Urteil des VerfGH Berlin vom 11.02.2008

VerfGH Berlin: hund, zivilrechtliche haftung, radweg, faires verfahren, haftpflichtversicherung, rückgriff, einsichtsfähigkeit, persönlichkeitsrecht, distanz, mitverschulden

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Gericht:
Verfassungsgerichtshof
des Landes Berlin
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
31/09
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
Art 1 GG, Art 2 GG, § 242 BGB,
§ 253 Abs 2 BGB, § 276 BGB
Zur Ausstrahlungswirkung des allgemeinen
Persönlichkeitsrechts auf die Haftung Minderjähriger
Leitsatz
Das allgemeine Persönlichkeitsrecht der Minderjährigen aus Art. 7 i. V. m. Art. 6 der
Verfassung von Berlin verpflichtet die Gerichte, eine Begrenzung der Minderjährigenhaftung
zu prüfen.
Tenor
Die Zurückweisung der Berufung der Beschwerdeführerin gegen das Urteil des
Landgerichts Berlin vom 11. Februar 2008 – 59 O 136/07 – durch den Beschluss des
Kammergerichts vom 29. Dezember 2008 – 22 U 43/08, 22 W 14/08, 22 W 22/08 –
verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem allgemeinen Persönlichkeitsrecht aus Art. 7 in
Verbindung mit Art. 6 der Verfassung von Berlin. Der Beschuss wird insoweit und im
Kostenpunkt aufgehoben. Die Sache wird an das Kammergericht zurückverwiesen.
Das Verfahren ist gerichtskostenfrei.
Das Land Berlin hat der Beschwerdeführerin die notwendigen Auslagen zu erstatten.
Gründe
I.
Die 1993 geborene, damals 12-jährige, Beschwerdeführerin führte am Nachmittag des
22. März 2006 den Pudel eines damals 94-jährigen, inzwischen verstorbenen Nachbarn
(Beklagter zu 1 des Ausgangsverfahrens) aus. Auf einer begrünten Frei-fläche, über die
parallel zueinander und durch einen Grünstreifen getrennt ein Rad- und ein
Fußgängerweg führen, ließ sie den Pudel unangeleint laufen. Als der bei der Berliner
Feuerwehr beschäftigte Kläger des Ausgangsverfahrens (Beteiligter zu 2) auf dem
Arbeitsweg gegen 15.20 Uhr mit dem Fahrrad auf dem Radweg fuhr, sprang ihm der
Pudel in das Vorderrad. Der Beteiligte zu 2 stürzte und verletzte sich erheblich; Fahrrad
und Bekleidung wurden beschädigt. Wegen seiner Verletzungen (u. a.
Rippenserienfraktur links, Fraktur des linken Schulterblattes, Fraktur des linken
Schlüsselbeins) war er vom 22. bis 30. März 2006 in stationärer Behandlung und
mehrere Monate arbeitsunfähig.
Das Landgericht Berlin verurteilte die Beschwerdeführerin gesamtschuldnerisch mit dem
Beklagten zu 1 neben dem Ersatz des Sachschadens in Höhe von 309,55 EUR und der
sich auf 278,05 EUR belaufenden vorgerichtlichen Anwaltskosten des Beteiligten zu 2 zur
Zahlung eines Schmerzensgeldes in Höhe von 5.000,- EUR nebst Zinsen in Höhe von
fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 20. Juli 2007. Die
Beschwerdeführerin sei uneingeschränkt nach § 823 Abs. 1 und 2 BGB zu materiellem
und immateriellem Schadensersatz verpflichtet. Die Rechtsgutverletzungen des
Beteiligten zu 2 beruhten auf ihrem schuldhaften Verstoß gegen die mit dem Ausführen
des Hundes übernommene Verkehrssicherungspflicht und die im Land Berlin
bestehende Leinenpflicht. Sie habe sorgfaltswidrig und verantwortlich ein Verhalten des
Hundes ermöglicht bzw. nicht verhindert, das voraussehbar zum Sturz des Beteiligten zu
2 habe führen können. Hierbei sei ihr insbesondere vorzuwerfen, dass sie es
offensichtlich zugelassen habe, dass sich der Hund so weit von ihr habe entfernen
können, dass eine sofortige Zugriffsmöglichkeit durch Wiederanleinen oder Wegziehen
des Hundes nicht bestanden habe. Dies folge auch aus ihrer eigenen Unfalldarstellung
im Rahmen ihrer Parteianhörung. Erschwerend komme hinzu, dass sie trotz des
herannahenden Rad fahrenden Beteiligten zu 2, den sie ihren Angaben zufolge nach der
ersten Wahrnehmung nicht weiter beobachtet habe, nichts unternommen habe, sich
ihrerseits dem Hund zu nähern, um ihn rechtzeitig vor Erreichen des Radweges
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ihrerseits dem Hund zu nähern, um ihn rechtzeitig vor Erreichen des Radweges
anzuleinen. Sie habe die erforderliche Einsichtsfähigkeit besessen, für die das
allgemeine Verständnis genüge, dass das Verhalten geeignet sei, Gefahren
herbeizuführen. Davon sei auszugehen, da sich anderenfalls nicht erklären ließe, dass
die Beschwerdeführerin bei Wahrnehmung des herannahenden Fahrrades den Hund zu
sich gerufen habe. Hinzu komme, dass die Beschwerdeführerin im Rahmen ihrer
Parteianhörung selbst eingeräumt habe, dass sie den Hund angeleint hätte, wenn er
sich unmittelbar vor dem Unfall direkt bei ihr befunden hätte. Hieraus lasse sich nur
schließen, dass ihr durchaus das Gefahrenpotential bekannt gewesen sei. Ein
unfallursächliches Eigenverschulden des Beteiligten zu 2 lasse sich nicht feststellen.
