Urteil des VerfGH Berlin vom 11.07.1997

VerfGH Berlin: nulla poena sine culpa, wiedereinsetzung in den vorigen stand, schuldfähigkeit, einstellung des verfahrens, psychiatrie, paranoide schizophrenie, hinreichender tatverdacht, strafantrag

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Gericht:
Verfassungsgerichtshof
des Landes Berlin
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
34/99
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
Art 7 Abs 1 Verf BE, § 349 Abs
2 StPO, § 407 StPO, § 408 Abs
3 StPO, § 412 StPO
VerfGH Berlin: Fehlende gerichtliche Klärung, ob zweifelhafte
Schuldfähigkeit des Angeklagten ursächlich für sein
Nichterscheinen im Strafbefehlsverfahren war, verletzt
verfassungsrechtliches Schuldprinzip - Durchführung eines
Strafbefehlsverfahrens ohne Hauptverhandlung bei Zweifel an
Schuldfähigkeit verstößt gegen allgemeine Handlungsfreiheit
Tenor
1. Der Strafbefehl des Amtsgerichts Tiergarten vom 11. Juli 1997 - 262 Cs 510/97 -, das
Urteil des Amtsgerichts Tiergarten vom 6. März 1998 - 262 C S 510/97 -, das Urteil des
Landgerichts Berlin vom 4. November 1998 - (575)61/114 PLs 1531/97 Ns (102/98) - und
der Beschluss des Kammergerichts vom 8. März 1999 - (4) 1 Ss 20/99 (8/99) - verletzen
den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 7 VvB. Die Entscheidungen
werden aufgehoben. Das Strafverfahren wird zur neuerlichen Verhandlung und
Entscheidung an das Amtsgericht Tiergarten zurückverwiesen.
2. ...
3. ...
Gründe
I.
Der im Jahre 1938 geborene Beschwerdeführer wendet sich mit seiner
Verfassungsbeschwerde gegen die eingangs aufgeführten Entscheidungen mit der
Behauptung, hierdurch in seinen Grundrechten aus Art. 7, 10 Abs. 1, 15 Abs. 1, 4 und 5
der Verfassung von Berlin VvB - verletzt worden zu sein. Gegenstand der angegriffenen
Entscheidungen, war ein gegen den Beschwerdeführer auf Antrag der Präsidentin des
Landesarbeitsgerichts Berlin eingeleitetes Strafverfahren wegen Beleidigung eines
Vorsitzenden Richters am Landesarbeitsgericht Berlin. Dem ging ein Prozess des
Beschwerdeführers gegen seinen früheren Arbeitgeber voraus, der aufgrund eines
außergerichtlichen Vergleichs in der Hauptsache erledigt wurde. Im Anschluss daran gab
das Arbeitsgericht den Prozessbeteiligten die Absicht bekannt, den Wert des
Streitgegenstandes für das Betreiben des Geschäfts zum Zwecke der anwaltlichen
Gebührenrechnung auf 26.112 DM festzusetzen. Offenbar in der Annahme, es liege
bereits ein Streitwertbeschluss vor, legte der - nicht mehr anwaltlich vertretene -
Beschwerdeführer "rechtszulässig Beschwerde" ein. Er trug neben weiteren
Ausführungen vor:
"Der Betrag von DM 26.112,90 ist selbst durch Richter des Arbeitsgerichts in Hannover
nicht nachvollziehbar. Angemessen wären DM 1.400."
Auf den Hinweis des mit der Sache befassten Vorsitzenden Richters des
Landesarbeitsgerichts, dass bisher ein Beschluss oder eine andere rechtsmittelfähige
Entscheidung fehle, die Beschwerde deswegen unzulässig, im übrigen auch unbegründet
sei, weil der Streitwert nach dem Gesetz auf den Betrag einer Vierteljahres- Vergütung
festgesetzt werden müsse, reagierte der Beschwerdeführer unter anderem mit der
Bemerkung:
"Nachdem (der Vorsitzende Richter) einen falschen Streitwert festgesetzt u. diesen nun
auch noch rechtfertigen will, habe ich Strafantrag gestellt."
Nachdem die Beschwerde von dem Landesarbeitsgericht als unzulässig zurückgewiesen
worden war, setzte das Arbeitsgericht den Streitwert in der beabsichtigten Höhe fest.
