Urteil des VerfGH Berlin vom 13.03.2017

VerfGH Berlin: untersuchungshaft, dringender tatverdacht, wichtiger grund, verdeckter ermittler, kokain, fluchtgefahr, verfassungsbeschwerde, fortdauer, eingriff, strafvollstreckung

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Gericht:
Verfassungsgerichtshof
des Landes Berlin
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
104 A/04
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
Art 8 Abs 1 S 3 Verf BE, Art 8
Abs 1 S 2 Verf BE, Art 9 Abs 2
Verf BE, Art 12 Abs 1 Verf BE,
Art 15 Abs 4 Verf BE
Tenor
Der Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung wird zurückgewiesen.
Der Antrag auf Bewilligung von Prozeßkostenhilfe wird abgelehnt.
Das Verfahren ist gerichtskostenfrei.
Auslagen werden nicht erstattet.
Gründe
I. Gegen den 63-jährigen Antragsteller und (zunächst) fünf weitere Angeklagte findet seit
dem 30. Juni 2004 vor dem Landgericht Berlin die Hauptverhandlung statt. Die zugrunde
liegende Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Berlin vom 30. April 2004 legt den
Angeklagten zur Last, von Februar 2003 bis zum 29. Juli 2003 gemeinschaftlich handelnd
unerlaubt mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge Handel getrieben zu haben.
Dem Antragsteller wird im einzelnen vorgeworfen, sich bei verschiedenen ihm bekannten
Lieferanten um möglichst 50 kg Kokain für einen gesondert verfolgten H. und den als
dessen Partner auftretenden Scheinaufkäufer, den als verdeckten Ermittler eingesetzten
Zeugen J., bemüht zu haben. Dabei soll für 50 kg Kokain ein Gesamtkaufpreis von 1,5
Mio. Euro vorgesehen gewesen sein und die Gewinnerwartung des Antragstellers
zwischen 15.000 und 30.000 Euro gelegen haben.
Die Mittelsmänner L. und S. des Antragstellers, die mit ihm zusammen angeklagt
wurden, sollen gegen das Versprechen der Gewinnbeteiligung den Geschäftskontakt zu
dem weiteren Angeklagten B. hergestellt haben, der als Mitglied einer belgischen
Lieferantengruppe, die in Belgien gesondert verfolgt wird, als Kontaktmann zur
deutschen Abnehmerseite fungiert haben soll.
Außerdem sollen der Antragsteller und drei seiner Mittelsmänner noch in Verhandlungen
über weitere 20 kg Kokain gestanden haben, die über eine andere Quelle des
Mitangeklagten S. wenige Tage nach der für Anfang Juli 2003 geplanten Lieferung der 50
kg gleichfalls für den H. beschafft werden sollten.
Nachdem H. und J. dem Mittelsmann L. am 1. Juli in einer Filiale der Deutschen Bank in
Berlin 600.000 Euro als Teilkaufpreis für 20 kg Kokain vorgezeigt hätten, soll der
Antragsteller bei einem Treffen in einem Café in Berlin-Grunewald dem Zeugen J. noch
am gleichen Tage die Lieferung der 50 kg für den 4. Juli 2003 versprochen haben.
Da sich die Lieferanten- und die Abnehmerseite über die Übergabemodalitäten nicht
einig wurden, soll es zu einer Verzögerung der Geschäftsabwicklung gekommen sein.
Am 13. Juli 2003 soll der Antragsteller dem Zeugen J. bei einem Treffen in Trier mitgeteilt
haben, daß sich der Kilopreis wegen der besonderen Qualität des Kokains von 30.000 auf
35.000 Euro erhöhe, worauf sich J. zunächst zu einer Abnahme von 10 kg bereit erklärte
habe. Am 14. Juli soll J. dem Antragsteller den Kaufpreis von 350.000 Euro vorgezeigt
und ein Foto dieser Kaufsumme als Nachweis für die Lieferanten übergeben haben.
Wegen Meinungsdifferenzen über die Einzelheiten der Geschäftsabwicklung soll es
jedoch zu einer Übergabe nicht gekommen sein.
