Urteil des VerfGH Berlin vom 28.04.1994

VerfGH Berlin: anspruch auf rechtliches gehör, faires verfahren, einspruch, verfassungsbeschwerde, aushändigung, mehrheit, post, verspätung, zustellung, grundrecht

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Gericht:
Verfassungsgerichtshof
des Landes Berlin
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
48/94
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
Art 62 Verf BE, § 52 Abs 1
OWiG, § 52 Abs 2 OWiG, § 45
Abs 1 StPO
VerfGH Berlin: Aufhebung eines Beschlusses im
Bußgeldverfahren wegen Verletzung des Rechts auf rechtliches
Gehör aufgrund fehlender fachgerichtlicher Auseinandersetzung
mit dem wegen der Versäumung der Einspruchsfrist gestellten
Antrags auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand
Tenor
1. Der Beschluss des Amtsgerichts Tiergarten vom 28. April 1994 - 351 Gs 1782/94 -
verletzt das Grundrecht der Beschwerdeführerin auf rechtliches Gehör und wird
aufgehoben.
...
...
...
Gründe
I.
Die Beschwerdeführerin wendet sich mit ihrer Verfassungsbeschwerde gegen ein ihr
gegenüber verhängtes Bußgeld von 8.000,00 DM wegen Nichtentfernung eines nicht
mehr angemeldeten Fahrzeuges vom öffentlichen Straßenrand. Das Bußgeld ist
inzwischen im Gnadenwege auf 1.000,00 DM reduziert worden.
Die Beschwerdeführerin war Eigentümerin eines Pkw Trabant, der seit dem 31.
Dezember 1991 stillgelegt war und auf der öffentlichen Straße vor dem Wohnhaus, in
dem die Beschwerdeführerin wohnt, abgestellt war. Der Pkw wurde nach vorheriger
Anordnung mit einem sog. roten Punkt am 11. März 1993 abgeschleppt und
verschrottet.
Mit Bußgeldbescheid vom 15. Juli 1993 wurde gegen die Beschwerdeführerin ein Bußgeld
gemäß § 18 Abs. 1 Nr. 1 AbfG in Höhe von 8.000,00 DM festgesetzt.
Der Bußgeldbescheid wurde durch Niederlegung zur Post am 26. Juli 1993 zugestellt. Die
Beschwerdeführerin, die sich vom 24. Juli 1993 bis zum 8. August 1993 in Urlaub befand,
holte den Bescheid am 9. August 1993 ab. Der Umschlag des Zustellungsbriefes enthält
sowohl in der Rubrik "Zugestellt durch Niederlegung am" einen handschriftlichen
Vermerk "26. Juli 1993" wie auch in der Rubrik "Zugestellt am" einen handschriftlichen
Vermerk " ausgel. 09.8.93".
Die Beschwerdeführerin legt mit Schreiben vom 14. August 1993, zur Post gegeben
nach dem in der Bußgeldakte enthaltenen Poststempel am 17. August 1993,
"Widerspruch" ein. Im Widerspruchsschreiben führt sie aus: "Ihr Schreiben vom 15. Juli
1993 habe ich per Zustellung am 09.08.92 erhalten." Das Schreiben der
Beschwerdeführerin ging am 23. August 1993 der Verwaltungsbehörde ein.
Mit Bescheid des Landeseinwohneramtes vom 15. Oktober 1993 wurde der Einspruch
der Beschwerdeführerin nach § 69 OWiG als unzulässig verworfen. Weiter heißt es - ohne
sprachlichen Zusammenhang -: "abgelehnt (§ 52 OWiG)." Zur Begründung wird
ausgeführt, der Bußgeldbescheid vom 15. Juli 1993 sei am 26. Juli 1993 zugestellt
worden, so daß der Einspruch verspätet sei; ein Irrtum bei der Berechnung der
Einspruchsfrist sei von der Beschwerdeführerin zu vertreten.