Zur Begründung der gegen dieses Urteil eingelegten Berufung machte die
Beschwerdeführerin im Wesentlichen geltend, das Landgericht habe den Sachverhalt
unrichtig und unvollständig festgestellt. Der konkrete Hergang sei streitig, insbesondere
seien die Angaben über den Standort des Pudels im Unfallzeitpunkt widersprüchlich.
Diese Tatsachen seien entscheidungserheblich, da von ihnen die Beurteilung abhänge,
wie viel Zeit der Beteiligte zu 2 und die Beschwerdeführerin gehabt hätten, sich auf die
Gefahrensituation einzustellen und gefahrenabwehrend zu reagieren. Das Landgericht
habe die Voraussetzungen einer Haftung der Beschwerdeführerin nach § 823 BGB nicht
als gegeben ansehen dürfen. Der Beschwerdeführerin müsse wenigstens Fahrlässigkeit
angelastet werden können. Zur Feststellung des zu fordernden Sorgfaltsmaßstabes sei
auf die konkreten Umstände des Einzelfalles abzustellen, was eine sorgfältige Ermittlung
des tatsächlichen Unfallgeschehens voraussetze. Hätte sich der Pudel gemäß der
Aussage des Beteiligten zu 2 ruhig neben ihr befunden und wäre er unvermittelt in das
Rad gesprungen, hätte sich ausschließlich die Tiergefahr verwirklicht und sie hätte nach
Erkennen der Gefahrenlage durch den heranfahrenden Radfahrer mit dem Heranrufen
des Hundes adäquat reagiert. Sie hätte nicht damit rechnen müssen, dass der Hund
plötzlich auf den Radweg springt. Hätte der Hund den Radweg zu langsam überquert,
könnte möglicherweise ein Sorgfaltspflichtverstoß angenommen werden; dem
Beteiligten zu 2 wäre aber ein Mitverschulden anzulasten.
Mit Beschluss vom 26. Juni 2008 wies der 22. Senat des Kammergerichts darauf hin,
dass er beabsichtige, die Berufung gemäß § 522 Abs. 2 ZPO als aussichtslos
zurückzuweisen. Der Senat vermöge nach umfassender Prüfung der Sach- und
Rechtslage nicht festzustellen, dass dem Erstgericht ein Rechtsfehler unterlaufen wäre
oder auf Rechtsfehlern beruhende Irrtümer in der Tatsachenfeststellung die
Entscheidungsfindung beeinflusst hätten. Der Senat teile vielmehr das Ergebnis der
landgerichtlichen Wertungen und folge den zutreffenden Gründen der angefochtenen
Entscheidung. Es sei nicht zu beanstanden, dass das Landgericht offen gelassen habe,
ob sich der Unfall so ereignet habe, wie es der Beteiligte zu 2 in seiner persönlichen
Anhörung vor dem Landgericht geschildert habe, oder so, wie es die Beschwerdeführerin
in ihrer Anhörung dargestellt habe. Nach beiden Unfalldarstellungen sei eine Haftung der
Beschwerdeführerin begründet. Dabei könne die Behauptung des Beklagten zu 1, der
Hund sei für den herannahenden Beteiligten zu 2 bereits aus einer Entfernung von 70 -
100 Metern sichtbar gewesen, als wahr unterstellt werden. Ob der Beschwerdeführerin
vorzuwerfen sei, dass sie den Hund entgegen § 3 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 des Gesetzes über
das Halten und Führen von Hunden in Berlin auf einer öffentlichen Grünfläche abgeleint
habe, sie insbesondere die erforderliche Einsichtsfähigkeit besessen habe und
diesbezüglich fahrlässig gehandelt habe, könne dahinstehen. Jedenfalls treffe sie
aufgrund ihrer eigenen Unfallschilderung im Rahmen ihrer persönlichen Anhörung vor
dem Landgericht der Vorwurf, dass sie nach Sichtung des Beteiligten zu 2 aus einer
Distanz von ca. 100 Metern beim Zurückrufen des Hundes auf der linken Seite des