Hiergegen wandte sich der Beschwerdeführer nunmehr mit mehreren von ihm selbst
verfassten Schriftsätzen. Darin sind unter anderem die folgenden Formulierungen
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verfassten Schriftsätzen. Darin sind unter anderem die folgenden Formulierungen
enthalten:
Schriftsatz vom 24.1.1997:
"Gegen den rechtswidrigen, hirnrissigen Beschluss vom 3.1.97- Posteingang am 22.1.97
in Hannover, lege ich hiermit fristgerecht das zulässige Rechtsmittel ein.
Begründung
Der Angeklagte Rechtsanwalt P.O. hat die Streitwertfestsetzung auf DM 26.112 bei den
Irrenanstalten Arbeitsgerichte Berlin erfolgreich beantragt.
Beweis: Beschluss des geisteskranken Beamtenschweines (Name des Vorsitzenden
Richters) Rindvieh und Vorsitzender Vollidiot. Im Wege der forensischen Psychiatrie ist
(der Vorsitzende Richter) als paranoid schizophren begutachtet.
Beweis: Gutachten der Sachverständigen Prof. Dr. med. U. M-Th. Prof. Dr. med. P.K.
Fachärzte für Neurologie und Psychiatrie. (.. ) Am 22.1.97 habe ich Strafantrag wegen
Urkundenfälschung, Begünstigung im Amt, Rechtsbeugung gestellt. Nach
fachmedizinischen Erkenntnissen war u. ist die Kammer des Arbeitsgerichtes in Berlin
nicht durch geschäftsfähige Personen besetzt, daher war gegen den hirnrissigen
Beschluss die Beschwerde einzulegen."
Schriftsatz vom 28.1.1997:
"Weitere Beschwerde gegen Streitwertbeschluss in Höhe von DM 26.112,-Durch die
Beschlüsse des BSE infizierten Vorsitzenden (Name) ist den Beschwerden nicht
abgeholfen. Der Streitwert beträgt DM 1.400 und nicht DM 26.112.
Beweis: Sachverständigengutachten Arbeitsrichter R. u.a. Arbeitsgericht Hannover. Auf
den Schriftsatz vom 14.11.96 hinweisend stelle ich Strafantrag gegen
1. den gegnerischen Rechtsanwalt (Name) wegen Nötigung, Falschbeurkundung etc.
2. gegen den Richter (Name) wegen Nötigung, Rechtsbeugung. Begünstigung . im Amt."
Schriftsatz vom 5.2.1997:
"Im Wege der forensischen Psychiatrie ist Ihr Vorsitzender (Name) handelnd als Richter
des Arbeitsgerichtes u. Landesarbeitsgerichtes aufgrund seines dubiosen
Streitwertbeschlusses als paranoid schizophren attestiert. Sämtliche Beschlüsse
zugunsten Rechtsanwalt O. sind daher ohne Präjudiz, meine bisher verauslagten Kosten
treibe ich zwangsweise gegen das Land Berlin ein."
Schriftsatz vom 25.2.1997:
"Gegen den hirnrissigen Beschluss vom 3.1.1997 des geschäftsunfähigen Vorsitzenden
... führe ich weiterhin Beschwerde und begründe diese wie folgt:
1. Der Vorsitzende ist von
Frau Dr. med. Th. M. Fachärztin für Psychiatrie
Herrn Prof. Dr. med. E.W. Facharzt für Psychiatrie
Herrn Prof. Dr. med. P: K. Facharzt für Psychiatrie
als paranoid schizophren attestiert. Der angeblich unanfechtbare Beschluss ist daher
von einer unzurechnungsfähigen Person abgesetzt u. mithin ohne Präjudiz.
Tatbestand: Auf rechtswidrigem Antrag meines früheren Prozessbevollmächtigten RA
P.O. u.a. setzte der Vollidiot (Vorsitzender Richter) im Zustande vorliegender
Unzurechnungsfähigkeit den Streitwert auf DM 26.100 fest.
...
Nach den Bekundungen einer Mitarbeiterin bei Herrn O. soll (Vorsitzender Richter) für
seinen Gefälligkeitsbeschluss zugunsten Herrn Rechtsanwalt O. DM 500 Vorteilsentgelt
sich eingesackt haben. ( ) Es dürfte hinreichend erklärt sein weshalb (Vorsitzender
Richter) im Wege der forensischen Psychiatrie als schuldunfähig attestiert ist."
