Urteil des VerfGH Berlin vom 19.09.2000
VerfGH Berlin: verfassungsbeschwerde, rechtliches gehör, erlass, untersuchungshaft, hauptsache, gewalt, rechtswegerschöpfung, verfahrensordnung, subsidiarität, verhinderung
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Gericht:
Verfassungsgerichtshof
des Landes Berlin
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
172 A/01
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 31 Abs 1 VGHG BE, § 213
StPO
Leitsatz
Zur Zumutbarkeit der Erschöpfung des Rechtsweges im Wege der Revision zum
Bundesgerichtshof mit der Folge, dass anschließend Verfassungsbeschwerde nur noch zum
Bundesverfassungsgericht, nicht mehr aber zum Landesverfassungsgericht erhoben werden
kann.
Tenor
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung
wird zurückgewiesen.
Das Verfahren ist gerichtskostenfrei.
Auslagen werden nicht erstattet.
Gründe
I. Gegen den seit dem 19. September 2000 inhaftierten Antragsteller ist zur Zeit das
Hauptverfahren vor der 4. großen Strafkammer des Landgerichts Berlin u. a. wegen des
Vorwurfs einer schweren Brandstiftung anhängig. Die Hauptverhandlung findet seit dem
19. März 2001 statt. Der Verfahrensbevollmächtigte des Antragstellers sowie
Rechtsanwalt S. wurden als Pflichtverteidiger bestellt. Mit Verfügung vom 19. Oktober
2001 beraumte der Vertreter der Vorsitzenden der Kammer die Fortsetzung der
Hauptverhandlung u. a. auf den 8., 9. sowie den 22. November 2001 an. Gegen die diese
Termine betreffende Ladungsverfügung erhob der Antragsteller mit Schriftsatz seines
Verfahrensbevollmächtigten vom 22. Oktober 2001 Beschwerde mit der Begründung,
der Verfahrensbevollmächtigte könne an diesen Fortsetzungsterminen nicht teilnehmen,
weil er andere, bereits festgelegte Verhandlungstermine in verschiedenen Straf- und
Zivilverfahren wahrzunehmen habe. Mit Beschluss vom 5. November 2001 – 1 AR
1192/00 – 3 Ws 586 – 588/01 – verwarf das Kammergericht die Beschwerde und führte
zur Begründung u.a. aus: Die angegriffene Entscheidung unterliege nach § 305 Satz 1
StPO nicht der Beschwerde, da sie der Urteilsfällung vorausgehe und nicht zu den
Ausnahmen des § 305 Satz 2 StPO gehöre. Ein Ausnahmefall, in dem zum Teil eine
Beschwerde für zulässig erachtet werde, sei nicht gegeben. Weder habe der
Antragsteller geltend gemacht, die Rechtswidrigkeit der angefochtenen
Terminsverfügung sei infolge fehlerhafter Ermessensausübung evident und dadurch
werde für die Verfahrensbeteiligten eine besondere Beschwer bewirkt, noch sei dies der
Fall. Eine zügige Terminierung sei im Hinblick auf die andauernde Untersuchungshaft des
Antragstellers unerlässlich. Hinzu komme, dass der Antragsteller neben dem
Verfahrensbevollmächtigten über einen weiteren ihm bestellten Verteidiger verfüge, der
die anberaumten Termine wahrnehmen könne. Hiergegen erhob der Antragsteller unter
dem 7. November 2001 Gegenvorstellung, die nach seinen Angaben erfolglos blieb.