Radweges geblieben sei, während sich der Hund auf der Fläche rechts vom Radweg
befunden habe. Wenn sich der nicht angeleinte Hund entsprechend der Unfalldarstellung
des Beteiligten zu 2 bei seiner ersten Wahrnehmung aus einer Entfernung von 70 bis
100 Metern linksseitig auf dem Grünstreifen zwischen Rad- und Gehweg in der Nähe der
Beschwerdeführerin aufgehalten habe, hätte diese den Hund festhalten oder anleinen
müssen, um ein gefahrloses Vorbeifahren zu ermöglichen. Zu Recht habe das
Landgericht ein Mitverschulden des Beteiligten zu 2 verneint. Dieser sei auf der
Grundlage beider in der persönlichen Anhörung geschilderter Sachverhaltsdarstellungen
nicht verpflichtet gewesen, sich nach der ersten Wahrnehmung der Beschwerdeführerin
und des Hundes aus einer Distanz von 70 - 100 Metern auf die Situation vor ihm durch
Reduzierung seiner Geschwindigkeit einzustellen.
Die Beschwerdeführerin wandte sich mit Stellungnahme vom 8. August 2008 gegen die
vom Kammergericht gewählte Verfahrensweise. Ohne vollständige Aufklärung des
Sachverhalts könne weder die Erfolgsaussicht der Berufung verneint, noch beurteilt
werden, ob die Voraussetzungen gemäß § 522 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 und 3 ZPO vorlägen.
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Mit Beschluss vom 29. Dezember 2008 wies das Kammergericht die Berufung zurück.
Ergänzend zum Hinweisbeschluss führte es aus: Der Senat halte die Fragen nach dem
Standort des Pudels im Unfallzeitpunkt und danach, ob der Beteiligte zu 2 mit
überhöhter Geschwindigkeit gefahren sei, im Ergebnis nicht für aufklärungsbedürftig. Die
Beschwerdeführerin habe mit ihrer behaupteten Unfallschilderung die von dem
Beteiligten zu 2 zur Annahme einer Fahrlässigkeit vorgetragenen tatsächlichen
Umstände nicht ausreichend in Abrede gestellt. Ihr Bestreiten durch Schilderung eines
abweichenden Unfallgeschehens sei letztlich nicht erheblich, ohne dass hiermit eine
Umkehr der Darlegungs- und Beweislast oder die Anwendung eines Anscheinsbeweises
verbunden sei. Sollte sich der Unfall so zugetragen haben, wie die Beschwerdeführerin
behaupte, hätte sie bei Anwendung der erforderlichen Sorgfalt in dem Augenblick, als sie
den Beteiligten zu 2 aus einer Entfernung von ca. 100 Metern herannahen sah, auf den
Hund zugehen und ihn daran hindern müssen, auf den Radweg zu gelangen. Für die
Behauptung, der Beteiligte zu 2 sei mit überhöhter Geschwindigkeit gefahren, sei kein
geeigneter Beweis angeboten worden. Verfassungsrechtliche Bedenken gegen das
Verfahren seien nicht begründet. Es sei anerkannt, dass die Vorschrift des § 522 ZPO
mit dem Grundgesetz vereinbar sei. Im Übrigen habe die Sache weder grundsätzliche
Bedeutung noch erfordere die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer
einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts im
Urteilsverfahren. Die Beurteilung der Frage des Mitverschuldens des Beteiligten zu 2 im
Zusammenhang mit der Annäherung an eine Gefahrenquelle habe als
Einzelfallentscheidung keine grundsätzliche Bedeutung. Die Verneinung eines
Mitverschuldens beruhe auf dem Umstand, dass die plötzlich auftretende, konkrete -
nicht abstrakte - Gefahrenlage für ihn als Radfahrer nicht vorhersehbar gewesen sei, so
dass er nicht mehr rechtzeitig unfallverhütend habe reagieren können.