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Beigefügt war diesem Schriftsatz die durchgestrichene Ausfertigung des
Beschwerdebeschlusses vom 12. Februar 1997, in der den Worten "Beschluss" und
"Gründe" jeweils die Worte "eines Vollidioten" beigefügt waren.
Unter dem 21.2.1997 übersandte die Präsidentin des Landesarbeitsgerichts die
betreffende Akte des Arbeitsgerichts Berlin/Landesarbeitsgerichts Berlin an die
Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Berlin und stellte unter Hinweis auf die
schriftlichen Ausführungen des Beschwerdeführers Strafantrag nach den §§ 77a Abs. 2
Satz 1, 194 Abs. 3 StGB.
Unter dem 4.3.1997 reichte die Präsidentin des Landesarbeitsgerichts Berlin weitere
Schreiben des Beschwerdeführers vom 25.2.1997, 27.2.1997 und 1.3.1997 mit der Bitte
nach, den Inhalt dieser Schreiben bei der rechtlichen Bewertung zu berücksichtigen.
Ferner überreichte sie Schreiben des betroffenen Vorsitzenden Richters am
Landesarbeitsgericht vom 26.2.1997, in dem auch dieser Strafantrag gegen den
Beschwerdeführer stellte.
In diesem Schreiben heißt es wie folgt:
"Zweifel an der Geschäftsfähigkeit des Klägers, die sich aus seinen Äußerungen ergeben
könnten, brauchen nicht zu seinen Gunsten als berechtigt unterstellt zu werden. Soweit
auf Seite 2 des Schreibens des Klägers vom 25.2.97 behauptet wird, ich hätte 500 DM
eingesackt, trifft diese Behauptung nicht zu."
Das daraufhin an den Beschwerdeführer gesandte Anhörungsschreiben vom 5.3.97
nahm der Beschwerdeführer nicht an. Auf dem Rückkuvert vermerkte der
Beschwerdeführer: "Die Richterin B. beim AG Tiergarten ist geisteskrank".
Ohne weitere Ermittlungen erging auf Antrag der Staatsanwaltschaft am 11.7.1997
gegen den Beschwerdeführer der mit der Verfassungsbeschwerde angegriffene
Strafbefehl, in welchem der Beschwerdeführer wegen Vergehen nach §§ 185, 77, 77a,
77b, 53 StGB zu einer Gesamtgeldstrafe von 90 Tagessätzen zu je 100 DM, insgesamt
9.000 DM, verurteilt wurde.
Gegen diesen Strafbefehl legte die Ehefrau des Beschwerdeführers im Auftrag und in
Vollmacht für ihren Ehemann fristgerecht Einspruch ein. In diesem Schreiben heißt es:
"Wegen der Beleidigung gegen Herrn Richter ... entschuldigt sich mein Mann vorab in
aller Form.
Hervorgerufen ist dies durch maßlosen Stress, Verlust des Arbeitsplatzes, sehr schwere
Erkrankung und sicherlich nicht immer korrekter Behandlung durch Gerichte.
Unter dem 31.7.1997 schrieb der Beschwerdeführer selbst an das Amtsgericht
Tiergarten wie folgt:
"Vielen Dank für ihren gehirnlosen Strafbefehl, diesen hat mir meine Frau nach Bad
Wildungen nachgeschickt. Vorsorglich habe ich heute den Einspruch meiner Frau vom
29.7.97 auf überstellter Kopie hier bestätigt und zur Post gegeben. Nach Rücksprache
mit hiesigen Anwälten wird die Klage wegen Verletzung der Menschenrechte, versuchter
betrügerischer Bereicherung/Rechtsbeugung etc. beim Europäischen Gerichtshof
rechtshängig. Diesen Rechtsstreit bekommt die Justizverwaltung in Berlin voll an die
Backe. Gleichzeitig habe ich gegen den Präsidenten des Arbeitsgerichts in Berlin
Strafantrag wegen falscher Anschuldigung gestellt. Dem Richter ... nach eigener
Darstellung und benutzter Briefbogenköpfe Vorsitzender des Arbeitsgerichtes
Vorsitzender des Landesarbeitsgerichtes Berlin von mehreren Fachärzten für Psychiatrie
u. Neurologie paranoide Schizophrenie bescheinigt. Sie müssten als angeblicher Jurist
wissen, dass paranoide Personen geschäftsunfähig sind."