Mit dem am 20. November 2001 gestellten Antrag auf Erlass einer einstweiligen
Anordnung „im Rahmen der Verfassungsbeschwerde“ rügt der Antragsteller die
Verletzung der Art. 9 Abs. 1, Art. 15 Abs. 1, Art. 36 Abs. 1, Art. 78 und Art. 80 der
Verfassung von Berlin (VvB) i.V.m. Art. 1 Abs. 2 GG sowie Art. 6 Abs. 3 Buchst. b und c
der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten. Zur Begründung
führt er u.a. aus: Da sich nach Art. 9 Abs. 1 VvB der Angeklagte in jeder Lage des
Verfahrens des Beistandes eines Verteidigers bedienen könne, müsse dem Verteidiger
auch die Möglichkeit gegeben werden, den Angeklagten tatsächlich zu verteidigen. Diese
Möglichkeit werde den Verteidigern dann genommen, wenn wie hier ein Verteidiger aus
berufsbedingten Gründen Termine nicht wahrnehmen könne, weil sie zuvor – unter
Verstoß gegen Art. 15 Abs. 1 VvB – nicht mit ihm abgesprochen worden seien. Die
Vorsitzende der Strafkammer habe erkannt, dass der aus dem sogenannten
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Vorsitzende der Strafkammer habe erkannt, dass der aus dem sogenannten
Beitrittsgebiet kommende Mitverteidiger noch nicht über die Erfahrungen im
Prozessrecht wie der Verfahrensbevollmächtigte des Antragstellers verfüge. Ihr Versuch,
die Mitverteidigung durch den Verfahrensbevollmächtigten „auszubremsen“, verstoße
gegen Art. 36 Abs. 1, 78 und 80 VvB. Sie sei inzwischen dazu übergegangen, ohne den
Verfahrensbevollmächtigten zu fragen, bei anderen Kammern dessen Befreiung zu
erreichen. Für den 26. und 29. November sowie für den 3., 10. und 13. Dezember 2001
habe die Vorsitzende weitere Termine ungeachtet diverser angezeigter Verhinderungen
des Verfahrensbevollmächtigten bestimmt. Lediglich der 29. November 2001 sei mit
dem Verfahrensbevollmächtigten abgesprochen worden. Diese mit der Revision nicht
angreifbare Vorgehensweise beschränke die Verteidigung in unzulässiger Weise in ihren
Rechten.
Der Antragsteller beantragt sinngemäß, die 4. Strafkammer des Landgerichts Berlin
anzuweisen, bei der Bestimmung von Fortsetzungsterminen in der Strafsache 504 –
4/01 sowohl ihm wie auch seinen Verteidigern rechtliches Gehör zu gewähren und mit
den Verteidigern die Fortsetzungstermine so abzustimmen, dass beide Verteidiger die
Möglichkeit haben, ihn zu verteidigen.
Der Verfassungsgerichtshof hat dem Präsidenten des Landgerichts Berlin entsprechend
§ 53 Abs. 1 VerfGHG Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben. Dieser hat u.a.
ausgeführt, er habe gegen die Zulässigkeit des Antrags im Hinblick auf die mangelnde
Bestimmtheit des Begehrens und den damit verbundenen Eingriff in die richterliche
Unabhängigkeit Bedenken.
II. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat keinen Erfolg.
Zwar kann der Verfassungsgerichtshof nach § 31 Abs. 1 VerfGHG einen Zustand durch
einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur
Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum
gemeinen Wohl dringend geboten ist. Dabei erfordert der Erlass einer einstweiligen
Anordnung nicht, dass bereits ein Verfahren der Hauptsache anhängig ist, das den
Streitfall selbst zum Gegenstand hat. Voraussetzung ist jedoch, dass eine
Verfassungsbeschwerde zulässigerweise erhoben werden könnte. Sofern bereits die
Zulässigkeit eines Verfahrens in der Hauptsache ohne weiteres zu verneinen wäre,
kommt auch der Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht in Betracht (Beschluss vom
7. September 1994 – VerfGH 51 A/94 – LVerfGE 2, 62 <63>; vgl. für das Verfahren vor
dem Bundesverfassungsgericht BVerfGE 3, 267 <277>; 7, 367 <371>; 16, 236 <238>).
So liegt es hier.