An den Tagen vor dem 29. Juli 2003 sollen erneut Verhandlungen bezüglich der
Kokainübergabe zwischen den Angeklagten einerseits und den belgischen Lieferanten
andererseits stattgefunden haben, wobei der Antragsteller mit S. übereingekommen sei,
das Geschäft nunmehr ohne den L. durchzuführen. S. soll den Angeklagten Sp. als
weiteren Mittäter gewonnen haben. Dessen Aufgabe sei u. a. gewesen, gegen eine
Entlohnung von 10.000 Euro den Antragsteller zu den Verhandlungs- und Übergabeorten
in den Beneluxländern zu fahren und das Kokain in seinem Auto zu den Abnehmern
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in den Beneluxländern zu fahren und das Kokain in seinem Auto zu den Abnehmern
nach Berlin zu transportieren. Am 28. Juli 2003 soll sich der Antragsteller von Berlin nach
Lüttich begeben haben, um sich dort mit einem Teil der deutschen Mittelsmänner und
belgischen Lieferanten wegen weiterer Absprachen zu treffen. Am Morgen des 29. Juli
2003 soll man mit zwei Pkw’s in Richtung Antwerpen aufgebrochen sein. Nach etwa 20
km Fahrt sei es zu einem Treffen mit der Lieferantenseite gekommen. Der Antragsteller
soll den Lieferanten in die Niederlande gefolgt sein, wo diese schließlich 40 kg Kokain
bereitgestellt haben sollen, die in dem Wagen des Sp. verstaut worden seien. Da H. eine
Geldübergabe im Ausland und die Lieferantenseite eine Geldübergabe in Aachen
verweigerten, soll das Rauschgift aus dem Pkw des Sp. wieder ausgeladen worden sein.
Der Antragsteller soll sich zusammen mit S. und Sp. am Abend des 29. Juli 2003 nach
Aachen begeben haben, um sich dort mit den Angeklagten Bo. und B. sowie dem
gesondert verfolgten H. zu weiteren Verhandlungen zu treffen. Bei diesem Treffen sollen
die Angeklagten vorläufig festgenommen und bei S. eine Kokainprobe von 2,5 g
sichergestellt worden sein.
Der am 29. Juli 2003 vorläufig festgenommene Antragsteller befindet sich seit dem 30.
Juli 2003 in Untersuchungshaft. Der angegriffene Haftbefehl des Amtsgerichts Tiergarten
von diesem Tage stützt sich auf den Haftgrund der Fluchtgefahr. Mit der Haftbeschwerde
beanstandete der Antragsteller, es fehle an konkreten Tatsachen, aus denen sich ein
dringender Tatverdacht ergebe. Vielmehr lägen den Anschuldigungen bloße
Mutmaßungen und Interpretationen der Ermittler zugrunde, zumal nennenswerte
Rauschgiftmengen - abgesehen von einer 2,5 g Probe, die dem Angeklagten S.
zugeordnet werde - zu keiner Zeit aufgetaucht seien und man es daher nur mit einer Art
Luftgeschäft zu tun habe. Wegen des Alters des Antragstellers, seiner Mittellosigkeit,
seiner geordneten familiären Verhältnisse mit Frau und Kind und seines angegriffenen
Gesundheitszustandes sei die Annahme einer Fluchtgefahr realitätsfremd. Angesichts
der überlangen Dauer und der Langsamkeit des Ermittlungsverfahrens sei die Fortdauer
der Untersuchungshaft unverhältnismäßig.
