vom 15. September 1995 bis zum 18. März 1998 ohne
Genehmigung und ohne Duldung in der Bundesrepublik Deutschland aufgehalten. Die
schriftliche Zusicherung des Landeseinwohneramtes gegenüber dem
Verwaltungsgericht, bis zu einer Entscheidung über den Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO
die Abschiebung des Beschwerdeführers nicht zu vollziehen, stehe der Illegalität des
Aufenthalts nicht entgegen. Der Beschwerdeführer habe auch schuldhaft gehandelt, da
er im Bescheid des Landeseinwohneramtes darauf hingewiesen worden sei, dass die
Strafbarkeit eines nicht erlaubten Aufenthalts im Bundesgebiet nicht durch die Einlegung
etwaiger Rechtsbehelfe beseitigt werde.
Gegen das Urteil des Amtsgerichts Tiergarten legte der Beschwerdeführer
Sprungrevision ein. Unter Berufung auf das Gebot effektiven Rechtsschutzes führte er
aus: Sein Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland sei in der Zeit vom 15.
September 1995 bis zum 30. November 1995 und vom 4. Januar 1996 bis zum 16. Juli
1997 nicht strafbar gewesen. Der erste Zeitraum sei die Phase des
Widerspruchsverfahrens gewesen. Während dieser dulde die Berliner Ausländerbehörde
den weiteren Aufenthalt stets, wenn der Widerspruch, wie hier, mit einem Antrag auf
Aussetzung der Vollziehung verbunden werde. Bei dem zweiten Zeitraum handele es
sich um das vorläufige Rechtsschutzverfahren. Diesbezüglich habe die
Ausländerbehörde dem Verwaltungsgericht zugesichert, den Beschwerdeführer bis zur
Entscheidung über den Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO nicht abzuschieben. Eine
Aussetzung der Abschiebung stelle entsprechend der Klarstellung des Gesetzgebers in §
55 Abs. 1 AuslG eine Duldung des Aufenthalts dar.
Mit Schreiben vom 3. Dezember 1999 beantragte die Staatsanwaltschaft bei dem
Kammergericht, das Urteil des Amtsgerichts Tiergarten im Strafausspruch aufzuheben
und die Sache insoweit an eine andere Abteilung des Amtsgerichts zu neuer
Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen, die weitergehende Revision jedoch
als offensichtlich unbegründet zu verwerfen. Unabhängig davon, wie die
Ausländerbehörde in anderen Fällen zu verfahren pflege, habe sie dem
Beschwerdeführer hier jedenfalls für die Dauer seines Widerspruchsverfahrens eine
Duldung tatsächlich nicht erteilt. Auch ihre Stillhaltezusage gegenüber dem
Verwaltungsgericht vom 4. Januar 1996 stelle rechtlich keine Duldung im Sinne von § 55
AuslG dar. Sie habe sich an das Gericht, nicht an den Beschwerdeführer als Betroffenen
gerichtet.
Durch Beschluss vom 17. Januar 2000 verwarf das Kammergericht hinsichtlich des
Schuldspruchs die Revision als offensichtlich unbegründet. Es schloß sich in seiner
Begründung der Stellungnahme der Staatsanwaltschaft an. Hinsichtlich des
Rechtsfolgenausspruchs hob es das Urteil des Amtsgerichts auf und verwies die Sache
insoweit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine andere Abteilung des
Amtsgerichts zurück, weil das Amtsgericht im Hinblick darauf, dass sich der
Beschwerdeführer mit seiner Ansicht, das Schreiben des Landeseinwohneramtes an das
Verwaltungsgericht vom 4. Januar 1996 komme einer Duldung gleich, auf einen -
vermeidbaren - Verbotsirrtum berufen habe und das Amtsgericht daher die
Milderungsmöglichkeit des § 49 Abs. 1 StGB hätte prüfen müssen.
Mit der am 27. März 2000 erhobenen Verfassungsbeschwerde wendet sich der
Beschwerdeführer gegen den vorgenannten Beschluss des Kammergerichts und gegen
das vorausgegangene Urteil des Amtsgerichts Tiergarten hinsichtlich des
Strafausspruchs für die Zeiträume 15. September 1995 bis 30. November 1995 und 4.
Januar 1996 bis 16. Juli 1997. Er rügt die Verletzung des verfassungsrechtlichen
Anspruchs auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes (Art. 15 Abs. 4 Satz 1 VvB) sowie
des Grundrechts der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 7 VvB) in Verbindung mit dem
Rechtsstaatsprinzip.
Es sei seitens des Bundesverfassungsgerichts auch für das Aufenthaltsrecht des
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Es sei seitens des Bundesverfassungsgerichts auch für das Aufenthaltsrecht des
Ausländers anerkannt, dass die Vollziehung eines Verwaltungsaktes bis zu seiner
Rechtsbeständigkeit unter dem verfassungsrechtlichen Vorbehalt einer Garantie
umfassenden und wirksamen Rechtsschutzes stehe. Damit namentlich der
verwaltungsgerichtliche Eilrechtsschutz Effektivität erlangen könne, sei vorher von
Maßnahmen des Verwaltungszwanges und von strafrechtlicher Verfolgung abzusehen.
Das Kammergericht und das Amtsgericht Tiergarten hätten versäumt, sich mit dem
Gebot, effektiven Rechtsschutz zu gewähren, auseinanderzusetzen. Es hätte
berücksichtigt werden müssen, dass die Ausländerbehörde im verwaltungsgerichtlichen
Eilverfahren klargestellt habe, dass der Aufenthalt des Beschwerdeführers unter
Aussetzung der Abschiebung bis zum Abschluß des Eilverfahrens hingenommen werde.
Der behördliche Vollstreckungsverzicht müsse auch strafrechtliche Bedeutung erlangen.
Der Adressat des Verwaltungsakts dürfe durch die Strafbewehrung nicht zu einer
Befolgung des mit dem Verwaltungsakt einhergehenden Verhaltensgebots gezwungen
werden, wenn die Behörde von einem Vollzug abgesehen habe. Der Betroffene müßte
ansonsten zur Vermeidung einer strafgerichtlichen Verurteilung der Anordnung der
Behörde nachkommen, obgleich ihm von der Behörde konzediert worden sei, dazu
jedenfalls vorübergehend nicht verpflichtet zu sein.
Gleiches gelte für die Dauer des Widerspruchsverfahrens für den Fall, dass die
Aussetzung der Vollziehung nach § 80 Abs. 4 VwGO beantragt worden sei. Insofern
nimmt der Beschwerdeführer auf die von ihm in Kopie vorgelegte ausländerbehördliche
Weisung A.IX. 1. (08944) Bezug und macht geltend, auch aus ihr ergebe sich, dass die
Durchsetzung der Ausreiseverpflichtung bis zur Entscheidung über den Antrag nach § 80
Abs. 4 VwGO ausgesetzt bleibe. Stelle die Behörde in Anbetracht des Antrags gemäß §
80 Abs. 4 VwGO den Vollzug zurück, suspendiere sie damit ihr vorheriges Verlangen
nach einer Befolgung des ausgesprochenen Gebots. Daher habe auch für den Zeitraum
vom 15. September bis zum 30. November 1995 eine Bestrafung wegen unerlaubten
Aufenthalts im Bundesgebiet unterbleiben müssen.