Der Bescheid wurde wiederum durch Niederlegung zur Post am 22. Oktober 1993
zugestellt und am 29. Oktober 1993 von der Beschwerdeführerin abgeholt.
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Mit einem umfangreichen Schreiben vom 3. November 1993, das sich ohne
Eingangsdatum in den Verfahrensakten befindet, beantragte die Beschwerdeführerin
entsprechend der Rechtsmittelbelehrung des Bescheides vom 15. Oktober 1993
gerichtliche Entscheidung. Außerdem begehrte sie Wiedereinsetzung wegen schuldloser
Versäumung der Einspruchsfrist und erhob erneut Einspruch gegen den
Bußgeldbescheid vom 15. Juli 1993. Bezüglich ihres Wiedereinsetzungsbegehrens trug
sie vor, sie sei davon ausgegangen, daß die Einspruchsfrist erst mit Aushändigung des
Bescheides vom 15. Juli 1993 am 9. August 1993 begonnen habe. Vom 24. Juli 1993 bis
zum 8. August 1993 habe sie sich im Urlaub befunden. Danach habe sie wegen
dienstlicher und privater Überlastungen nicht sofort reagieren können. Im Hinblick auf
den von ihr angenommenen Beginn der Einspruchsfrist erst mit der Aushändigung des
Bescheides habe sie ihren Einspruch im übrigen auch noch für rechtzeitig gehalten.
Der Wiedereinsetzungsantrag wurde mit Bescheid des Landeseinwohneramtes vom 9.
November 1993 gemäß § 52 Abs. 2 OWiG als unzulässig abgelehnt, weil der Antrag nicht
"binnen der vorgeschriebenen Wochenfrist nach Beseitigung des Hindernisses" gestellt
worden sei. Weiter heißt es: "Über Ihren Einspruch gegen den Bußgeldbescheid wurde
bereits mit dem Bescheid vom 15.10.1993 entschieden". Gegen diesen Bescheid sei ihr
Antrag auf gerichtliche Entscheidung nach § 62 OWiG zulässig, der nach Ablauf der
Rechtsbehelfsfrist dem Amtsgerichts Tiergarten übersandt werde.
Mit Beschluß des Amtsgerichts Tiergarten vom 28. April 1994 wurde der Antrag der
Beschwerdeführerin vom 3. November 1993 auf gerichtliche Entscheidung
zurückgewiesen. Der aus einem ausgefüllten Formblatt bestehende Beschluß hat
folgenden Wortlaut:
"In dem Ordnungswidrigkeitenverfahren gegen K.P. wohnhaft: .......... ........... Berlin
wegen Zuwiderhandlung gegen das Gesetz über die Vermeidung und Entsorgung von
Abfällen wird der Antrag d. Betroffenen vom 3. November 1993 auf gerichtliche
Entscheidung gegen die Beschwerde des Landeseinwohneramtes Berlin v. 9.11.1993 u.v.
15.10.1993 - II B 2126-2321/93 - gemäß § 62 OWiG aus den zutreffenden Gründen
dieses Bescheides auf dessen Kosten als unbegründet zurückgewiesen."
Mit ihrer am 26. Mai 1994 eingegangenen Verfassungsbeschwerde rügt die
Beschwerdeführerin unter Berufung auf Art. 62 VvB, daß ihr Anspruch auf rechtliches
Gehör und auf ein faires Verfahren durch die ergangene Entscheidung verletzt sei. Das
Amtsgericht gehe auf den Inhalt ihres Vorbringens in seinem Beschluß nicht ein.
Der Verfassungsgerichtshof hat die Bußgeldakten des Amtsgerichts Tiergarten
beigezogen. Dem Landeseinwohneramt ist im Verfahren Gelegenheit zur Stellungnahme
gegeben worden.
II.
Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und begründet. Der Beschluß des Amtsgerichts
Tiergarten vom 28. April 1994 verletzt den Anspruch der Beschwerdeführerin auf
rechtliches Gehör.