Eine Verfassungsbeschwerde gegen die vom Antragsteller beanstandeten
Terminsbestimmungen wäre unzulässig. Dabei kann offen bleiben, ob die vom
Vorsitzenden des erkennenden Gerichts gemäß § 213 StPO vorzunehmende
Terminsbestimmung ein mit der Verfassungsbeschwerde selbständig angreifbarer Akt
der öffentlichen Gewalt im Sinne des § 49 Abs. 1 VerfGHG ist (verneinend zum
Bundesrecht BVerfGE 1, 9 <10>; 1, 322 <326>). Jedenfalls ergibt sich die
Unzulässigkeit einer gegen die Terminsbestimmung gerichteten Verfassungsbeschwerde
aus dem in § 49 Abs. 2 VerfGHG zum Ausdruck kommenden Grundsatz der Subsidiarität
der Verfassungsbeschwerde. Danach muss ein Beschwerdeführer vor der Erhebung
einer Verfassungsbeschwerde nicht nur dem Gebot der Rechtswegerschöpfung
nachkommen, sondern auch sonstige Möglichkeiten ergreifen, um eine Korrektur der
geltend gemachten Verfassungsverletzung zu erwirken oder eine Grundrechtsverletzung
zu verhindern (Beschluss des Verfassungsgerichtshofs vom 16. Dezember 1993 -
VerfGH 104/93 - LVerfGE 1, 199 <201>, st. Rspr.). Eine Verfassungsbeschwerde ist
unzulässig, wenn der Beschwerdeführer – wie hier – eine nach Lage der Sache
bestehende und zumutbare Möglichkeit, die behauptete Grundrechtsverletzung ohne
Inanspruchnahme verfassungsgerichtlichen Rechtsschutzes zu beseitigen, nicht genutzt
hat.
Unabhängig davon, ob und gegebenenfalls unter welchen Umständen gegen die
Terminsbestimmung des Vorsitzenden die Beschwerde eröffnet ist (siehe Schlüchter,
SK-StPO, Stand: April 2001, § 213 Rn. ff. sowie Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO, 45. Aufl.
2001, § 213 Rn. 8; jeweils m.w.N.) kann der Antragsteller unter Hinweis auf die nach
seiner Auffassung unzulässig beschränkten Verteidigungsmöglichkeiten in der
Hauptverhandlung einen Unterbrechungs- oder Aussetzungsantrag (§§ 228, 229 StPO)
stellen und dessen Ablehnung durch das Gericht gegebenenfalls mit der gegen das zu
erwartende Urteil der Strafkammer zu richtenden Revision (§ 338 Nr. 8 StPO) rügen (vgl.
BGH, Beschluss vom 18. Dezember 1997 – 1 StR 483/97 – NStZ 1998, 311 <312>,
Urteil vom 8. Januar 1988 – 2 StR 449/87 – NJW 1988, 3273; Kleinknecht/Meyer-Goßner,
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Urteil vom 8. Januar 1988 – 2 StR 449/87 – NJW 1988, 3273; Kleinknecht/Meyer-Goßner,
a.a.O., Rn. 9; Schlüchter, a.a.O., Rn. 17 ff.). Dabei kann offen bleiben, ob der
Antragsteller, bevor er Verfassungsbeschwerde erheben kann, in jedem Fall das
Revisionsverfahren vor dem Bundesgerichtshof durchführen muss (vgl. zum
Bundesrecht den Nichtannahmebeschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des
Bundesverfassungsgerichts vom 11. Juli 1994 – 2 BvR 1404/94 –). Hierfür spricht, dass
zum Rechtsweg im Sinne des § 49 Abs. 2 VerfGHG der gesamte nach der jeweiligen
Verfahrensordnung vorgesehene Instanzenzug gehört (vgl. Beschluss vom 26.