Der Beschwerdeführer werde durch die vorliegende Bestrafung, bezogen auf die
aufgeführten beiden Zeiträume, auch in seiner verfassungsrechtlich geschützten
allgemeinen Handlungsfreiheit nach Art. 7 VvB in Verbindung mit dem
Rechtsstaatsprinzip verletzt. Setze die Ausländerbehörde die Vollziehung aus, dann sei
der Betroffene, der ein im Rechtsstaat allein gesetzmäßiges Verhalten erwarten dürfe, in
seinem Vertrauen darauf geschützt, dass nicht gleichwohl mit strafrechtlichen Mitteln
auf eine Befolgung des angefochtenen Verwaltungsakts hingewirkt werde.
Gemäß § 53 Abs. 1 VerfGHG ist den Beteiligen Gelegenheit gegeben worden, sich zu der
Verfassungsbeschwerde zu äußern.
II.
Die Verfassungsbeschwerde hat teilweise Erfolg.
1. Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig.
Nach § 49 Abs. 1 VerfGHG kann jedermann mit der Behauptung, durch die öffentliche
Gewalt des Landes Berlin in einem seiner in der Verfassung von Berlin enthaltenen
Rechte verletzt zu sein, Verfassungsbeschwerde zum Verfassungsgerichtshof erheben.
Soweit - wie hier - Gegenstand der Verfassungsbeschwerde auf Bundesrecht beruhende
Entscheidungen Berliner Gerichte sind, besteht die Prüfungsbefugnis des
Verfassungsgerichtshofs in den Grenzen der Art. 142, 31 GG hinsichtlich solcher
Grundrechte aus der Verfassung von Berlin, die mit vom Grundgesetz verbürgten
Grundrechten übereinstimmen (st. Rspr.; u. a. Beschluss vom 2. Dezember 1993 -
VerfGH 89/93 - LVerfGE 1, 169 <179 ff.>; Beschluss vom 6. Oktober 1998 - VerfGH
32/98 - NJW 1999, 47). Vor diesem Hintergrund kann der Beschwerdeführer die
Verletzung des mit Art. 19 Abs. 4 GG inhaltsgleichen Art. 15 Abs. 4 VvB sowie die
Verletzung des in Art. 7 VvB in Übereinstimmung mit Art. 2 Abs. 1 GG verbürgten
Grundrechts der allgemeinen Handlungsfreiheit rügen.
Zwar gehört zur öffentlichen Gewalt im Sinne von Art. 19 Abs. 4 GG bzw. Art. 15 Abs. 4
VvB nach ständiger Rechtsprechung nicht die rechtsprechende Gewalt (Beschluss vom
21. Dezember 2001 - VerfGH 138/01 - m w. N. zur Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts). Dies ändert jedoch nichts daran, dass aus diesen
Grundrechten die Pflicht der rechtsprechenden Gewalt folgt, effektiven Rechtsschutz
gegenüber der Exekutive zu gewähren (Beschluss vom 21. Februar 2001 - VerfGH 71/01,
71 A/01 - ; zum Bundesrecht: BVerfGE 69, 220 <228 f.>).
2. Die Verfassungsbeschwerde ist begründet, soweit sie sich gegen die Strafbarkeit des
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2. Die Verfassungsbeschwerde ist begründet, soweit sie sich gegen die Strafbarkeit des
Beschwerdeführers nach § 92 Abs. 1 Nr. 1 AuslG während der Dauer des
verwaltungsgerichtlichen Eilverfahrens nach § 80 Abs. 5 VwGO im Zeitraum 4. Januar
1996 bis zum 16. Juli 1997 wendet. Insofern verletzen das Urteil des Amtsgerichts
Tiergarten sowie der Beschluss des Kammergerichts den Beschwerdeführer in seinem in
Art. 15 Abs. 4 Satz 1 VvB gewährleisteten Anspruch auf Gewährung effektiven
Rechtsschutzes. Der Strafausspruch im Hinblick auf den Verbleib des Beschwerdeführers
im Bundesgebiet während des behördlichen Aussetzungsverfahrens nach § 80 Abs. 4
VwGO im Zeitraum 15. September 1995 bis 30. November 1995 unterliegt hingegen
keinen verfassungsrechtlichen Bedenken.
Der Beschwerdeführer hat sich im Widerspruchsverfahren und im
verwaltungsgerichtlichen Eil- und Klageverfahren gegen die ausländerbehördliche
Ablehnung der Aufenthaltserlaubnis sowie die Abschiebungsandrohung und damit gegen
Akte der öffentlichen Gewalt gewandt. Derartige Akte der Exekutive dürfen richterlicher
Nachprüfung nicht entzogen werden. Nach Art. 15 Abs. 4 Satz 1 VvB steht demjenigen,
der durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt wird, der Rechtsweg offen. Art.
15 Abs. 4 VvB beinhaltet nicht nur das formelle Recht und die theoretische Möglichkeit,
die Gerichte anzurufen, sondern garantiert vielmehr auch die Effektivität des
Rechtsschutzes. Das Verfahrensgrundrecht begründet einen substantiellen Anspruch
des Einzelnen auf eine tatsächlich wirksame gerichtliche Kontrolle, bevor vollendete
Tatsachen eintreten, die den Rechtsschutz ins Leere laufen lassen (vgl. zum
Bundesrecht: BVerfGE 35, 263 <274>; 49, 329 <340 f.>; Driehaus in: derselbe,
Verfassung von Berlin, 2002, Art. 15 Rn. 22). Art. 15 Abs. 4 VvB prägt insbesondere den
vorläufigen Rechtsschutz im fachgerichtlichen Verfahren. Die nach § 80 Abs. 1 VwGO für
den Regelfall vorgeschriebene aufschiebende Wirkung von Widerspruch und
verwaltungsgerichtlicher Klage ist eine adäquate Ausprägung der verfassungsrechtlichen
Rechtsschutzgarantie und ein fundamentaler Grundsatz des öffentlichrechtlichen
Prozesses. Ohne die aufschiebende Wirkung von Widerspruch und Klage könnte der
Verwaltungsgerichtsschutz im Hinblick auf die Dauer der Verfahren häufig hinfällig sein,
weil bei sofortiger Vollziehung des Verwaltungsakts regelmäßig vollendete Tatsachen
geschaffen werden. Das Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO, das den von einem sofort
vollziehbaren Verwaltungsakt Betroffenen davor bewahren soll, dass durch die
Verwaltung nicht mehr korrigierbare Zustände geschaffen werden, ehe das Gericht über
die Hauptsache entschieden hat, ist demgemäß ebenfalls eine adäquate Ausprägung
des in der Verfassung garantierten Rechtsschutzes (vgl. zum Bundesrecht: BVerfGE 35,
263 <273 ff.>; 382 <401 f.>; BVerfG, Beschluss vom 4. Juni 1987 - 1 BvR 620/87 - NJW
1987, 2219). Art. 15 Abs. 4 VvB verlangt daher, einen möglichst lückenlosen Schutz vor
dem Eintritt auch endgültiger Folgen der sofortigen Vollziehung hoheitlicher Maßnahmen
zu bieten (Beschluss vom 24. Januar 2002 - VerfGH 193 A/01 -; vgl. zum Bundesrecht:
BVerfGE 94, 166 <216>).