1. Dieses Grundrecht, das für eine Ausübung der Rechtspflege konstituierend und
grundsätzlich unabdingbar ist (Beschluß vom 15. Juni 1993 - NJW 1994, 441 (L) = JR
1993, 519), wird von Art. 62 der Verfassung von Berlin in der bis zum 23. November
1995 gültig gewesenen Fassung (VvB aF), der bestimmt, daß die Rechtspflege des
Landes Berlin im Geiste der Verfassung und des sozialen Verständnisses auszuüben ist,
mitgewährleistet (Beschluß vom 15. Juni 1993, aaO), und zwar inhaltsgleich mit Art. 103
Abs. 1 GG. Der Verfassungsgerichtshof ist daher berechtigt, Entscheidungen der
Gerichte des Landes Berlin am Maßstab des Grundrechts auf rechtliches Gehör zu
messen, auch wenn sie auf Bundesrecht beruhen.
2. Der Anspruch auf rechtliches Gehör als ein Ausfluß des rechtsstaatlichen Gehalts des
in der Achtung der Würde des Menschen wurzelnden Grundsatzes, daß über Rechte und
Pflichten des Bürgers nicht kurzerhand von Obrigkeits wegen verfügt werden darf (vgl.
BVerfGE 38, 105/114), verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der
Verfahrensbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und bei seiner Entscheidung in Erwägung
zu ziehen (Beschluß vom 10. November 1993 - VerfGH 88/93; vgl. u.a. BVerfGE 60,
247/249; 62, 249/253 f.; 65, 293/295; 79, 51/61; 86, 133/145 f.).
Dieser Anspruch ist noch nicht verletzt, wenn das Gericht aus Gründen des formellen
Rechts das Vorbringen eines Beteiligten unberücksichtigt lassen muß (vgl. u.a. BVerfGE
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Rechts das Vorbringen eines Beteiligten unberücksichtigt lassen muß (vgl. u.a. BVerfGE
69, 145/149; 79, 51/62). Insofern kann die Beschwerdeführerin nicht damit gehört
werden, ihr Anspruch auf rechtliches Gehör sei dadurch verletzt worden, daß der
Beschluß des Amtsgerichts Tiergarten vom 28. April 1994 sich nicht mit ihrem
Vorbringen zur vorgeworfenen Ordnungswidrigkeit nach dem Abfallbeseitigungsgesetz
an sich und zur Höhe des Bußgeldes aufgrund ihrer wirtschaftlichen und persönlichen
Verhältnisse auseinandergesetzt hat. Nach dem mit dem Antrag der
Beschwerdeführerin vom 3./4. November 1993 auf gerichtliche Entscheidung
angefochtenen Bescheid des Landeseinwohneramtes Berlin vom 15. Oktober 1993 kam
es auf diese inhaltlichen Fragen wegen Verfristung des Einspruchs der
Beschwerdeführerin gegen den ursprünglichen Bußgeldbescheid nicht an. Von zentraler
Bedeutung für die gerichtliche Entscheidung war deshalb vorerst nicht die materielle
Rechtslage, sondern die Frage der Verfristung der von der Beschwerdeführerin
eingelegten Rechtsbehelfe.
Der Anspruch der Beschwerdeführerin auf rechtliches Gehör ist aber durch den Beschluß
des Amtsgerichts vom 28. April 1994 insofern verletzt, als der Beschluß keine
Auseinandersetzung mit ihrem Wiedereinsetzungsvorbringen enthält. Nach ständiger
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum rechtlichen Gehör, der der
Verfassungsgerichtshof folgt, ist eine Verletzung dieses Prozeßgrundrechts dann
feststellbar, wenn im Einzelfall besondere Umstände deutlich machen, daß tatsächliches
Vorbringen oder Rechtsausführungen eines Beteiligten entweder überhaupt nicht zur
Kenntnis genommen oder doch bei der Entscheidung nicht erwogen worden sind; ein
solcher Umstand ist gegeben, wenn das Gericht zu einer Frage, die für das Verfahren
von zentraler Bedeutung ist, trotz entsprechenden Parteivortrags in den
Entscheidungsgründen nicht Stellung nimmt (vgl. zuletzt BVerfG, Beschluß vom 16. Juni
1995, NJW-RR 1995, 1033, 1034 m.w.N.). Der Beschluß des Amtsgerichts Tiergarten vom
28. April 1994 geht auf das Wiedereinsetzungsvorbringen der Beschwerdeführerin wegen
der Versäumung der Einspruchsfrist, insbesondere auf die mögliche Bedeutung eines
offensichtlich zweideutig ausgefüllten Zustellungsumschlags (Ausfüllung der Rubrik
"zugestellt am" durch handschriftlichen Vermerk des Postbediensteten: " ausgel.