Zur Begründung der gegen diesen Beschluss am 24. Februar 2009 erhobenen
Verfassungsbeschwerde trägt die Beschwerdeführerin vor, der Beschluss des
Kammergerichts verletze sie in ihren Grundrechten aus Art. 15 Abs. 1 und Abs. 4, Art. 10
Abs. 1 und Art. 12 Abs. 1 i. V. m. Art. 7 der Verfassung von Berlin - VvB - .
Das Kammergericht habe das Verfahren nach § 522 Abs. 2 ZPO in willkürlicher
Auslegung und Anwendung dieser Verfahrensnorm gewählt und damit ihr Recht auf ein
faires Verfahren im Sinne von Art. 15 Abs. 1 und Abs. 4 der Verfassung von Berlin
verletzt. Den Verfahrensbeteiligten dürfe der Zugang zur Berufungsinstanz jedenfalls
dann nicht verwehrt werden, wenn das erstinstanzliche Gericht von einer vollständigen
Aufklärung der entscheidungserheblichen Tatsachen absehe und dies auch ausdrücklich
in seinem Urteil festhalte.
Hätte das Kammergericht unter Berücksichtigung der verfassungsrechtlichen Prinzipien,
insbesondere der Schutzpflicht des Staates gegenüber Kindern und Jugendlichen, die
Darlegungs- und Beweislastregeln so angewendet, wie es die Verfahrensordnung
vorsehe, wäre eine Zurückweisung der Berufung nicht möglich gewesen. Grundsätzlich
habe jede Partei diejenigen Tatsachen darzulegen und im Bestreitensfalle zu beweisen,
aus denen sie Rechte herzuleiten beabsichtige. Der Beteiligte zu 2 hätte darlegen und
auch beweisen müssen, dass die Beschwerdeführerin ein Fahrlässigkeitsvorwurf treffe.
Das Kammergericht habe wie das Landgericht der Feststellung einer
Sorgfaltspflichtverletzung durch sie Umstände zugrunde gelegt, die der Beteiligte zu 2
nicht vorgetragen habe. So habe das Kammergericht den Vorwurf des sorgfaltswidrigen
Verhaltens darauf gestützt, dass ihr aufgrund ihrer eigenen Unfallschilderung im
Rahmen ihrer persönlichen Anhörung vorzuwerfen sei, dass sie nach Sichtung des
Beteiligten zu 2 aus einer Distanz von ca. 100 Metern beim Zurückrufen des Hundes auf
der linken Seite des Radweges geblieben sei, während sich der Hund auf der Fläche
rechts vom Radweg befunden habe. Hierzu habe der Beteiligte zu 2 nichts vorgetragen.
Die Entscheidung des Kammergerichts verletze die staatliche Fürsorgepflicht gegenüber
Kindern und Jugendlichen in Verbindung mit dem Recht auf freie Entfaltung der
Persönlichkeit. Weder vom Landgericht noch vom Kammergericht sei hinsichtlich der
Frage nach der erforderlichen Sorgfalt eine altersgerechte Beurteilung vorgenommen
worden. Insbesondere sei die in dem Beschluss vom 29. Dezember 2008 getroffene
Feststellung, dass die Beschwerdeführerin der Vorwurf einer unfallursächlichen
Sorgfaltspflichtverletzung unabhängig von der Sachverhaltsgestaltung treffe, weil sie in
dem Augenblick, als sie den Beteiligten zu 2 herannahen sah, auf den Hund hätte
zugehen und ihn daran hindern müssen, auf den Radweg zu gelangen, nicht
altersgerecht getroffen worden. Solch rein theoretische Überlegungen lägen auf der
Hand, wenn der Schaden bereits eingetreten sei. In der Situation stelle sich die richtige
Verhaltensweise nicht so einfach dar. Bei Zwölfjährigen sei grundsätzlich weniger
Lebenserfahrung vorhanden, mögliche Schadensfolgen vorherzusehen und
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Lebenserfahrung vorhanden, mögliche Schadensfolgen vorherzusehen und
Gefahrensituationen richtig einzuschätzen als bei Erwachsenen. Das Kammergericht
habe sich zudem nicht mit der Frage auseinandergesetzt, wie der von ihm angelegte
deutlich überspannte Sorgfaltsmaßstab mit der Aussage des Beteiligten zu 2 in Einklang
zu bringen sei, für ihn habe keine Gefahrensituation bestanden, weil der Hund ganz ruhig
neben der Beschwerdeführerin auf dem Radweg gestanden habe. Das Kammergericht
habe im Ergebnis an die minderjährige Beschwerdeführerin einen höheren
Sorgfaltsmaßstab angelegt als an den erwachsenen Beteiligten zu 2.