Durch Beschluß vom 10. Februar 2004 ordnete das Kammergericht nach § 122 Abs. 1
StPO die Fortdauer der Untersuchungshaft über die Dauer von sechs Monaten hinaus
an. Der dringende Tatverdacht gegenüber dem Antragsteller ergebe sich aus den
Protokollen der Telefonüberwachung in Verbindung mit den Erkenntnissen aus
Observationen sowie der geständigen Einlassung des L. und den Bekundungen von zwei
verdeckten Ermittlern sowie der übrigen ermittelnden Polizeibeamten. Nach der
Rechtsprechung aller Strafsenate des Bundesgerichtshofs reichten für die Annahme des
vollendeten Handeltreibens ernsthafte Verhandlungen über den Ankauf von
Betäubungsmitteln zum gewinnbringenden Weiterverkauf aus, sofern das Stadium
allgemeiner Anfragen verlassen werde. Auch der Einsatz verdeckter Ermittler schließe
die Vollendung der Tat nicht aus. Im Hinblick darauf, daß dem Antragsteller
Handeltreiben mit der gefährlichen harten Droge Kokain in erheblicher Menge
vorgeworfen werde, habe er im Falle seiner Verurteilung mit einer Freiheitsstrafe zu
rechnen, die mehrere Jahre über der Mindeststrafe von einem Jahr liege. Der von dieser
Freiheitsstrafe ausgehende Fluchtanreiz sei so groß, daß die weitere Durchführung des
Verfahrens, zu der auch eine anschließende Strafvollstreckung gehöre, nicht anders als
durch den Vollzug der Untersuchungshaft sichergestellt werden könne. Angesichts der
Straferwartung sei nach ständiger Rechtsprechung des Kammergerichts nur noch zu
prüfen, ob Tatsachen gegeben seien, die die hieraus herzuleitende Fluchtgefahr mindern
könnten. Dafür genügten normale familiäre Bindungen nicht.
Die besondere Schwierigkeit und der im Ausgang große Kreis von 23 Beschuldigten mit
einer entsprechenden Fülle von Telefonüberwachungsprotokollen rechtfertigten die
Fortdauer der Untersuchungshaft. Allerdings sei das Verfahren von der
Staatsanwaltschaft nicht mit der gebotenen Beschleunigung geführt worden, da nach
dem August 2003 nur noch wenige verfahrensfördernde Handlungen vorgenommen
worden seien. Bei der ersten Haftprüfung nach § 122 Abs. 1 StPO führten
Verfahrensverzögerungen allerdings nur dann zur Aufhebung des Haftbefehls, wenn sie
auf groben Fehlern und Versäumnissen beruhten und erheblicher Zeitverlust eingetreten
sei. Die vorliegende zeitweilige Verzögerung könne durch beschleunigte Bearbeitung
wieder ausgeglichen werden. Die Staatsanwaltschaft sei daher gehalten, kurzfristig
Anklage zu erheben. Die Untersuchungshaft stehe im übrigen offenkundig zu der
Bedeutung der Sache nicht außer Verhältnis.
In einem weiteren Beschluß vom 26. Mai 2004 nach § 122 Abs. 4 StPO ordnete das
Kammergericht die weitere Fortsetzung der Untersuchungshaft an und nahm dabei
Bezug auf seine Beschlußgründe vom 10. Februar 2004. Im übrigen sei das Verfahren
jetzt auf den wünschenswerten Sachstand gebracht, nachdem die Staatsanwaltschaft
Anklage erhoben und die große Strafkammer das Zwischenverfahren in Gang gesetzt
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Anklage erhoben und die große Strafkammer das Zwischenverfahren in Gang gesetzt
und für den Fall der Eröffnung des Hauptverfahrens zunächst vier Terminstage zur
Hauptverhandlung angekündigt habe. Daß es bei der größeren Anzahl der Verteidiger
unter Umständen zu Terminsverlegungen und damit zu Verzögerungen kommen könne,
liege in der Sphäre der Angeschuldigten und könne nicht der Justiz angelastet werden,
die mit ihrer Terminierung jedenfalls eine klare Vorgabe für den Verhandlungsverlauf
angeboten habe.
Die Verfahren gegen die Angeklagten B. und L. wurden abgetrennt. Der geständige L.
wurde am 9. August 2004 zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und neun Monaten
verurteilt.