9.8.93") und auf die in ihrem Vorbringen zum Ausdruck kommende Orientierung allein an
den Fristbestimmungen in den jeweiligen Rechtsmittelbelehrungen mit keinem Wort ein,
sondern weist den Antrag vom 3. November 1993 "gegen die Bescheide des
Landeseinwohneramtes Berlin vom 9. November 1993 und vom 15. Oktober 1993 aus
den zutreffenden Gründen dieses Bescheides" zurück. Nach der insoweit eindeutigen
deutschen Sprache macht sich der Beschluß des Amtsgerichts vom 28. April 1994 damit
ausschließlich die Gründe des zuletzt genannten Bescheides des
Landeseinwohneramtes Berlin vom 15. Oktober 1993 zu eigen, gegen den sich ja auch
der Antrag auf gerichtliche Entscheidung vom 3. November 1993 explizit gerichtet hatte.
Dieser setzte sich aber gerade mit dem erst später - am 3. November 1993 -
formulierten zentralen Anliegen der Beschwerdeführerin auf Wiedereinsetzung noch nicht
auseinander, sondern zitierte - ohne sprachlichen Zusammenhang - lediglich die
Wiedereinsetzungsvorschrift des § 52 Abs. 2 OWiG.
Es ist zwar nicht auszuschließen, daß der Beschluß vom 28. April 1994, der durch das
Ausfüllen eines Vordrucks entwickelt wurde, insofern nur auf einem Flüchtigkeitsversehen
des Richters beruht und auch Bezug auf den weiteren behördlichen Bescheid vom 9.
November 1993 genommen werden sollte. Jedoch läßt auch dieser nicht erkennen, ob
der Wiedereinsetzungsantrag mit Rücksicht auf die Wochenfrist nach der Aushändigung
des Bußgeldbescheides am 9. August 1993 oder im Hinblick auf diejenige nach
Zustellung des Bescheides vom 15. Oktober 1993 für unzulässig gehalten wird, und
entbehrt überdies jeglicher Ausführungen zu der sich hier aufdrängenden Frage der
Wiedereinsetzung in die betreffende Wiedereinsetzungsfrist (vgl. hierzu BVerfGE 40, 46,
50), so daß auch mit einer Bezugnahme auf den Bescheid vom 9. November 1993 keine
ausreichende Würdigung des Vorbringens der Beschwerdeführerin vom 3. November
1993 verbunden wäre. Außerdem versteht sich diese Auslegung des Beschlusses
keineswegs von selbst. Der Verfassungsgerichtshof verkennt dabei keineswegs, daß die
Rechtsprechung auf Vordrucke und Textbausteine zurückgreifen darf und gerade auch
im Interesse der Rechtsuchenden auf dieses Mittel zurückgreifen muß, um die
erforderliche Zeit für das Finden der zu treffenden Entscheidung zu behalten. Gerade
diese Entscheidungsfindung muß jedoch nachvollziehbar sein. Auch bei einer nicht näher
begründenden Gerichtsentscheidung muß den betroffenen Bürger zur Wahrung seines
rechtlichen Gehörs im Einklang mit dem Rechtsstaatsprinzip, zu dem sich die
Verfassung von Berlin sinngemäß in ihrem Vorspruch und ihrer Gesamtkonzeption
bekennt (vgl. Beschluß vom 15. Juni 1993 - VerfGH 18.93 - a.a.O.), zumindest ein - wenn
auch erschwertes - Nachvollziehen der Entscheidung (vgl. BVerfGE 50, 280, 289) möglich
sein. Dies gilt in besonderem Maße, wenn es sich - wie hier - um die Entscheidung der
einzigen zur Verfügung stehenden gerichtlichen Instanz über ein Bußgeld handelt, das
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einzigen zur Verfügung stehenden gerichtlichen Instanz über ein Bußgeld handelt, das
angesichts seiner Höhe 8.000,-- DM mit einer massiven Geldstrafe vergleichbar ist. Die
Beschwerdeführerin kann deshalb nicht auf die bloße Möglichkeit einer anderen
Auslegung des Beschlusses verwiesen werden.