Unter dem 31.7.1997 schrieb der Beschwerdeführer an den Präsidenten des
Arbeitsgerichts Berlin wie folgt:
"Sehr, geehrter Herr Angeklagter,
Sie erhalten einen Abdruck meines Schreibens an Ihren Kollegen K. Richter und
Angeklagter beim Amtsgericht Tiergarten. Ich habe gegen Sie Strafantrag gestellt und
werde Sie zu einer Freiheitsstrafe von 14 Monaten ohne Bewährung verurteilen lassen.
Mit der anstehenden Verurteilung ist automatisch ihr
Arbeitsverhältnis/Beamtenverhältnis beendet. Da ich die Zulassung als Nebenkläger
beantragt habe, lasse ich Sie zum Schadensersatz in Höhe von DM 65.469,28 zuzüglich
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beantragt habe, lasse ich Sie zum Schadensersatz in Höhe von DM 65.469,28 zuzüglich
Zinsen verurteilen. Ihr Günstling (Vorsitzender Richter) ist paranoid schizophren und
gehört in eine geschlossene Nervenheilanstalt eingewiesen warum? (...) Am 4.4.96 habe
ich Ihren Schnösel kennengelernt und ihn aufgefordert sich in die Kantine Ihres Hauses
zu verpissen. Die Anberaumung eines neuen Termines habe ich nicht beantragt, es war
erkennbar, dass (der Vorsitzende Richter) zur einer Rechtsentscheidung nicht befähigt
war und in Zukunft auch nicht sein wird. (...) Ihr Superidiot (Vorsitzender Richter) setzte
auf Antrag meines unqualifizierten Rechtsanwalt P.O. auf DM 26.112,50 fest. Auf Anfrage
beim Bundesarbeitsgericht in Kassel und Vorlage der Streitwertbeschlüsse wurden mir
von geschäftsfähigen Richtern detailliert erläutert, aus welchen Rechtsgründen die
Streitwertbeschlüsse Ihres Herrn (Vorsitzender Richter) rechtsunwirksam sind. Die
Ausführungen habe ich zwar inhaltlich verstanden, jedoch zwischenzeitlich vergessen. Da
Bad Wildungen nur 15 Autominuten von Kassel entfernt liegt, werde ich mich nochmals
auf Kosten Ihres Amtes informieren. Herr (Vorsitzenden Richter) geht im Büro und
während der Dienstzeiten einem bezahlten Nebenjob bei Herrn Rechtsanwalt P.O. nach."
Mit Beschluss des Amtsgerichts Tiergarten vom 22.8.1997 wurde die Untersuchung des
Beschwerdeführers auf seine Fähigkeit, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach
dieser Einsicht zu handeln (§§ 20, 21 StGB), angeordnet. Mit Beschluss vom 5.9.1997
wurde dieser Beschluss dahin abgeändert, dass die Begutachtung des
Beschwerdeführers durch einen Sachverständigen in der Hauptverhandlung erfolgen
solle, die mit Verfügung vom 19. Januar 1998 auf den 6. März 1998 anberaumt wurde.
Mit Schriftsatz vom 18. Februar 1998 beantragte der Beschwerdeführer "die Aufhebung
des Termins falls der Strafverteidiger, Herr Rechtsanwalt P., den Termin wider Erwarten
nicht wahrnehmen sollte". Zur Begründung führte der Beschwerdeführer aus, dass er
sich einer Bypass-Operation unverzüglich unterziehen müsse und darauf warte, dass ein
Bett frei werde. Er rechne stündlich mit seinem Abruf zur Operation. Des weiteren führte
er aus:
"Ich bin nicht bereit, mein Bein für den Querulantenwahn der Justizbehörden in Berlin zu
opfern. Die Klinik Fachbereich Psychiatrie Prof. Dr. med. S. hat im Wege der forensischen
Psychiatrie den angeblich beleidigten Richter (Vorsitzenden Richter) beim Arbeitsgericht
in Berlin, "als paranoid schizophren attestiert" mithin werden frühere Ausführungen von
Fachmedizinern, die ich zitiert habe bestätigt. Der Richterin K. habe ich, nachdem der
dubiose Strafbefehl über DM 9.000 zugestellt wurde, sämtliche rechtswidrigen
Beschlüsse des Herrn (Vorsitzenden Richter) in Kopie überstellt. Auf telefonische Anfrage
hat Frau K. die Entscheidungen als unverständlich bezeichnet und die Einstellung des
Verfahrens zugesichert. Gegen den dubiosen Beschluss vom 5.9.97 zugestellt im Jan.