Mit seiner am 25. Juni 2004 erhobenen Verfassungsbeschwerde - VerfGH 104/04 -, über
die noch nicht entschieden ist, rügt der Antragsteller die Verletzung von Art. 8 Abs. 1
Satz 2 und 3, Art. 9 Abs. 2, Art. 12 Abs. 1, Art. 15 Abs. 4 sowie Art. 80 VvB. Der
Antragsteller wiederholt seine früheren Einwände gegen die Rechtmäßigkeit von
Anordnung und Fortsetzung der Untersuchungshaft. Die angegriffenen Entscheidungen
hätten weder geprüft, ob der Eingriff in die Freiheit des Antragstellers zur Gewährleistung
höherstehender Rechtsgüter unerlässlich sei, noch ob der
Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gewahrt werde, noch ob empirisch nachvollziehbar im
konkreten Falle Fluchtgefahr vorläge. Angesichts gänzlich fehlenden Rauschgifts gebe es
keine Tatsachen, aus denen sich dringender Tatverdacht ableiten lasse. Dieser sei unter
keinem Gesichtspunkt nachzuvollziehen. Die Untersuchungshaft als Verletzung des
Freiheitsgrundrechts und des Rechts auf Schutz von Ehe und Familie sowie zahlreicher
Kommunikationsrechte sei auch ein Verstoß gegen die verfassungsrechtliche
Unschuldsvermutung. Der Anspruch auf effektiven Rechtsschutz erfordere eine nicht nur
formale, sondern detaillierte und sorgfältige Auseinandersetzung mit dem aufgrund von
Tatsachen feststehenden Sachverhalt. Tatsächlich werde durch lediglich formelhafte
Sätze und unsachliche Leerformeln die gebotene Prüfung verweigert und die in der
Verfassung gewährleisteten Rechte des Antragstellers ignoriert. Eine inhaltliche Prüfung
finde nicht statt. Höchste Individualrechte würden ohne ernsthafte Argumentations- und
Aktenprüfung dem Interesse der Strafverfolgungsbehörden untergeordnet, deren
Beweismittel sich weitgehend in Mutmaßungen und Spekulationen erschöpften und im
übrigen durch „Denunziationen“ und dem Einsatz von „Lockspitzeln“+ beschafft worden
seien. Am 10. August 2004 sei die Hauptverhandlung wegen urlaubsbedingter
Abwesenheit von Kammermitgliedern bis zum 9. September 2004 unterbrochen worden.
Bis dahin werde der Antragsteller sich dann etwa 10.000 Stunden in U-Haft befunden
haben, denen nur knapp 17 Stunden Hauptverhandlung gegenüberstünden.
Angesichts der bisherigen Dauer der Untersuchungshaft, des Alters und des
Gesundheitszustandes des Antragstellers, der Hochrangigkeit der verletzten
Grundrechtsgüter und der nicht erkennbaren Fluchtgefahr sowie der Weigerung des
Kammergerichts, die Grundlagen der Haftfortdauer tatsächlich verfassungsgemäß zu
prüfen, sei der Erlaß einer einstweiligen Anordnung zur Abwendung schwerer Nachteile
für den Antragsteller geboten.
Der Antragsteller beantragt,
1. im Wege der einstweiligen Anordnung zu seinen Gunsten Verschonung von dem
Vollzug des Haftbefehls des Amtsgerichts Tiergarten vom 30. Juli 2003 anzuordnen,
2. ihm für das vorliegende Verfahren Prozeßkostenhilfe unter Beiordnung seines
Verfahrensbevollmächtigten zu gewähren.
Der Richter L. ist gemäß § 16 Abs. 1 Nr. 2 VerfGHG in diesem Verfahren von der
Ausübung des Richteramtes ausgeschlossen.
II. Der zulässige Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung ist unbegründet. Die
Voraussetzungen von § 31 Abs. 1 VerfGHG liegen nicht vor. Nach § 31 Abs. 1 VerfGHG
kann der Verfassungsgerichtshof im Streitfall einen Zustand durch einstweilige
Anordnung nur dann vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur
Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grunde zum
gemeinen Wohl dringend geboten ist. Wegen der meist weitreichenden Folgen, die eine
einstweilige Anordnung in einem verfassungsgerichtlichen Verfahren auslöst, ist bei der
Prüfung der Voraussetzungen des § 31 Abs. 1 VerfGHG ein strenger Maßstab anzulegen.