Amtsgericht und Kammergericht haben Bedeutung und Tragweite des in Art. 15 Abs. 4
VvB gewährleisteten effektiven vorläufigen verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes
gegen den Bescheid des Landeseinwohneramtes vom 9. August 1995 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides der Senatsverwaltung für Inneres vom 28. November 1995
dadurch verkannt, dass sie eine Strafbarkeit nach § 92 Abs. 1 Nr. 1 AuslG bejahten, weil
der Beschwerdeführer während der Dauer des verwaltungsgerichtlichen Eilverfahrens in
der Bundesrepublik verblieben und seiner Ausreiseverpflichtung nicht freiwillig
nachgekommen war, obwohl die Ausländerbehörde auf den vorläufigen
Rechtsschutzantrag nach § 80 Abs. 5 VwGO mit Schreiben vom 4. Januar 1996 auf die
Vollziehung der Abschiebung für diesen Zeitraum verzichtet hatte.
Bei den Strafvorschriften des Ausländerstrafrechts handelt es sich um sog.
verwaltungsakzessorische Delikte, die an verwaltungsrechtliche Vorgaben anknüpfen.
Die Bestrafung hängt von dem Fehlen von Genehmigungen bzw. dem Nichtbefolgen von
Verwaltungsakten ab. Nach § 92 Abs. 1 Nr. 1 StGB wird ein Ausländer bestraft, der sich
entgegen § 3 Abs. 1 Satz 1 AuslG ohne Aufenthaltsgenehmigung im Bundesgebiet
aufhält und keine Duldung nach § 55 Abs. 1 AuslG besitzt. Ferner ist erforderlich, dass
die Ausreisepflicht gemäß § 42 Abs. 1 AuslG oder die Abschiebungsandrohung
vollziehbar sowie eine eventuell gesetzte Ausreisefrist abgelaufen ist (Stoppa in: Huber,
Handbuch des Ausländer- und Asylrechts, § 92 AuslG , Rn. 7, 20).
Diese Voraussetzungen lagen allerdings vor, da auch in den streitigen Zeiträumen 15.
September 1995 bis 30. November 1995 sowie 4. Januar 1996 bis 16. Juli 1997 der
Beschwerdeführer sich ohne Aufenthaltsgenehmigung im Bundesgebiet aufhielt und
keine Duldung nach § 55 Abs. 1 AuslG besaß. Insbesondere kann weder in einer
Nichtvollziehung der Abschiebung während des Widerspruchsverfahrens bei Stellung
eines Antrags nach § 80 Abs. 4 VwGO noch in der konkret im Rahmen des
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eines Antrags nach § 80 Abs. 4 VwGO noch in der konkret im Rahmen des
verwaltungsgerichtlichen Eilverfahrens am 4. Januar 1996 erfolgten Zusicherung des
Landeseinwohneramtes an das Verwaltungsgericht, die Abschiebung bis zur
gerichtlichen Entscheidung nicht zu vollziehen, eine Duldungserteilung gesehen werden.
Eine Duldung im Sinne des § 55 Abs. 1 AuslG liegt nur vor, wenn die Ausländerbehörde in
der nach § 66 Abs. 1 Satz 1 AuslG ausdrücklich vorgesehenen Schriftform dem
betroffenen Ausländer gegenüber einen entsprechenden begünstigenden
Verwaltungsakt (vgl. BVerwGE 105, 232 <239>) erlässt. Es widerspräche sowohl der
Förmlichkeit als auch dem Zweck der Duldung, auch andere (ggf. stillschweigende)
Erklärungen der Behörde über die Aussetzung der Abschiebung als Duldung zu bewerten
(BVerwGE 105, 232 <236>; Aurnhammer, Spezielles Ausländerstrafrecht, 1996, S. 134
Fn. 58; Masuch in Huber, Handbuch des Ausländer- und Asylrechts, § 55 AuslG
März 2001>, Rn. 5). Die weiteren Voraussetzungen des § 92 Abs. 1 Nr. 1 AuslG waren
ebenfalls erfüllt: Sowohl die Ausreisepflicht nach § 42 Abs. 2 Satz 2 AuslG i.V.m. § 72
Abs. 1 AuslG als auch die Abschiebungsandrohung nach § 4 Abs. 1 AG VwGO waren
vollziehbar mit der Folge, dass Widerspruch und Anfechtungsklage keine aufschiebende
Wirkung entfalten konnten. Die einmonatige Ausreisefrist war am 15. September 1995
abgelaufen. Da bei sofort vollziehbaren Verwaltungsakten das dem Betroffenen
ansonsten infolge der aufschiebenden Wirkung von Widerspruch und Klage nach § 80
Abs. 1 VwGO zugestandene Privileg, dem Verwaltungsakt noch nicht Folge leisten zu
müssen, entfällt, hatte der Beschwerdeführer grundsätzlich das Bundesgebiet bis zum
Ablauf der ihm gesetzten Ausreisefrist zu verlassen. Die Strafandrohung des § 92 Abs. 1
Nr. 1 AuslG steht insoweit nicht im Widerspruch zum Verwaltungsprozeßrecht (vgl.
Aurnhammer a.a.O. S.128).
Es ist jedoch verfassungsrechtlich geboten, § 92 Abs. 1 Nr. 1 AuslG dahingehend
einschränkend auszulegen, dass eine Strafbarkeit des Ausländers nach dieser Vorschrift
entfällt, wenn der Ausländer zwar weder im Besitz einer Aufenthaltsgenehmigung noch
einer Duldung ist, die Ausländerbehörde aber im Rahmen eines gerichtlichen Verfahrens
die Zusicherung gegenüber dem Gericht erteilt, die Abschiebung des Beschwerdeführers
bis zu einer Entscheidung des Gerichts nicht zu vollziehen.
Aus der Garantie effektiven Rechtsschutzes in Art. 15 Abs. 4 VvB folgt, dass der
Rechtsschutz nicht durch Strafdrohungen unterlaufen werden darf. Der Betroffene muß
zunächst Gelegenheit haben, einen Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes
nach § 80 Abs. 5 VwGO zu stellen, um durch eine gerichtliche Entscheidung noch vor
Beginn der Vollziehung des Verwaltungsaktes deren Aussetzung erreichen zu können
(Sauthoff NVwZ 1988, 697 <698>; Aurnhammer a.a.O. S. 132; vgl. auch BVerwGE 16,
289 <294>). Die Ausreisefrist gewährleistet im Hinblick auf die Garantie effektiven
Rechtsschutzes, dass der Ausländer wirksamen Rechtsschutz erlangen kann, indem er
für die Dauer der Ausreisefrist vor der Illegalität bewahrt wird (Odenthal NStZ 1991, 418
<419>; Welte, Praxishilfen Ausländerrecht, Gruppe 1 , Rn. 10/9;
BVerwG, Urteil vom 22. Dezember 1997 - 1 C 14/96 - InfAuslR 1998, 217 <218 f.>).