1998 werde ich gesondert Beschwerde einlegen, die Beschwerde lasse ich mir von einem
Schreibbüro anfertigen
(Unterschrift)
(Polizeibeamter a.D. im Bundesgrenzschutz)"
Hierauf erging von dem Amtsgericht Tiergarten die Mitteilung an den Beschwerdeführer
vom 20. Februar 1998 dahin, dass der Hauptverhandlungstermin am 6. März 1998
aufrechterhalten bleibe. Die Bestellung eines Pflichtverteidigers käme derzeit nicht in
Betracht, da die gesetzlichen Voraussetzungen nicht vorlägen. Sollte der
gesundheitliche Zustand des Beschwerdeführers eine Wahrnehmung des Termins nicht
zulassen, so werde er gebeten, kurzfristig aussagekräftige Atteste vorzulegen, da
anderenfalls sein Einspruch gegen den Strafbefehl verworfen werden müsse. In der
Folgezeit bemühte sich der Beschwerdeführer mit Schreiben, die dem Stil der zitierten
Schreiben entsprachen, weiterhin um Aufhebung des Termins. Die Bemühungen des
Beschwerdeführers um Rechtsanwalt P. als Wahlverteidiger oder die Beiordnung eines
Pflichtverteidigers blieben erfolglos. Daraufhin wurde, in dem Termin vom 6. März 1998
der Einspruch des Beschwerdeführers gegen den Strafbefehl mit der Begründung
verworfen, dass der Beschwerdeführer ohne genügende Entschuldigung ausgeblieben
und auch nicht durch einen mit schriftlicher Vollmacht versehenen Verteidiger vertreten
worden sei. Anhaltspunkte für das Vorliegen genügender Entschuldigungsgründe seien
nicht ersichtlich.
Hiergegen legte der Beschwerdeführer, jetzt vertreten durch eine Rechtsanwältin aus
Hannover, Berufung ein und beantragte zugleich Wiedereinsetzung in den vorigen Stand,
die er mit einem stationären Klinikaufenthalt in Rotenburg an der Fulda vom 6. März bis
17. März und 24. März bis 27. März 1998 begründete. Durch Beschluss vom 12. Mai
1998 lehnte das Amtsgericht Tiergarten die Wiedereinsetzung ab. Zwar sei der
Wiedereinsetzungsantrag innerhalb der Wochenfrist gestellt, die Glaubhaftmachung
jedoch verspätet eingereicht worden. Der Beschwerdeführer sei am 16. März 1998
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jedoch verspätet eingereicht worden. Der Beschwerdeführer sei am 16. März 1998
entlassen worden, so dass die Einreichung der ausdrücklich durch Schreiben vom 18.
März 1998 innerhalb der Frist des § 45 StPO angekündigten Bescheinigung verspätet
erfolgt sei. Im übrigen sei auch keine Glaubhaftmachung erfolgt. Ausweislich der Antwort
des Kardiologischen Fachkrankenhauses Rotenburg auf die gerichtliche Anfrage vom 3.
April 1998 habe sich der Beschwerdeführer vom 10. März bis zum 16. März 1998 und
vom 24. März bis zum 27. März 1998 dort stationär aufgehalten. Die dem Gericht
vorgelegte Ablichtung einer entsprechenden Bescheinigung über die Aufenthaltsdauer
vom 6. März 1998 bis zum 17.März 1998 sei daher offensichtlich das Ergebnis einer
nachträglichen Manipulation des Originals der erteilten Bescheinigung. Die Verteidigerin
des Beschwerdeführers legte - zunächst zur Fristwahrung - sofortige Beschwerde gegen
den Beschluss ein. Die weiteren Begründungen fertigte der Beschwerdeführer selbst in
dem bereits aus den Zitaten ersichtlichen Stil. Das Landgericht verwarf die sofortige
Beschwerde durch Beschluss vom 11. Juni 1998 als unbegründet.