Die Erfolgsaussichten im Hauptsacheverfahren, insbesondere die Gründe, welche für
oder gegen die Verfassungswidrigkeit einer angegriffenen Maßnahme sprechen, müssen
bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 31 Abs. 1 VerfGHG außer Betracht bleiben,
es sei denn, das Begehren des Hauptsacheverfahrens erweist sich als von vornherein
unzulässig oder offensichtlich unbegründet. In anderen Fällen sind die Nachteile, die
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unzulässig oder offensichtlich unbegründet. In anderen Fällen sind die Nachteile, die
einträten, wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, die Maßnahme aber später für
verfassungswidrig erklärt würde, gegen diejenigen abzuwägen, die entstünden, wenn der
Vollzug der Maßnahme ausgesetzt würde, sich aber im Hauptsacheverfahren als
verfassungsgemäß erwiese.
Im vorliegenden Fall ist die Verfassungsbeschwerde - soweit mit ihr die Verletzung von in
der Verfassung von Berlin verbürgten Grundrechten gerügt wird - jedenfalls nicht in allen
Punkten von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet, aber auch nicht
offensichtlich begründet. Einerseits ist das Verfahren von der Staatsanwaltschaft, wie
auch das Kammergericht beanstandet hat, nach der Festnahme des Antragstellers nicht
in jeder Hinsicht mit der in Haftsachen gebotenen Eile vorangetrieben worden,
andererseits ist die Auswertung von mehreren tausend, oft verschlüsselten
Telefonprotokollen und deren Einarbeitung in eine Anklageschrift eine besonders
zeitaufwendige Aufgabe. Der Ausgang des Verfassungsbeschwerdeverfahrens ist daher
offen.
Eine länger als sechs Monate andauernde Untersuchungshaft darf nur aufrechterhalten
werden, wenn die besondere Schwierigkeit oder der besondere Umfang der Ermittlungen
oder ein anderer wichtiger Grund das Urteil noch nicht zulassen und die Fortdauer der
Haft rechtfertigen (§ 121 Abs. 1 StPO). Diese Voraussetzungen können z. B. gegeben
sein, wenn die mehreren Angeklagten zur Last gelegten Taten gleichzeitig abgeurteilt
werden müssen, weil nur auf diese Weise eine umfassende sowie gerechte
Rechtsfindung und Strafzumessung sichergestellt werden kann und deswegen die
Schwierigkeiten bei der Klärung zu Lasten aller Angeklagten berücksichtigt werden
dürfen (Hilger in: Löwe/Rosenberg, StPO, § 121 Rnr. 30 [Stand 1.10.1996]). Eine
derartige Konstellation könnte im vorliegenden Fall bestehen, weil es um die Aufklärung
und Verfolgung von Straftaten geht, an denen mehrere Tatverdächtige mit
unterschiedlichen Tatbeiträgen beteiligt gewesen sein sollen. Die lange Verfahrens- und
Untersuchungshaftdauer ist daher nicht ohne weiteres nur die Folge einer lediglich zur
Entlastung der Justiz getroffenen organisatorischen Maßnahme. Allerdings ist der Staat
verpflichtet, im Rahmen des Zumutbaren alle Maßnahmen zu treffen, die erforderlich
sind, um eine rasche Aufklärung und Entscheidung sicherzustellen (vgl. zum
Beschleunigungsgebot: Beschlüsse vom 13. Februar 1998 - VerfGH 12 A/98 - LVerfGE 8,
56 <58> und vom 13. Dezember 2001 - VerfGH 138/01 -; vgl. zum Bundesrecht z. B.
BVerfGE 20, 45 <50>; 36, 264 <273>). Die Überprüfung, ob Amtsgericht und
Kammergericht in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise das Vorliegen
der Tatbestandsvoraussetzungen für die Anordnung bzw. Fortdauer der
Untersuchungshaft festgestellt und die erforderliche Abwägung zwischen dem Interesse
des Staates an einer wirksamen Strafrechtspflege und dem Freiheitsanspruch des
Antragstellers unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit
vorgenommen haben, muß dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben.