Mit dem objektiven Wortlaut der Gründe und dem Fehlen sonstiger Anhaltspunkte dafür,
daß das Gericht das entscheidungserhebliche Vorbringen der Beschwerdeführerin in
seine Erwägungen mit einbezogen hat, sind besondere Umstände gegeben, die die
verfassungsgerichtliche Feststellung rechtfertigen, daß das Gericht seiner Verpflichtung
zur Gewährung des rechtlichen Gehörs nicht nachgekommen ist.
Insofern, in der Auslegung des Beschlusses des Amtsgerichts Tiergarten vom 28. April
1994, ist der Beschluß mit 5 zu 4 Stimmen ergangen.
Es kann auch nicht ausgeschlossen werden, daß die Entscheidung des Amtsgerichts
Tiergarten vom 28. April 1994 auf diesem Verstoß gegen das rechtliche Gehör beruht.
Ob der Wiedereinsetzungsantrag der Beschwerdeführerin vom 3. November 1993 im
Hinblick auf die am 22. Oktober 1993 erfolgte Zustellung des Bescheides vom 15.
Oktober 1993, der von der Beschwerdeführerin tatsächlich erst am 29. Oktober 1993
abgeholt wurde, verspätet war, obliegt ebenso wie die Frage, ob der Irrtum der
Beschwerdeführerin aufgrund des mißverständlich ausgefüllten Zustellungsumschlags
des ursprünglichen Bußgeldbescheides ("zugestellt am" " Ausgel. 09.8.93"), verschuldet
oder unverschuldet war, der Prüfung der dafür in erster Linie zuständigen Fachgerichte.
3. Die Entscheidung des Amtsgerichts Tiergarten vom 28. April 1994 war daher
aufzuheben und die Sache an das Amtsgericht zurückzuverweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 33, 34 VerfGHG.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Abweichende Meinung
Entgegen der Auffassung der beschließenden Mehrheit liegt kein Verstoß gegen den mit
Art. 103 Abs. 1 GG übereinstimmenden landesrechtlichen Verfassungsgrundsatz des
rechtlichen Gehörs vor.
Allerdings ist in Übereinstimmung mit der ständigen Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts davon auszugehen, daß eine gerichtliche Entscheidung auf
einer Grundrechtsverletzung dieser Art beruhen kann, wenn sich aus den besonderen
Umständen des einzelnen Falles deutlich ergibt, daß das Gericht wesentliches
Vorbringen einer Partei entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder
jedenfalls erkennbar nicht in Erwägung gezogen hat (vgl. etwa BVerfGE 27, 248 (251 f.);
47, 182 (187 ff.); 54, 86 (92); 86, 133 (146)). Entgegen der Auffassung der
beschließenden Mehrheit läßt der im vorliegenden Falle angegriffene Beschluß des
Amtsgerichts Tiergarten vom 28. April 1994 jedoch weder nach seinem Wortlaut noch
nach den sonstigen Umständen des Verfahrens einen Verstoß dieser Art zum Nachteil
der Beschwerdeführerin erkennen.