September 1996 – VerfGH 76/95 – LVerfGE 5, 30 <33> sowie zum bayerischen Recht:
BayVerfGH, Entscheidung vom 17. Oktober 1975 –Vf.-74-VI-74-, VerfGH 28, 181
<182>). Die Durchführung des Revisionsverfahrens wäre dem Antragsteller jedenfalls
zumutbar, soweit er eine Überprüfung des beanstandeten Hoheitsaktes am Maßstab
eines in der Verfassung von Berlin gewährleisteten Grundrechts begehrt, das mit einem
Grundrecht des Grundgesetzes inhaltlich übereinstimmt. Etwas anderes ergibt sich auch
nicht aus dem vom Antragsteller hervorgehobenen Umstand, dass das Urteil des
Landgerichts nach Durchführung des Revisionsverfahrens vor dem Bundesgerichtshof
unter Umständen nicht mehr vor dem Verfassungsgerichtshof angegriffen werden kann
(vgl. Pestalozza, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 1991, § 23 II Rn. 79), mit der Folge,
dass der Antragsteller in seinen prozessualen Möglichkeiten von vornherein auf die
Erhebung einer Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht beschränkt
wäre.
Unzumutbar wäre die Erschöpfung des Rechtsweges möglicherweise dann, wenn die
Verfassungsbeschwerde auf die Verletzung verfassungsmäßiger Rechte der Verfassung
von Berlin gestützt werden sollte, die das Bundesrecht nicht kennt und denen damit
auch im Revisionsverfahren nicht Rechnung getragen werden könnte (vgl. zum
bayerischen Recht BayVerfGH, a.a.O. S. 183). Ob eine derartige Konstellation hier in
Betracht kommt, bedarf keiner weiteren Erörterung, denn auch in diesem Fall wäre die
vom Antragsteller angekündigte Verfassungsbeschwerde jedenfalls unzulässig, weil noch
kein Urteil des Landgerichts gegen den Antragsteller vorliegt.
Es ist nicht ersichtlich, dass es dem Antragsteller nicht zumutbar wäre, vor Erhebung der
Verfassungsbeschwerde zumindest den erstinstanzlichen Abschluss des Strafverfahrens
abzuwarten. Soweit dieser es für unzumutbar hält, vor einer Inanspruchnahme
verfassungsgerichtlichen Rechtschutzes den Abschluss des Strafverfahrens abzuwarten,
beruht dies auf der zwar zutreffenden, hier aber unerheblichen Erwägung, dass eine
fehlerhafte Terminsbestimmung durch den Vorsitzenden für sich genommen keinen
Revisionsgrund (siehe Pfeiffer, StPO, 3. Aufl. 1993, § 213 Rn. 9) darstellt. Der
Antragsteller verkennt, dass er es selbst in der Hand hat, durch entsprechende
Antragstellung in der Hauptverhandlung mittelbar Rechtsschutz gegen eine etwaige
unzulässige Beschränkung seiner Verteidigungsmöglichkeiten durch die von ihm
beanstandete Terminierungspraxis zu erlangen.
Entgegen seiner Auffassung drohen dem Antragsteller durch die Verweisung auf den
Rechtsweg auch keine schweren und unabwendbaren Nachteile. Es ist derzeit nicht
ersichtlich, dass die mit dem Strafverfahren und insbesondere der Untersuchungshaft
zwangsläufig verbundenen Belastungen für den Antragsteller über das unvermeidbare
und damit vom jeweiligen Angeklagten hinzunehmende Maß hinausgehen. Eine die
Vorabentscheidung rechtfertigende Sondersituation, wie sie dem vom Antragsteller
zitierten Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des
Bundesverfassungsgerichtsgerichts vom 25. September 2001 – 2 BvR 1152/01 – (NJW
2001, 3695) zugrunde gelegen hat, liegt hier nicht vor. Der dortige Beschwerdeführer
hatte sich im Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts bereits seit
fast zweieinhalb Jahren in Untersuchungshaft befunden, und die Hauptverhandlung war
wegen eines nicht von ihm zu vertretenden Umstands nach 48 Verhandlungstagen in
einer Situation ausgesetzt worden, in der die Staatsanwaltschaft bereits auf Freispruch
plädiert hatte.
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf den §§ 33 und 34 VerfGHG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar.
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