Weiter sei ein Verstoß gegen Art. 12 VvB darin zu sehen, dass ihre Aussage im Rahmen
der persönlichen Anhörung als Eingeständnis ihres Verschuldens gewertet worden sei.
Mit Blick auf aussagepsychologische Erkenntnisse hätte sich das Kammergericht mit der
Frage auseinander setzen müssen, ob die Aussagen der Beschwerdeführerin der
Entscheidung ungeprüft „eins zu eins“ zugrunde gelegt werden konnten. Das
Kammergericht sei verpflichtet gewesen, eine Beweiserhebung durchzuführen und hätte
ihre Aussage im Rahmen ihrer persönlichen Anhörung ohne weitere Prüfung nicht zu
ihrem Nachteil würdigen dürfen.
Darüber hinaus habe es das Kammergericht unterlassen, den verfassungsrechtlich
geschützten Erziehungsauftrag in seine Bewertung mit einzubeziehen und zwischen
ihrem Grundrecht und dem Grundrecht des Geschädigten auf Schutz seines Lebens,
seiner Gesundheit und seines Eigentums eine Abwägung vorzunehmen. Die Auferlegung
der vollen Ersatzpflicht sei insbesondere mit Rücksicht auf mögliche und im vorliegenden
Fall auch bereits verfolgte Regressansprüche Dritter (Rückgriff des Landes Berlin als
Arbeitgeber des Beteiligten zu 2 in Höhe von 9.577,03 EUR und der Unfallkasse Berlin in
Höhe von 13.283,78 EUR) mit dem Minderjährigenschutzprinzip nicht vereinbar. Ihr dürfe
nicht die Grundbedingung freier Entfaltung und Entwicklung durch die Auferlegung
existenzgefährdender Zahlungspflichten genommen werden. Ihre deliktische Haftung
führe zu einem verfassungswidrigen Eingriff, der ihr später keinen Raum lasse, ihr
weiteres Leben selbst und ohne unzumutbare Belastungen zu gestalten. Durch die
Zahlungspflichten, denen sie gegebenenfalls ein ganzes Leben ausgesetzt sei, werde sie
von Anfang an daran gehindert sein, ihr Leben nach ihren Vorstellungen zu gestalten.
Auf sie kämen Schulden in Höhe von über 25.000,- EUR zu, die jährlich mit 5 % über
dem jeweiligen Basiszinssatz zu verzinsen seien. Ferner sei nicht auszuschließen, dass
sich innerhalb der kommenden Jahre noch Langzeitschäden oder weitere Ansprüche
Dritter herausstellten, für die sie wiederum unter Bezugnahme auf den Beschluss des
Kammergerichts zur Verantwortung gezogen werden könnte. Der
Zurückweisungsbeschluss treffe sie daher besonders hart. Sie sei vermögenslos und
werde nicht einmal Zinsen begleichen können. Ihre Mutter habe für sie keine
Haftpflichtversicherung abgeschlossen. Es sei Aufgabe der Justiz, Minderjährige bei
unzulänglicher Wahrnehmung der Erziehungsaufgaben nicht sehenden Auges in ihr
Verderben laufen zu lassen.
Der angegriffene Beschluss verstoße gegen das aus dem Rechtsstaatsprinzip und dem
Gleichheitssatz folgende Erfordernis grundsätzlicher Waffengleichheit und gleichmäßiger
Verteilung des Prozessrisikos, da im Verfahren auf ihre Minderjährigkeit keine Rücksicht
genommen worden und sie im Rahmen ihrer Parteivernehmung wie ein Erwachsener
behandelt worden sei. Ferner sei zugunsten des Beteiligten zu 2 trotz seiner eigenen
Angaben im Rahmen der persönlichen Anhörung, den Hund durchaus gesehen, aber
gedanklich bereits passiert zu haben, dessen Mitverschulden verneint worden. Das
Kammergericht habe offensichtlich unterschiedliche Sorgfaltsmaßstäbe hinsichtlich der
Vorhersehbarkeit des Schadens angelegt.
Die Beteiligten gemäß § 53 Abs. 1 und 2 des Gesetzes über den Verfassungsgerichtshof
– VerfGHG – hatten Gelegenheit zur Äußerung.
II.
Die Verfassungsbeschwerde, die sich ausweislich ihrer Begründung allein gegen die
Zurückweisung der Berufung der Beschwerdeführerin durch den streitgegenständlichen
Beschluss des Kammergerichts richtet, ist zulässig und begründet, soweit die
Beschwerdeführerin rügt, das Kammergericht habe ihr durch Art. 7 in Verbindung mit
Art. 6 VvB gewährleistetes Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit und die Pflicht
des Staates, dieses Recht zu schützen, nicht beachtet.