Solange eine beantragte gerichtliche Entscheidung noch nicht ergangen ist, ist es wegen
der einschneidenden Wirkung einer Abschiebung im Interesse effektiven Rechtsschutzes
regelmäßig geboten, von der Vollstreckung abzusehen. Der Vollstreckungsschutz kraft
Verfassungsrechts suspendiert zugleich den Einsatz strafrechtlicher Mittel. Es läge ein
unhaltbarer Widerspruch darin, ein Verhalten strafrechtlich als Unrecht zu bewerten, das
die Verfassung legitimiert (Aurnhammer a.a.O. S. 132 f.). Die in der Rechtsprechung
zum Ausländerstrafrecht vertretene Auffassung, ein Ausländer sei ohne Rücksicht auf
die Einlegung von Rechtsbehelfen gegen die ausländerbehördlichen Maßnahmen wegen
unerlaubten Aufenthalts im Bundesgebiet zu verurteilen, wenn der Verwaltungsakt
vollziehbar sei und die Einlegung von Rechtsbehelfen daher keine aufschiebende Wirkung
habe (so z. B. OLG Frankfurt, Urteil vom 21. August 1987 -1 Ss 488/86 - StV 1988, 301
<302>; Kammergericht, Beschluss vom 15. Januar 1998 - <4> Ss 113/97 - StV 1999,
95 <96>), ist im Hinblick auf die Garantie effektiven Rechtsschutzes jedenfalls insoweit
verfassungsrechtlich bedenklich, als ohne Einschränkung eine Strafbarkeit im Hinblick
auf den Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet während des gerichtlichen
Eilverfahrens angenommen wird, selbst wenn der Ausländer innerhalb der ihm
eingeräumten Ausreisefrist den Eilantrag stellt, eine gerichtliche Entscheidung jedoch
nicht mehr innerhalb dieser Frist ergeht (vgl. auch Aurnhammer a.a.O. S. 132 f.; Wolf,
StV 1988, 303; Rittstieg InfAuslR 1988, 17; Welte a.a. O. Rn. 10/8).
Für den vorliegenden Fall ist allerdings zu beachten, dass der Beschwerdeführer bereits
vor dem 4. Januar 1996 hinreichend Gelegenheit zur Stellung eines vorläufigen
Rechtsschutzantrages hatte. Der Beschwerdeführer hätte in der ihm gewährten
einmonatigen Ausreisefrist, die mit der einmonatigen Widerspruchsfrist des § 70 Abs. 1
VwGO zusammenfiel, neben dem von ihm bei der Ausländerbehörde eingelegten
Widerspruch und anstelle des Antrages nach § 80 Abs. 4 VwGO sogleich beim
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Widerspruch und anstelle des Antrages nach § 80 Abs. 4 VwGO sogleich beim
Verwaltungsgericht einen Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO stellen können.
Der Beschwerdeführer war rechtlich nicht gehalten, zunächst im Rahmen des
Widerspruchsverfahrens einen behördlichen Aussetzungsantrag gemäß § 80 Abs. 4
VwGO zu stellen; ein derartiger vorheriger Aussetzungsantrag ist nur bei der
Anforderung von öffentlichen Abgaben und Kosten erforderlich (§ 80 Abs. 2 Nr. 1, Abs. 6
Satz 1 VwGO). Dies bedeutet, dass - wie es die Garantie des effektiven Rechtsschutzes
grundsätzlich erfordert (vgl. dazu Schenke in Bonner Kommentar, Grundgesetz, Art. 19
Abs. 4 , Rn. 124) - auch während des Widerspruchsverfahrens
vorläufiger gerichtlicher Rechtsschutz sichergestellt ist. Es ist darum
verfassungsrechtlich nicht geboten, den Straftatbestand des § 92 Abs. 1 Nr. 1 AuslG für
die Zeit eines etwa während des Verfahrens nach § 80 Abs. 4 VwGO behördlicherseits
vorgenommenen Vollstreckungsverzichts auszuschließen, da der Ausländer zur
Vermeidung strafrechtlicher Folgen die Möglichkeit besitzt, während der Ausreise- und
Widerspruchsfrist sogleich im Wege eines Antrags nach § 80 Abs. 5 VwGO den
verwaltungsgerichtlichen Rechtsweg zu beschreiten. Art. 15 Abs. 4 VvB steht damit der
Annahme von Amtsgericht und Kammergericht, der Beschwerdeführer habe sich im
Zeitraum 15. September 1995 bis 30. November 1995 strafbar gemacht, nicht
entgegen. Art. 15 Abs. 4 VvB garantiert nur den Rechtsweg zu den Gerichten, nicht
hingegen die vorherige Überprüfung behördlicher Maßnahmen im Rahmen eines
vorgelagerten behördlichen Vorverfahrens. Das Verwaltungsverfahren entfaltet im
Hinblick auf einen effektiven gerichtlichen Rechtsschutz nur insofern „Vorwirkung", als
seine Ausgestaltung keine unzumutbare Schranke für den Zugang zum Gericht
darstellen und die Wirksamkeit des gerichtlichen Rechtsschutzes nicht verkürzen darf
(BVerfGE 61, 82 <109 f.>). Das Widerspruchsverfahren wird auch nicht etwa, wie der
Beschwerdeführer meint, dadurch entwertet, dass der Widerspruchsführer zur
Vermeidung einer strafrechtlichen Ahndung auf seine gerichtliche
Rechtsschutzmöglichkeit verwiesen wird. Denn im Falle einer Eilentscheidung des
Gerichts wird das Widerspruchsverfahren nicht obsolet. Vielmehr hat die Behörde
selbständig weiter zu prüfen, ob sie an ihrer Maßnahme festhält. Da es mit der
Gewährleistung des Art. 15 Abs. 4 VvB im Einklang steht, den fortdauernden Aufenthalt
des Ausländers im Bundesgebiet trotz eines etwaigen behördlichen
Vollstreckungsverzichts während des behördlichen Aussetzungsverfahrens nicht von der
strafrechtlichen Ahndung auszunehmen, kann es vorliegend auf sich beruhen, inwiefern
die vom Beschwerdeführer im Verfassungsbeschwerdeverfahren vorgelegte
ausländerbehördliche Weisung A. IX. 1 (08944), die zudem die Daten 7. Januar 1997, 26.