Nachdem die Rechtsanwältin des Beschwerdeführers das Verteidigungsmandat vor der
Hauptverhandlung niedergelegt hatte, erschien der Beschwerdeführer im
Berufungstermin nunmehr mit Rechtsanwalt G. als Verteidiger.
Auf der Rückseite des mandatsniederlegenden Schriftsatzes der Verteidigerin in der
Verfahrensakte befindet sich ein Vermerk folgenden Inhalts:
"Der Inhalt der zahllosen Eingaben des Angeklagten begründet den dringenden
Verdacht, dass die Voraussetzungen des § 20 StGB vorliegen. Es erscheint deshalb
unvermeidbar, ihn vor einem evtl. Schuldspruch psychiatrisch untersuchen zu lassen.
Dafür jedoch, dass er sich aufgrund seines Geisteszustandes nicht selbst verteidigen
könnte (§ 140 Abs. 2 StPO), liegen keine konkreten Anhaltspunkte vor. Dies gilt
jedenfalls für das vorliegende Berufungsverfahren, in dem es ausschließlich um die Frage
geht, ob das Ausbleiben des Angeklagten am 6. März 1998 ausreichend entschuldigt
war. Die Schriftsätze des Angeklagten zeigen, dass er dieses Problem durchaus erfasst
hat. Er hat beispielsweise angekündigt, im Termin am 4.11.98 entsprechende ärztliche
Bescheinigungen vorzulegen (Bl. 109 II). Dazu bedarf es der Mitwirkung eines
Verteidigers nicht. Auf umseitige Mitteilung ist deshalb nichts zu veranlassen.
Richterliche Unterschrift"
Die Berufung des Beschwerdeführers gegen das Urteil des Amtsgerichts Tiergarten vom
6. März 1998 wurde mit Urteil vom 4. November 1998 vom Landgericht Berlin verworfen.
Zur Begründung führte es aus, dass der Beschwerdeführer sein Ausbleiben im Termin
am 6. März 1998 nicht genügend entschuldigt habe, so dass sein Einspruch gegen den
Strafbefehl zu verwerfen gewesen sei. Er habe sich entgegen seiner Ankündigung vom
28. Februar 1998 nicht seit dem 4. März 1998 und auch nicht am Terminstag in
stationärer Behandlung befunden. Sein Erscheinen wäre ihm auch zumutbar gewesen.
Der chirurgische Eingriff an der Hand seiner Ehefrau, der nach den Angaben des
Beschwerdeführers am 5. März 1998 erfolgt sein soll, hätte einer Fahrt nach Berlin am 6.
März 1998 nicht entgegengestanden. Das gleiche hätte für den Umstand gegolten, dass
er selbst eine wichtige Operation erwartete. Der Beschwerdeführer wäre, wie er in der
Hauptverhandlung noch einmal betonte, jederzeit über sein Funktelefon erreichbar
gewesen. Er hätte deshalb problemlos auch in Berlin oder auf der Fahrt dorthin von dem
bevorstehenden Operationstermin benachrichtigt werden können. Angesichts dessen,
dass die Operation ohnehin nicht in seiner Heimatstadt Hannover, sondern in
Rotenburg/Fulda erfolgen sollte, hätte es nicht zu einer unzumutbaren Verzögerung
geführt, wenn er die Fahrt in die Klinik von Berlin und nicht von Hannover aus angetreten
hätte. Auch der Gesundheitszustand des Beschwerdeführers hätte einer Reise nach
Berlin nicht entgegengestanden. Ihm sei ausweislich des ärztlichen Schreibens vom 17.
April 1998 bei seiner Aufnahme im Krankenhaus am 10. März 1998 ein guter
Allgemeinzustand attestiert worden.
Des weiteren stellt das Landgericht fest, dass die von dem Beschwerdeführer im
Rahmen des Verfahrens gemachten Angaben "zur festen Überzeugung der Kammer der
auch aus zahllosen schriftlichen Eingaben ersichtlichen, offenbar krankhaft
übersteigerten Phantasie des Angeklagten" entsprängen.