1. Aus Art. 7 i. V. m. Art. 6 VvB folgt in gleichem Maße wie aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. mit
Art. 1 Abs. 1 GG der Anspruch des Kindes als Grundrechtsträger auf staatlichen Schutz
seines Grundrechts auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit (Driehaus, in: Driehaus,
Verfassung von Berlin, 3. Auflage 2009, Art. 12 Rn. 1; zum Bundesrecht:
Bundesverfassungsgericht, NJW 2000, 2191; E 24, 119 <144>; E 45, 400 <471>; E 72,
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Bundesverfassungsgericht, NJW 2000, 2191; E 24, 119 <144>; E 45, 400 <471>; E 72,
122 <137>; E 75, 201 <218>; E 99, 145 <156 f.>). Dieser Schutzpflicht haben auch die
ordentlichen Gerichte Rechnung zu tragen, wenn Kinder oder Jugendliche an
zivilrechtlichen Streitigkeiten beteiligt sind. Sie müssen bei ihrer Entscheidung
berücksichtigen, dass eine unbegrenzte Haftung Minderjähriger verfassungsrecht-lichen
Bedenken begegnet, weil durch die Auferlegung finanzieller Verpflichtungen in
erheblichem Maße die Grundbedingungen freier Entfaltung und Entwicklung und damit
nicht nur einzelne Ausformungen allgemeiner Handlungsfreiheit, sondern die engere
persönliche Lebenssphäre junger Menschen betroffen werden (vgl. für das Bundesrecht:
BVerfGE 72, 155 <171>; NJW 1998, 3557 <3558>; VRS 80, 81<83>).
Die (volle) zivilrechtliche Haftung eines Kindes ist, auch wenn sie noch nicht
existenzvernichtende Wirkung hat, geeignet, zu einer solchen grundrechtsrelevanten
Einschränkung seiner freien Entfaltung und Entwicklung zu führen. Verfügen das Kind und
seine Eltern über kein Vermögen, und haben es die Erziehungsberechtigten versäumt,
das Kind durch Abschluss einer Haftpflichtversicherung vor Haftungs-risiken zu schützen,
kann die Verpflichtung zum Schadensersatz mit wachsender Zinslast eine über Jahre
wirkende wirtschaftliche Last darstellen, die dem Minder-jährigen den Start in das
Erwachsenen- und Berufsleben erheblich erschwert. Eine Grundrechtsverletzung kommt
in Betracht, wenn dem Jugendlichen kein Raum bleibt, um sein weiteres Leben selbst und
ohne unzumutbare Belastungen zu gestalten, die er nicht zu verantworten hat (vgl.
BVerfGE, a. a. O.).
Das Zivilrecht lässt den Gerichten Raum, dem Minderjährigenschutz den Umständen
des Einzelfalles Rechnung tragend Wirkung zu verleihen. Härten, die sich aus dem
Grundsatz der Totalreparation ergeben, können durch Rückgriff auf § 242 BGB
abgemildert werden (vgl. BVerfG, NJW 1998, 3557 <3558>; LG Bremen, NJW-RR 1991,
1432; Looschelders, VersR 1999, 141 <149 f.>). Bei der Bemessung der Höhe des
Schmerzensgeldes nach § 253 Abs. 2 BGB bietet das Tatbestandsmerkmal der „billigen“
Entschädigung die Möglichkeit, die Situation des Schädigers, insbesondere den Grad
seines Verschuldens (OLG Frankfurt, NZV 2005, 260 für das geringe Verschulden eines
Kindes), seine finanzielle Leistungsfähigkeit und das Fehlen einer Haftpflichtversicherung
zu berücksichtigen (vgl. BGH, NJW 1993, 1531 <1532>). Hierbei ist zu bedenken, dass
Minderjährige aus eigener Initiative nicht in der Lage sind, durch Abschluss einer
Haftpflichtversicherung gegen finanzielle Belastungen vorzusorgen, die aus fahrlässigem
Verhalten, insbesondere aus einem Augenblicksversagen, herrühren (vgl.
Erman/Schiemann, BGB, 12. Aufl. 2008, § 828 Rn. 7). Auch § 828 BGB und die an dem
Alter eines Kindes orientierte Bestimmung des zur Feststellung eines Verschuldens
anzulegenden Sorgfaltsmaßstabes (sog. „Gruppenfahrlässigkeit“, vgl. BGH, NJW-RR
1997, 1110 <1111> m. w. N.) tragen dem Schutz des Persönlichkeitsrechts des Kindes
im Rechtsverkehr Rechnung. Im Prozessrecht findet der Gedanke des
Minderjährigenschutzes insbesondere in den §§ 51, 52 und 455 ZPO seinen Ausdruck.