November 1998 und 9. Februar 2000 trägt, in Bezug auf das behördliche Verhalten
während des Aussetzungsverfahrens nach § 80 Abs. 4 VwGO überhaupt aussagekräftig
sein kann. Der vom Beschwerdeführer behauptete generelle vollumfängliche
Vollstreckungsverzicht der Ausländerbehörde während der Dauer des
Widerspruchsverfahrens für den Fall eines Aussetzungsantrags nach § 80 Abs. 4 VwGO
läßt sich jedenfalls dem Wortlaut dieser Weisung nicht entnehmen. Nach der Weisung ist
vielmehr, sofern der Hauptsachbearbeiter dem Antrag nach dessen Prüfung nicht
entspricht, zunächst die Ausreiseverpflichtung durchzusetzen, bevor die Akte zur
abschließenden Widerspruchsbearbeitung an die Widerspruchsstelle gesandt wird. Die
Behauptung des Beschwerdeführers, ihm gegenüber habe bis zur Zustellung des
Widerspruchsbescheides am 30. November 1995 ein behördlicher Verzicht hinsichtlich
der Vollziehung der Abschiebung vorgelegen, ist vor diesem Hintergrund nicht
nachvollziehbar.
Obwohl der Beschwerdeführer die Möglichkeit hatte, während der Ausreise- und
Widerspruchsfrist unverzüglich die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes beim
Verwaltungsgericht gemäß § 80 Abs. 5 VwGO zu beantragen, ist dennoch sein
fortdauernder Aufenthalt für die Dauer des verwaltungsgerichtlichen Eilverfahrens unter
Berücksichtigung von Art. 15 Abs. 4 VvB nicht strafbewehrt.
Allerdings läßt sich der vom Beschwerdeführer angeführten Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts (Beschluss vom 4. Juni 1987 - 1 BvR 620/87 - NJW 1987,
2219) nicht entnehmen, dass von Verfassungs wegen ohne nähere Berücksichtigung der
Umstände stets zu fordern ist, dass im Falle eines nicht offensichtlich unzulässigen oder
rechtsmißbräuchlichen Antrages nach § 80 Abs. 5 VwGO die Behörde von Maßnahmen
des Verwaltungszwanges abzusehen und damit korrespondierend eine strafrechtliche
Ahndung des Betroffenen auszuscheiden hat. Wie dargelegt, muss grundsätzlich dem
Ausländer im Hinblick auf die Garantie effektiven Rechtsschutzes allein die Gelegenheit
gegeben werden, im Rahmen der ihm eingeräumten Ausreisefrist vor dem Beginn der
Vollstreckung Eilrechtsschutz zu erlangen. Sichert jedoch die Behörde gegenüber dem
Gericht auf dessen Bitte für die Dauer des gerichtlichen Eilverfahrens zu, den
Verwaltungsakt nicht zu vollziehen, ergeben sich hieraus in verfassungsrechtlicher
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Verwaltungsakt nicht zu vollziehen, ergeben sich hieraus in verfassungsrechtlicher
Hinsicht Folgen für die Auslegung der Strafvorschrift des § 92 Abs. 1 Nr. 1 AuslG, auch
wenn es der Ausländer unterlassen hat, bereits im Rahmen der nicht strafbewehrten
Ausreisefrist den Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO zu stellen. Unmaßgeblich ist in diesem
Zusammenhang, dass es bei der Ausgestaltung des deutschen
Verwaltungsprozeßrechts und den verfassungsrechtlichen Garantien eines gehörigen
Verfahrens keine prinzipielle Verkürzung des effektiven Rechtsschutzes darstellt, wenn
ein Betroffener darauf verwiesen ist, seinen Rechtsschutz durch deutsche Gerichte vom
Ausland her zu betreiben (Beschlüsse vom 28. Juni 2001 - VerfGH 79/00, 79 A/00 und
vom 21. Februar 2002 - VerfGH 71/01, 71 A/01 -). Denn jedenfalls befand sich der
Beschwerdeführer zum Zeitpunkt der Eilantragstellung noch im Bundesgebiet. Auch
wenn der Betroffene den Antrag nicht zum frühestmöglichen Zeitpunkt stellt, ändert dies
nichts daran, dass die Garantie der Gewährung effektiven Rechtsschutzes es gebietet,
dass eine gerichtliche Entscheidung ergeht, bevor bis dahin noch nicht vollzogene
Maßnahmen - hier in Gestalt der Abschiebung - doch noch zwangsweise durchgesetzt
werden. Hätte das Landeseinwohneramt keine Zusicherung erteilt, wäre das Gericht
daher zu einer umgehenden Entscheidung - ggf. im Wege einer Zwischenentscheidung
in Anwendung des § 80 Abs. 8 VwGO - verpflichtet gewesen. Damit erfolgte die auf die
Bitte des Verwaltungsgerichts erteilte Zusicherung nicht nur zu dem Zweck, dem
Verwaltungsgericht ausreichend Zeit für eine Eilentscheidung zu belassen. Daneben
hatte sie die Funktion, dem Beschwerdeführer für die Dauer des Eilverfahrens die
Verfolgung seines Rechtsschutzes vom Bundesgebiet aus zu ermöglichen. Wird der
Aufenthalt eines Ausländers bis zur Entscheidung über seinen Eilantrag nach § 80 Abs. 5
VwGO durch Zwangsmaßnahmen nicht beendet, um dem Ausländer im Interesse
effektiven Rechtsschutzes die Möglichkeit zu geben, sich weiter im Bundesgebiet
aufzuhalten, muss eine Strafbarkeit aber entfallen (vgl. Wolf StV 1988, 303; Welte a.a.O.
Rn. 10/8; Rittstieg InfAuslR 1988, 17; Odenthal NStZ 1991, 418 <421>). Wäre der
Betroffene hingegen zur Vermeidung einer strafrechtlichen Ahndung gezwungen, der
bestehenden Ausreisepflicht nachzukommen, würde dies den vom Gericht verfolgten
und mit der Einholung der Zusicherung erreichten Zweck, den Verbleib des Ausländers
im Bundesgebiet bis zu einer Entscheidung im vorläufigen Rechtsschutzverfahren zu
sichern, unterlaufen.
Selbst wenn Art. 15 Abs. 4 VvB keine einschränkende Auslegung und Anwendung der
Strafvorschrift des § 92 Abs. 1 Nr. 1 AuslG gebieten würde, hätte die
Verfassungsbeschwerde teilweise Erfolg. Amtsgericht und Kammergericht bejahen ohne
nähere Begründung ein tatbestandsmäßiges, rechtswidriges und schuldhaftes Verhalten
des Beschwerdeführers, ohne zudem zu erläutern, aus welchen Erwägungen heraus der
Verbotsirrtum des Beschwerdeführers, der darin bestand, dass der Beschwerdeführer
die Zusicherung des Landeseinwohneramtes vom 4. Januar 1996 als Duldung und damit
seinen Verbleib im Bundesgebiet für die Dauer des verwaltungsgerichtlichen
Eilverfahrens trotz des ausländerbehördlichen Bescheides vom 9. August 1995 als
gerechtfertigt bewertete, vermeidbar gewesen sein soll. Es unterliegt jedenfalls im
Hinblick auf das Grundrecht auf Gewährung vorläufigen effektiven gerichtlichen
Rechtsschutzes unter dem Gesichtspunkt der Zumutbarkeit normgerechten Verhaltens
verfassungsrechtlichen Bedenken, eine Strafbarkeit des Beschwerdeführers zu bejahen,
obwohl der Beschwerdeführer im Hinblick auf die Zusicherung vom 4. Januar 1996, ihn
bis zur Entscheidung des Verwaltungsgerichts im Eilverfahren nicht abzuschieben, in der
Bundesrepublik verblieben ist. Da dem Beschwerdeführer im Rahmen des § 92 Abs. 1 Nr.