Rechtsanwalt G. legte fristgerecht gegen das Urteil des Landgerichts Revision ein, mit
der Rüge der Verletzung sachlichen Rechts. Weitere Ausführungen zur Begründung
wurden nicht vorgetragen. Erst mit der Gegenerklärung zum Antrag der
Staatsanwaltschaft bei dem Kammergericht trug der Verteidiger des Beschwerdeführers
vor, dass der gerügte sachlich rechtliche Fehler darin bestehe, dass eine Reihe von
tatsächlichen Umständen der dem Angeklagten vorgeworfenen Taten sowie seines
prozessualen Verhalten Zweifel an der Schuldfähigkeit des Angeklagten begründeten
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prozessualen Verhalten Zweifel an der Schuldfähigkeit des Angeklagten begründeten
und dessen ungeachtet die Schuldfähigkeit des Angeklagten im Urteil nicht erörtert
worden sei. Offensichtlich seien die Auffälligkeiten in den Äußerungen des Angeklagten
im Gerichtssaal deutlich geworden. Dennoch hätten diese fälschlicherweise nicht dazu
geführt, die schlussfolgernde Frage nach der Schuldfähigkeit des Angeklagten zu stellen
und zu beantworten. Bereits die Feststellungen des landgerichtlichen Urteils, der
Angeklagte habe angegeben, er habe am 5. März 1998 auf der Geschäftsstelle der
betreffenden Abteilung des Amtsgerichts angerufen und von dort erfahren, dass der
Termin am 6. März 1998 aufgehoben worden sei, er habe ferner mit einem seiner beiden
Schwiegersöhne - der eine sei Vorsitzender Richter am Kammergericht, der andere
Leitender Oberstaatsanwalt beim Generalbundesanwalt - telefoniert. Dieser habe ihm
geraten, er solle wachsam sein, da es in der Berliner Justiz "nicht mit rechten Dingen
zugehe", so dass er einen ehemaligen Kollegen aus seiner Zeit beim
Bundesgrenzschutz gebeten hätte, "mal im Gericht vorbeizuschauen". Dieser sei der
Bitte nachgekommen und habe ihm mitgeteilt, er habe beobachtet, wie die Richter P.
und T. und ein Staatsanwalt um 16.15 Uhr in der Gerichtskantine "lautstark bei
Weinbrand, Kaffee und Kuchen" über seinen Fall beraten und bereits das Urteil gefällt
hätten. Bereits diese vorgenannten Feststellungen hätten, so der Verteidiger, dem
Gericht dringender Anlass sein müssen, die Frage nach der Schuldfähigkeit des
Angeklagten aufzugreifen und einer fachärztlichen Begutachtung zuzuführen und sich
nicht auf den völlig unzureichenden Hinweis, dass es sich um Phantasien des
Angeklagten handele, zu beschränken.
Mit Beschluss vom 8. März 1999 verwarf das Kammergericht die Revision des
Beschwerdeführers nach § 349 Abs. 2 StPO. Zur Begründung führte es aus, die
Gegenerklärung des Beschwerdeführers habe verkannt, dass das Berufungsgericht sich
nur mit der Frage zu befassen gehabt habe, ob das erstinstanzliche Urteil die
Voraussetzungen des § 412 StPO zutreffend bejaht habe. Für eine Prüfung der
Schuldfähigkeit des Angeklagten sei daher kein Raum gewesen. Dass ein auch im
Rahmen des § 412 StPO zu berücksichtigendes Verfahrenshindernis vorgelegen hätte,
etwa dauernde Verhandlungsunfähigkeit des Angeklagten, sei den vom Landgericht
getroffenen tatsächlichen Feststellungen nicht zu entnehmen und werde vom
Revisionsführer selbst nicht behauptet. .
Der Beschwerdeführer rügt mit seiner Verfassungsbeschwerde, dass das Gericht sich
trotz des Erkennens des auffälligen Verhaltens des Beschwerdeführers nicht mit der
Frage auseinandergesetzt habe, ob die Voraussetzungen der Schuldfähigkeit bzw. der
verminderten Schuldfähigkeit vorgelegen hätten. Für die Prüfung dieser Frage sei
grundsätzlich ein Sachverständiger beizuziehen. Dies sei vor allem bei ungewöhnlicher
Tatausführung und bei Wiederholung völlig grundloser ungewöhnlicher Verhaltensweisen
und Reaktionen während der Gerichtsverhandlungen erforderlich. Die angegriffenen
Entscheidungen verletzten den Beschwerdeführer insbesondere in seinem Grundrecht
aus Art. 7 VvB wegen Verletzung des Grundsatzes "nulla poena sine culpa".