Ob die zuständigen Gerichte die Reichweite und Wirkkraft der Grundrechte im Gebiet des
bürgerlichen Rechts zutreffend erfasst haben, unterliegt der verfassungsgerichtlichen
Prüfung (vgl. zum Bundesrecht: BVerfGE 75, 201 <221>).
2. Diesen verfassungsrechtlichen Maßstäben wird die Entscheidung des Kammergerichts
nicht gerecht. Sie lässt nicht erkennen, dass das allgemeine Persönlichkeitsrecht der
Beschwerdeführerin beachtet worden ist. Entgegen deren Auffassung musste das
Gericht allerdings nicht den drohenden Rückgriff des Landes Berlin und der Unfallkasse
berücksichtigen. Denn mit dem (nur) im Verhältnis zu dem Geschädigten ergangenen
Urteil ist keine Entscheidung darüber getroffen, ob und inwieweit ein solcher Rückgriff
möglich ist. Angesichts einer Verurteilung der Beschwerdeführerin zur Zahlung eines
Betrages von mehr als 5.500 EUR nebst Zinsen sowie der, auf Antrag ebenfalls zu
verzinsenden (§104 Abs. 1 Satz 2 ZPO), Anwaltskosten des Klägers (vgl. § 123 ZPO)
musste das Kammergericht jedoch in Betracht ziehen, dass der aufzubringende Betrag
eine unzumutbare Belastung für die – im Zeitpunkt der Entscheidung erst 15-jährige und
nach ihren Angaben mittellose – Beschwerdeführerin bedeutet und deshalb namentlich
die einfachrechtlichen Möglichkeiten zu einer Begrenzung der Minderjährigenhaftung
beachten. Dass sich das Kammergericht dessen bewusst war und eine umfassende,
tendenziell eher zugunsten des Minderjährigen restriktive Prüfung der
Haftungsvoraussetzungen unter Beachtung der Umstände des Einzelfalls angestellt hat,
lässt sich der angegriffenen Entscheidung nicht entnehmen. Die Entscheidung verletzt
die Beschwerdeführerin daher in ihrem allgemeinen Persönlichkeitsrecht aus Art. 7 i. V.
m. Art. 6 VvB.
a. Die Entscheidung des Kammergerichts enthält schon keine Ausführungen dazu, ob
und inwieweit es dem Alter der Beschwerdeführerin bei der Beurteilung des ihre Haftung
begründenden Verschuldens Rechnung getragen hat.
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Entgegen der Rüge der Beschwerdeführerin bestehen zwar keine grundsätzlichen
Bedenken dagegen, dass das Kammergericht den Sachverhalt nicht vollständig
aufgeklärt, sondern in zwei den jeweiligen Parteivortrag entsprechenden Varianten als
möglich unterstellt und geprüft hat. Gleichwohl war das Kammergericht – wovon es
selbst auch ausging – verpflichtet, jede dieser Varianten einer umfassenden rechtlichen
Würdigung zu unterziehen, insbesondere auch den jeweils an das Verhalten der
Beschwerdeführerin anzulegenden Sorgfaltsmaßstab zu bestimmen.
In Rechtsprechung und Lehre besteht der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (s.
o.) folgend Einigkeit, dass hinsichtlich der Fahrlässigkeitsmerkmale nicht auf die
individuelle Fähigkeit eines Kindes oder Jugendlichen abzustellen ist, sondern darauf, ob
ein normal entwickeltes Kind bzw. ein normal entwickelter Jugendlicher seines Alters die
Gefährlichkeit seines Tuns hätte voraussehen und dieser Einsicht gemäß handeln
können und müssen (Sprau, in: Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, 68. Aufl. 2009, § 828
Rn. 7). Entsprechende Feststellungen für alle in Betracht zu ziehenden
Sachverhaltsvarianten enthalten weder die Ausführungen des Kammer-gerichts noch die
von diesem in Bezug genommene Entscheidung des Landgerichts.
Das Kammergericht hat darauf abgestellt, dass die Beschwerdeführerin nach
Wahrnehmung des auf dem Fahrrad herannahenden Beteiligten zu 2 den Pudel – wenn
er sich der Unfalldarstellung des Beteiligten zu 2 folgend in ihrer Nähe befand – hätte
anleinen oder festhalten beziehungsweise – ihre Angaben im Rahmen der persönlichen
Anhörung zugrunde gelegt – dem Hund hätte entgegengehen müssen. Ausführungen
dazu, ob ein normal entwickeltes Kind im Alter der Beschwerdeführerin in dieser
konkreten Situation die Gefahrenlage und die zur Abwendung der Gefahr erforderlichen
Maßnahmen hätte erkennen können und müssen, enthalten die Beschlüsse des
Kammergerichts nicht.