1 AuslG vorgeworfen wird, trotz Ablehnung der Aufenthaltserlaubnis im Bundesgebiet
verblieben und seiner Ausreisepflicht nach § 42 Abs. 1 AuslG nicht nachgekommen zu
sein, liegt der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit auf dem Unterlassen der freiwilligen
Ausreise. Bei Unterlassungsdelikten ist zu prüfen, ob die Strafbarkeit nicht unter dem
Gesichtspunkt der Unzumutbarkeit des Handelns ausgeschlossen ist, wobei es für den
Fall, dass die Zumutbarkeit normgemäßen Handelns verneint wird, auf sich beruhen
kann, ob die Unzumutbarkeit Tatbestand, Rechtswidrigkeit oder Schuld ausschließt (OLG
Frankfurt, Urteil vom 21. August 1987 - 1 Ss 488/86 - StV 1988, 301 <302>;
Kammergericht, Urteil vom 15. Januar 1998 - <4> 1 Ss 113/97 - StV 1999, 95 <96>
sowie Beschluss vom 23. September 2001 - <3> Ss 198/01 <80/01> - NStZ-RR 2002,
220 <221>; Lenckner in: Schönke-Schröder, StGB, 26. Aufl. 2001, Vorbem. §§ 32 ff. Rn.
125). Es konnte von dem Beschwerdeführer nach den konkreten Umständen nicht
gefordert werden, Anstrengungen für ein normgemäßes Verhalten in Gestalt der
freiwilligen Ausreise zu unternehmen. Unzumutbar ist eine Handlung, wenn sie eigene
billigenswerte Interessen in erheblichem Umfang beeinträchtigt und diese in einem
angemessenen Verhältnis zum drohenden Erfolg stehen (Stree in: Schönke-Schröder
a.a.O., Vorbem. §§ 13 ff. Rn. 156). Wie dargelegt, erfolgte die Zusicherung auf Bitte des
Gerichts zu dem Zweck, die weitere Anwesenheit des Beschwerdeführers in der
Bundesrepublik zu sichern und auf diese Weise dem Gericht ausreichend Zeit für eine
Entscheidung zu geben, die bei drohender Abschiebung im Hinblick auf Art. 15 Abs. 4
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Entscheidung zu geben, die bei drohender Abschiebung im Hinblick auf Art. 15 Abs. 4
VvB anderenfalls umgehend zu treffen gewesen wäre. Hätte der Beschwerdeführer zur
Vermeidung einer Straffälligkeit freiwillig ausreisen müssen, wäre der Zweck der
Zusicherung verfehlt worden. Der Beschwerdeführer wäre gezwungen gewesen, sich der
ihm durch die Zusicherung eingeräumten Möglichkeit, das verwaltungsgerichtliche
Verfahren vom Bundesgebiet aus zu betreiben, wieder zu begeben. Art. 15 Abs. 4 VvB
gebietet jedoch, dass der Beschwerdeführer durch die - zumal gerichtlich veranlasste -
Zusicherung im Hinblick auf seine Rechtsverteidigung nicht schlechter gestellt wird, als
wenn das Gericht sofort entschieden hätte. Deswegen durfte eine freiwillige Ausreise zur
Vermeidung strafrechtlicher Sanktionen nicht als zumutbar angesehen werden.
Diese Grundsätze gelten, wie der Beschwerdeführer nicht verkennt, allerdings nur, wenn
und solange der Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz nach § 80 Abs. 5 VwGO und seine
Aufrechterhaltung nicht offensichtlich unzulässig oder rechtsmißbräuchlich ist (BVerfG in
NJW 1987, 2219). Unter diesem Gesichtspunkt haben die Strafgerichte in den
angegriffenen Entscheidungen den Sachverhalt jedoch nicht gewürdigt.
Da die Verfassungsbeschwerde, soweit sie den Zeitraum des verwaltungsgerichtlichen
Eilverfahrens betrifft, mithin schon in bezug auf die Rüge der Verletzung des Art. 15 Abs.
4 VvB Erfolg hat, bedarf es keiner Prüfung, ob insofern auch eine Verletzung des
Grundrechts aus Art. 7 VvB i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip in Betracht kommt.
Der Gesichtspunkt Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens lässt hinsichtlich des
Verbleibs des Beschwerdeführers im Bundesgebiet während der Dauer des behördlichen
Aussetzungsverfahrens im Zeitraum 15. September 1995 bis 30. November 1995 die
Strafbarkeit nach § 92 Abs. 1 Satz 1 AuslG hingegen nicht entfallen. Davon abgesehen,
dass Art. 15 Abs. 4 VvB wegen der Möglichkeit sofortigen vorläufigen gerichtlichen
Rechtsschutzes nicht die Annahme einer Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens
erfordert, fehlt es auch an einem von der Ausländerbehörde nach außen zur Kenntnis
des Beschwerdeführers gebrachten Willen, die Abschiebung in diesem Zeitraum
auszusetzen. Der Beschwerdeführer selbst hat nicht behauptet, die Ausländerbehörde
habe ihm gegenüber geäußert, ihn zunächst nicht abzuschieben. Wie dargelegt, lässt
sich darüber hinaus aus der vom Beschwerdeführer herangezogenen
ausländerbehördlichen Weisung gerade nicht der Schluss ziehen, dass Abschiebungen
im Falle eines Aussetzungsantrages generell für den Zeitraum des
Widerspruchsverfahrens ausgesetzt würden. Es sind deswegen auch keine
Anhaltspunkte ersichtlich, dass der Beschwerdeführer trotz des Hinweises im Bescheid
vom 9. August 1995, sich auch im Falle der Einlegung von Rechtsbehelfen strafbar zu
machen, eine Aussetzung der Vollziehung der Abschiebung für die Dauer des
Widerspruchsverfahrens überhaupt vermutet und sich aus diesem Grund für einen
Verbleib im Bundesgebiet entschlossen hat. Aus denselben Erwägungen kann sich der
Beschwerdeführer nicht darauf berufen, er sei in seinem Grundrecht aus Art. 7 VvB
i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip verletzt worden. Das Verhalten der Ausländerbehörde
während des Aussetzungsverfahrens nach § 80 Abs. 4 VwGO gab dem Beschwerdeführer
keinen Anlass, darauf zu vertrauen, bei einem Verbleib im Bundesgebiet nicht
strafrechtlich belangt zu werden.
Nach § 54 Abs. 3 VerfGHG sind die Entscheidungen des Amtsgerichts und des
Kammergerichts insoweit aufzuheben, als sie eine Strafbarkeit des Beschwerdeführers
gemäß § 92 Abs. 1 Nr. 1 AuslG im Zeitraum 4. Januar 1996 bis 16. Juli 1997 feststellen.