Aufgrund des Antragsschriftsatzes der Beschwerdeführerin vom 3. November 1993
hatte das Amtsgericht zu entscheiden, ob die mit Bescheid des Landeseinwohneramtes
Berlin vom 15. Oktober 1993 ausgesprochene Verwerfung des Einspruchs gegen den
Bußgeldbescheid wegen Verspätung mit Recht erfolgt war oder ob jedenfalls der
nunmehr gestellte Wiedereinsetzungsantrag eine sachliche Nachprüfung ermöglichte.
Als Vorfrage für die Prüfung der Wiedereinsetzungsgründe war darüber zu befinden, ob
der Wiedereinsetzungsantrag rechtzeitig innerhalb der nach § 52 Abs. 1 OWiG i.V.m. § 45
Abs. 1 StPO vorgeschriebenen Frist von einer Woche nach Wegfall des Hindernisses
gestellt wurde. Hierzu hatte das Landeseinwohneramt zwischenzeitlich schon mit
Bescheid vom 9. November 1993 die Auffassung vertreten, die Beschwerdeführerin habe
diese Wochenfrist versäumt. Die Beschwerdeführerin hat sich trotz dieses ihr im
November 1993 zugestellten weiteren Bescheides in dem Verfahren beim Amtsgericht
dann nicht nochmals geäußert. Die unter Verwendung eines Vordrucks erstellte
Entscheidung des Amtsgerichts vom 28. April 1994 lautet dahingehend, daß
"der Antrag d. Betroffenen vom 3. November 1993 auf gerichtliche Entscheidung gegen
die Bescheide des Landeseinwohneramtes Berlin v. 9.11.1993 u.v. 15.10.1993 - AZ ... -
gemäß § 62 OWiG aus den zutreffenden Gründen dieses Bescheides auf dessen Kosten
als unbegründet zurückgewiesen"
wird. Ungeachtet der unvollkommen sprachlichen Gestaltung, die offensichtlich auf
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wird. Ungeachtet der unvollkommen sprachlichen Gestaltung, die offensichtlich auf
einem Flüchtigkeitsversehen bei der Verwendung des Vordrucks beruhte, läßt die
Entscheidung des Amtsgerichts hinreichend deutlich erkennen, daß der Richter sich zur
Wiedereinsetzungsfrage die Auffassung des zwischenzeitlich ergangenen Bescheids vom
9. November 1993 zu eigen machte und daß er im Hinblick auf die Verspätung des
Wiedereinsetzungsantrages keine Grundlage für ein inhaltliches Eingehen auf die
vorgebrachten Wiedereinsetzungsgründe sah.
Auch die beschließende Mehrheit des Verfassungsgerichtshofes räumt ein, daß der
Anspruch auf rechtliches Gehör nicht verletzt ist, wenn ein Gericht aus Gründen des
formellen Rechts das Vorbringen eines Beteiligten unberücksichtigt lassen muß. Sie
übersieht jedoch, daß der vorliegende Fall gerade so gelagert ist. Das gesamte sachliche
Vorbringen der Beschwerdeführerin, auch zu dem geltend gemachten
Wiedereinsetzungsgrund eines Irrtums über die Berechnung der Einspruchsfrist, war bei
Verspätung des Wiedereinsetzungsantrages unerheblich. Zu dem nach Auffassung des
Amtsgerichts allein entscheidungserheblichen Punkt einer Wahrung der gesetzlichen
Wochenfrist hatte sich die Beschwerdeführerin trotz des mit dem weiteren Bescheid vom
9. November 1993 erhaltenen diesbezüglichen Hinweises nicht mehr schriftsätzlich
geäußert, so daß das Amtsgericht jedenfalls nicht nach verfassungsrechtlichen
Maßstäben zur Vermeidung des Anscheins eines Gehörsverstoßes gehalten war, die
Begründung ausführlicher zu gestalten. Ob eine ausführlichere, auf Verständlichkeit für
einen juristisch nicht vorgebildeten Adressaten angelegte Fassung hier der Sachlage
besser entsprochen hätte oder jedenfalls wünschenswert gewesen wäre, ist für die
Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde ohne Bedeutung.
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