Auch aus dem in Bezug genommenen erstinstanzlichen Urteil lassen sich keine
entsprechenden Feststellungen entnehmen. Dieses enthält allein Ausführungen zur
Einsichtsfähigkeit der Beschwerdeführerin, d. h. ihrer intellektuellen Fähigkeit, das
Gefährliche ihres Tuns zu erkennen und sich der Verantwortung für die Folgen ihres Tuns
bewusst zu sein. Die Prüfung der Einsichtsfähigkeit und die Frage, ob ein Kind im
konkreten Fall schuldhaft gehandelt hat, sind voneinander zu trennen (Heinrichs, in:
Palandt, a. a. O., § 276 Rn. 6; Sprau, in: Palandt, a. a. O., § 828 Rn. 6; BGH, JZ 1954, 297;
NJW-RR 1997, 1110 <1111>). Soweit das Landgericht aus Äußerungen der
Beschwerdeführerin im Rahmen der persönlichen Anhörung Rückschlüsse auf deren
Gefahreinschätzung in der konkreten Unfallsituation gezogen hat, hat es auch nicht der
Sache nach die gebotene altersgruppenbezogene Feststellung des objektiven
Sorgfaltsmaßstabes getroffen. Es liegt auf der Hand, dass die subjektive ex-post
Betrachtung der Beschwerdeführerin für die Bestimmung eines objektiven
Sorgfaltsmaßstabes nur bedingt aussagekräftig sein kann. Darüber hinaus widerspricht
es dem in §§ 51, 52 und 455 ZPO auch einfachrechtlich verankerten Gebot des
Minderjährigenschutzes im Prozessrecht, allein auf von als wahr unterstellten
Äußerungen eines Kindes im Verfahren entscheidungserhebliche Feststellungen zu
dessen Lasten zu treffen.
b. Die Ausführungen des Kammergerichts lassen auch nicht erkennen, dass bei der
Entscheidung über die Bemessung des von der Beschwerdeführerin zu leistenden
Schmerzensgeldes der Grad des ihr vorzuwerfenden Verschuldens, ihre
Leistungsfähigkeit sowie der fehlende Versicherungsschutz (für sie selbst und den
Pudel), und zwar nicht nur ihr eigener, sondern auch der des Hundes, Berücksichtigung
gefunden haben. Deutlich gegen eine die persönlichen Umstände der
Beschwerdeführerin berücksichtigende Würdigung spricht, dass das Kammergericht
ebenso wie das Landgericht keine Differenzierung zwischen der Leistungspflicht des
Beklagten zu 1 und der Beschwerdeführerin vorgenommen.
3. Der angegriffene Beschluss beruht auf dem festgestellten Verfassungsverstoß. Es ist
nicht auszuschließen, dass das Kammergericht bei Berücksichtigung der sich aus Art. 7
in Verbindung mit Art. 6 VvB ergebenden Vorgaben zu einer anderen, für die
Beschwerdeführerin günstigeren Entscheidung gelangt wäre. Auf die von der
Beschwerdeführerin geltend gemachte Verletzung weiterer Grundrechte kommt es
danach nicht mehr an.
Nach § 54 Abs. 3 VerfGHG ist der Beschluss des Kammergerichts in dem aus dem Tenor
ersichtlichen Umfang aufzuheben und die Sache in entsprechender Anwendung von § 95
Abs. 2 Halbsatz 2 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes an das Kammergericht
zurückzuverweisen. Vorsorglich weist der Verfassungsgerichtshof darauf hin, dass die
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zurückzuverweisen. Vorsorglich weist der Verfassungsgerichtshof darauf hin, dass die
Bestimmung des von der Beschwerdeführerin in der jeweiligen Sachverhaltsvariante
einzuhaltenden objektiven Sorgfaltsmaßstabes auch für die Beurteilung eines
Mitverschuldens des Beteiligten zu 2 von Bedeutung sein dürfte. Nur soweit von der
Beschwerdeführerin objektiv ein Gefahr vermeidendes Verhalten erwartet werden
konnte, dürfte auch der Beteiligte zu 2 auf ein solches vertraut haben können.
Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 33, 34 VerfGHG.
Mit dieser Entscheidung ist das Verfahren vor dem Verfassungsgerichtshof
abgeschlossen.
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