Die wegen der Offenheit des Ausgangs des Verfassungsbeschwerdeverfahrens
notwendige Folgenabwägung führt zur Ablehnung des Antrags auf Erlaß einer
einstweiligen Anordnung.
Ergeht die einstweilige Anordnung nicht, so kann die Untersuchungshaft in der
Zwischenzeit weiter vollzogen werden. Dies ist dem Antragsteller bis zur in absehbarer
Zeit beabsichtigten Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde zuzumuten. Die für
die Vollstreckung von Strafhaft oder den Maßregelvollzug herangezogenen
Gesichtspunkte, daß diesen Maßnahmen ein erheblicher, grundsätzlich nicht wieder
gutzumachender Eingriff in das Freiheitsgrundrecht zukommt, falls sich später eine
gegen diese Maßnahme gerichtete Verfassungsbeschwerde als begründet erweisen
sollte (vgl. zum Bundesrecht: BVerfG, Beschluß vom 3. Dezember 1998 - BvR 2033/98 -
NStZ 1999, 156 <157>), lassen sich im Rahmen der Güterabwägung auf die
fortdauernde Untersuchungshaft nicht ohne weiteres übertragen. Diese dient der
Durchführung eines geordneten Strafverfahrens unter Sicherstellung der späteren
Strafvollstreckung (BVerfGE 20, 45 <50>). Ihre Dauer wird gemäß § 51 Abs. 1 Satz 1
StGB in der Regel auf eine zeitige Freiheitsstrafe angerechnet. Die Dauer der
Untersuchungshaft darf allerdings nicht außer Verhältnis zu der voraussichtlich zu
erwartenden Strafe stehen (BVerfGE 20, 45 <49>). Bei überlanger, sich der Dauer einer
späteren Freiheitsstrafe annähernden Untersuchungshaft, während derer sich der
Angeklagte lediglich in Verwahrung befindet, verbleibt ansonsten nur eine Reststrafzeit,
die zu kurz ist, um einen sinnvollen und erfolgversprechenden Strafvollzug zu
ermöglichen (BVerfGE 36, 264 <270>). Diese Konstellation trifft auf den Antragsteller
trotz seiner bereits über ein Jahr andauernden Untersuchungshaft derzeit noch nicht zu.
Denn nach der in den Kammergerichts-Beschlüssen vom 10. Februar 2004 und 26. Mai
2004 zum Ausdruck gebrachten Einschätzung droht ihm bei vorläufiger Bewertung im
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2004 zum Ausdruck gebrachten Einschätzung droht ihm bei vorläufiger Bewertung im
Falle der Verurteilung eine Freiheitsstrafe, die mehrere Jahre über der Mindeststrafe von
einem Jahr liegt. Je länger die Untersuchungshaft allerdings währt, ohne daß ein
Abschluß des gegen den Antragsteller geführten Strafverfahrens absehbar ist, desto
größer wird das Gewicht des Freiheitsanspruchs des Antragstellers gegenüber der
Strafverfolgungspflicht des Staates (vgl. BVerfGE 36, 264 <270>; 53, 152 <159>).
Ergeht die einstweilige Anordnung hingegen, wird die Verfassungsbeschwerde aber
später als unbegründet zurückgewiesen, so wiegen die damit verbundenen Nachteile
jedenfalls zur Zeit noch schwerer. Wird die Untersuchungshaft beendet bzw. ihr Vollzug
ausgesetzt, wäre die Verwirklichung des im Hinblick auf den vom Kammergericht
angenommenen dringenden Tatverdacht voraussichtlich gegenüber dem Antragsteller
bestehenden staatlichen Strafanspruchs ungewiß. Denn für den Antragsteller besteht
bei der zu erwartenden Strafhöhe ein erheblicher Fluchtanreiz. Die familiäre Bindung, der
feste Wohnsitz, das Alter und der schlechte Gesundheitszustand mögen den
Fluchtanreiz vermindern, beseitigen ihn indessen kaum.
Der Antrag auf Prozeßkostenhilfe ist mangels hinreichender Erfolgsaussichten für den
Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung abzulehnen.
Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 33, 34 VerfGHG.
Dieser Beschluß ist unanfechtbar.
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