Die Sache ist in diesem Umfang in entsprechender Anwendung des § 95 Abs. 2 Halbsatz
2 BVerfGG an das Amtsgericht Tiergarten zurückzuverweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 33, 34 VerfGHG. Dieser Beschluss ist
unanfechtbar.
Abweichende Meinung
Die Entscheidung wird von uns im Ergebnis nur teilweise mitgetragen.
Wir folgen der Entscheidung insoweit, als sie den Beschwerdeführer in seinem
Grundrecht aus Art. 15 Abs. 4 Satz 1 der Verfassung von Berlin (VvB) als verletzt
ansieht, soweit der Beschluss des Kammergerichts vom 17. Januar 2002 und das Urteil
des Amtsgerichts Tiergarten vom 22. Juli 1999 eine Strafbarkeit des Beschwerdeführers
für den Zeitraum vom 4. Januar 1996 bis 16. Juli 1997 feststellen.
Wir sind der Auffassung, dass darüber hinaus eine Verletzung aus Art. 7 VvB vorliegt,
soweit die Strafgerichte festgestellt haben, dass der Beschwerdeführer sich auch im
Zeitraum vom 15. September 1995 bis 30. November 1995 strafbar gemacht haben
soll.
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Schutzgut des Art. 7 VvB ist eine allgemeine Handlungsfreiheit im umfassenden Sinne.
Das schließt jede Form des menschlichen Handelns sowie die Freiheit ein, etwas zu
unterlassen. Von Art. 7 VvB erfasst ist auch der im Rechtsstaatsprinzip begründete
Grundsatz „nulla poena sine culpa". Danach ist die strafrechtliche oder
strafrechtsähnliche Ahndung einer Tat ohne Schuld des Täters rechtswidrig und verletzt
den Betroffenen in seinem Grundrecht aus Art. 7 VvB (Beschluss vom 19. Januar 2000 -
VerfGH 34/99, NStZ-RR 2000, 143 ff.).
Eine Strafe ist dadurch gekennzeichnet, dass sie - wenn nicht ausschließlich - so doch
auch auf Mißbilligung und Vergeltung für ein rechtlich verbotenes Verhalten abzielt. Mit
der Strafe wird dem Täter ein Rechtsverstoß vorgehalten und zum Vorwurf gemacht. Ein
solcher strafrechtlicher Vorwurf aber setzt Vorwerfbarkeit, also strafrechtliche Schuld
voraus. Anderenfalls wäre die Strafe eine mit dem Rechtsstaatsprinzip unvereinbare
Vergeltung für einen Vorgang, den der Betroffene nicht zu verantworten hat. Die
strafrechtliche oder strafrechtsähnliche Ahndung einer Tat ohne Schuld des Täters ist
demnach rechtsstaatswidrig und verletzt den Betroffenen in seinem Grundrecht aus Art.
7 VvB (vgl. zu Art. 2 Abs. 1 GG BVerfGE 20, 323 <331>).
Im vorliegenden Fall drängt es sich zur Gewährung des rechtsstaatlich gebotenen
Grundsatzes, dass eine Strafe nur dann erfolgen kann, wenn die Tat vorwerfbar ist,
geradezu auf, auch das zu dem Antrag gemäß § 80 Abs. 4 VwGO erfolgte Vorbringen
des Angeklagten im Rahmen der Feststellung der Schuld, hinsichtlich eines
gegebenenfalls vorliegenden Verbotsirrtums zu prüfen:
Die Ausländerbehörde teilte dem Beschwerdeführer mit Schreiben vom 9. August 1995
mit, dass sein Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis vom 1. November 1994
abgelehnt werde. Dabei wurde er darauf hingewiesen, dass die Strafbarkeit durch die
Einlegung etwaiger Rechtsbehelfe nicht beseitigt werde. In der Rechtsbehelfsbelehrung
heißt es weiter:
„Es obliegt Ihnen, Ihre Belange und für Sie günstigen Umstände, soweit sie nicht
offenkundig und bekannt sind, unter Angabe nachprüfbarer Umstände unverzüglich, d.
h. in Ihrem Fall innerhalb der Ihnen gesetzten Frist zur freiwilligen Ausreise, geltend zu
machen. Wir weisen darauf hin, dass nach Ablauf der gesetzten Frist geltend gemachten
Umstände und beigebrachte Nachweise unberücksichtigt bleiben können (§ 70 Abs. 1
AuslG). Die Fristsetzung gilt auch für eventuelles Vorbringen im Widerspruchsverfahren
und im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nach § 80 Abs. 4 und 5 der VwGO in
der Fassung vom 19.03.1991 - BGBI. 1 S. 686 -."
Der Beschwerdeführer legte innerhalb der Ausreisefrist Widerspruch ein und beantragte,
gemäß § 80 Abs. 4 VwGO die Vollziehung des Bescheides auszusetzen. Im
Widerspruchsbescheid der Ausländerbehörde vom 28. November 1995 wurde der Antrag
gemäß § 80 Abs. 4 VwGO abgelehnt. Aus dem Protokoll der mündlichen Verhandlung vor
dem Amtsgericht Tiergarten vom 22. Juli 1999 heißt es im Zusammenhang der Aussage
des Beschwerdeführers:
„In meiner Aufenthaltssache hatte ich einen Anwalt beauftragt. Mir war eine
Aufenthaltsgenehmigung im August 95 abgelehnt worden. Dagegen legte ich
Widerspruch ein. Ich bin nicht untergetaucht. Der Rechtsanwalt sagte mir, dass ich mich
hier rechtmäßig aufhalte."
Der Strafverteidiger des Beschwerdeführers beantragte in der mündlichen Verhandlung,
den Referatsleiter bei der Berliner Ausländerbehörde, Herrn M., zu vernehmen zu der
Behauptung des Beschwerdeführers:
„dass die Berliner Ausländerbehörde den weiteren Aufenthalt eines Ausländers duldet,
wenn dieser seinen Widerspruch gegen die Versagung einer Aufenthaltsgenehmigung
mit einem Antrag auf Aussetzung der Vollziehung gemäß § 80 Abs. 4 VwGO verbindet".
Das Amtsgericht lehnte den Beweisantrag ab, da die in diesem Antrag enthaltene
Behauptung als wahr unterstellt werden könne (§ 244 Abs. 3 Satz 2 StPO).
Das Amtsgericht stellte in seinem Urteil vom 22. Juli 1999 fest:
„Er hat sich in der Zeit vom 15.09.1995 bis zum 18.03.1998 in der Bundesrepublik
Deutschland aufgehalten, ohne - wie er wusste - im Besitz einer hierfür erforderlichen
Aufenthaltsgenehmigung zu sein. Auch eine Duldung besaß er nicht."
Zwar geht es im weiteren ausdrücklich auf das Rechtsschutzverfahren nach § 80 Abs. 5
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Zwar geht es im weiteren ausdrücklich auf das Rechtsschutzverfahren nach § 80 Abs. 5
VwGO vor dem Verwaltungsgericht Berlin und die Zusicherung vom 4. Januar 1996 ein,
nicht jedoch auf den Antrag gemäß § 80 Abs. 4 VwGO, der zugleich mit dem Widerspruch
vom 30. August 1995 gestellt wurde. Im Rahmen der Strafzumessung wird weder die
Zeit des Rechtsschutzantrages beim Verwaltungsgericht noch des Antrages nach § 80
Abs. 4 VwGO angesprochen.
In der Revisionsbegründung vom 30. September 1999 führte der Beschwerdeführer
nochmals aus, dass das Amtsgericht seine Behauptung, dass die Berliner
Ausländerbehörde den weiteren Aufenthalt eines Ausländers duldet, wenn dieser seinen
Widerspruch gegen die Versagung einer Aufenthaltsgenehmigung mit einem Antrag auf
Aussetzung der Vollziehung gemäß § 80 Abs. 4 VwGO verbindet, als wahr unterstellte.
Die Staatsanwaltschaft führte hierzu in ihrer Stellungnahme vom 3. Dezember 1999 aus,
dass die Wahrunterstellung gemäß § 244 Abs. 3 Satz 2 StPO lediglich die Duldung
betroffen habe, nicht jedoch die „Erteilung einer Duldung". Bei einer Duldung handele es
sich jedoch um einen Verwaltungsakt, zu dessen Wirksamkeit es jedenfalls der
Schriftform bedürfe (§ 66 Abs. 1 Satz 1 AuslG).
Das Kammergericht gab der Revision daraufhin teilweise statt, da das Urteil nicht
erkennen lasse, dass der Tatrichter die Milderungsmöglichkeit des § 49 Abs. 1 StGB für
einen (vermeidbaren) Verbotsirrtum bezüglich der Zusicherung des
Landeseinwohneramtes an das Verwaltungsgericht vom 4. Januar 1996 geprüft habe. Im
übrigen verwarf es das Rechtsmittel gemäß § 349 Abs. 2 StPO, soweit es sich gegen den
Schuldspruch wandte, aus den Gründen der Stellungnahme der Staatsanwaltschaft vom
3. Dezember 1999.
§ 92 Abs. 1 Ziff. 1 AuslG stellt unter Strafe, wenn der Aufenthalt im Bundesgebiet ohne
Aufenthaltsgenehmigung oder Duldung nach § 55 Abs. 1 AuslG erfolgt. § 55 Abs. 1 AuslG
enthält lediglich die Legaldefinition der Duldung (Aussetzung der Abschiebung) unter
Hinweis auf die einzelnen in § 55 Abs. 2 bis 4 AuslG genannten
Erteilungsvoraussetzungen. § 66 Abs. 1 AuslG schreibt zwar vor, dass die Erteilung der
Duldung der Schriftform bedarf. Von dem Auseinanderfallen einer „faktischen" Duldung
und einer Duldungserteilung kann gleichwohl nicht ausgegangen werden. Das
Bundesverwaltungsgericht hat hierzu in rechtlich nicht zu beanstandender Weise
klargestellt, dass die Systematik des Ausländergesetzes einen derartig ungeregelten
Zustand nicht zulasse. Die tatsächliche Hinnahme eines Aufenthaltes außerhalb
förmlicher Duldung, ohne dass die Vollstreckung der Ausreisepflicht betrieben werde,
sieht das Gesetz nicht vor (vgl. BVerwG, NVwZ 1998, 297 ff. <298>). Die
Ausländerbehörde hat mithin nicht die Möglichkeit, die Abschiebung „stillschweigend"
auszusetzen. Betreibt sie die Abschiebung nicht, ist dem Antragsteller auch eine
Duldung förmlich zu erteilen.
Wendet man diese Voraussetzungen auf den vorliegenden Fall an, ist der
Beschwerdeführer jedenfalls so zu stellen, als wäre ihm eine Duldung erteilt worden, da
die Ausländerbehörde - nach der von den Strafgerichten als wahr unterstellten Praxis -
seinen Aufenthalt während der Zeit des Antrages gemäß § 80 Abs. 4 VwGO „duldete".
Dem Beschwerdeführer kann auch nicht entgegengehalten werden, dass er keinen
ausdrücklichen Antrag auf Erteilung einer Duldung gestellt hat, da eine Entscheidung von
Amts wegen zu erfolgen hat (vgl. hierzu für § 55 Abs. 2 AuslG, BVerwG, NVwZ 1998, 297
ff. <298>; 2000, 938 ff. <939>; Masuch in: Huber, Handbuch des Ausländer- und
Asylrechts, Stand März 2001, § 55 Rn. 4).
Die Praxis der Ausländerbehörde, während der Zeit eines Antrages gemäß § 80 Abs. 4
VwGO die Abschiebung nicht zu betreiben, erscheint im Hinblick auf die Gewährleistung
effektiven Rechtsschutzes und auf die Duldungsgründe des § 55 AuslG, insbesondere
des Absatzes 3, zudem gut vertretbar, um dem Beschwerdeführer ein berechtigtes
Interesse, seine Rechte nicht vom Ausland vertreten zu müssen, zu gewährleisten.
Zumal sie in Fällen, in denen sie nicht dulden will, den Antrag sofort - ohne gleichzeitig
über den Widerspruch zu entscheiden - ablehnen kann.
Angesichts dieser Rechtslage ist es daher aus unserer Sicht verfassungsrechtlich
geboten, zur Gewährleistung des Grundrechts aus Art. 7 VvB zu prüfen, ob der
Beschwerdeführer einem Verbotsirrtum unterlegen ist. Es ist auch nicht ohne weitere
Sachaufklärung offensichtlich, ob - dessen Vorliegen unterstellt - ein Verbotsirrtum für
den Beschwerdeführer vermeidbar war. Der Beschwerdeführer hatte zwar die Mitteilung
erhalten, dass auch die Einlegung von Rechtsmitteln die Strafbarkeit des Aufenthaltes
nicht ausschließe. Die Tatsache, dass er einen Rechtsanwalt um Rat gefragt hat, um sich
über seine Aufenthaltssituation Klarheit zu verschaffen, spricht jedoch angesichts der
nicht leicht überschaubaren rechtlichen Situation zunächst dafür, dass er nach den
nicht leicht überschaubaren rechtlichen Situation zunächst dafür, dass er nach den
Umständen des Einzelfalls, seiner Persönlichkeit und seinem Lebens- und Berufskreis
unter Anspannung seines Gewissens alle seine Erkenntnismöglichkeiten eingesetzt hat,
um eventuelle Zweifel an der „Rechtmäßigkeit" seines Bleibens während der
Rechtsmittelverfahren eingesetzt hat. Gegebenenfalls hätte über die vom
Beschwerdeführer behauptete Auskunft des Rechtsanwalts und deren Wirkung auf die
subjektive Einstellung des Beschwerdeführers durch Beweiserhebung weitere Klärung
herbeigeführt werden müssen.
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