Die Senatsverwaltung für Justiz hatte Gelegenheit zur Stellungnahme.
II.
Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und begründet.
Der Zulässigkeit steht nicht entgegen, dass sich der Beschwerdeführer gegen
Entscheidungen wendet, die im Rahmen eines bundesrechtlich geregelten Verfahrens
ergangen sind. Art. 7 VvB ist im Grundrechtstatbestand in seinem Wortlaut ersichtlich
dem Art. 2 Abs. 1 GG nachgebildet (LVerfGE 5, 12) und mit diesem inhaltsgleich.
Der Zulässigkeit steht auch nicht der Umstand entgegen, dass der Beschwerdeführer im
Termin zur Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht Tiergarten nicht erschienen und
auch nicht durch einen mit schriftlicher Vollmacht versehenen Verteidiger vertreten war,
mithin sein Einspruch gegen den ergangenen Strafbefehl aus formellen Gründen
verworfen wurde. Zwar stünde im Regelfall bei diesem Sachverhalt der Zulässigkeit einer
Verfassungsbeschwerde entgegen, dass der Rechtsweg nicht erschöpft wurde, weil von
einem zulässigen Rechtsmittel nicht oder nicht rechtzeitig Gebrauch gemacht wurde und
die angegriffene Entscheidung deshalb Rechtskraft erlangt (LVerfGE 1, 3). Dies gilt
jedoch dann nicht, wenn bereits bei der Auswahl der Verfahrensform die
grundrechtlichen Belange des von dem Verfahren Betroffenen nicht gewahrt sind und
das Strafverfahren aus diesem Grunde einen Verlauf nimmt, in dem die
Rechtsmittelgerichte sich aus verfahrensrechtlichen Gründen gehindert sehen, die
angegriffene Entscheidung der Vorinstanz materiell-rechtlich zu überprüfen. Das ist hier
der Fall.
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Gemäß § 407 StPO kann die Staatsanwaltschaft in den dort vorgesehenen Fällen die
Rechtsfolgen der Tat durch schriftlichen Strafbefehl ohne Hauptverhandlung festsetzen.
Voraussetzung hierfür ist gemäß § 407 Abs. 1 Satz 2, dass nach dem Ergebnis der
Ermittlungen eine Hauptverhandlung nicht für erforderlich erachtet wird. Gemäß § 408
Abs. 2 StPO lehnt der Richter den Erlass eines Strafbefehls ab, wenn er den
Angeschuldigten nicht für hinreichend verdächtig hält. § 408 Abs. 3 verpflichtet den
Richter, dem Antrag der Staatsanwaltschaft zu entsprechen, wenn dem Erlass des
Strafbefehls keine Bedenken entgegenstehen. Er hat Hauptverhandlung anzuberaumen,
wenn er Bedenken hat, ohne eine solche zu entscheiden oder wenn er von der
rechtlichen Beurteilung im Strafbefehlsantrag abweichen oder eine andere als die
beantragte Rechtsfolge festsetzen will und die Staatsanwaltschaft bei ihrem Antrag
verbleibt.
Die Entscheidung des Strafrichters, entsprechend dem Antrag der Staatsanwaltschaft
ohne weitere Ermittlungen im Hinblick auf die Schuldfähigkeit des Beschwerdeführers
das Strafbefehlsverfahren zu wählen und damit zunächst ohne Hauptverhandlung zu
entscheiden, verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 7 VvB.
Allerdings ist der Verfassungsgerichtshof keine zusätzliche Rechtsmittelinstanz. Die
Gestaltung des Verfahrens, die Ermittlung des Sachverhalts und die Anwendung des
einfachen Rechts sind grundsätzlich Sache der Fachgerichte. Der Prüfungsrahmen des
Verfassungsgerichtshofs erstreckt sich lediglich auf die Frage, ob im Rahmen des
fachgerichtlichen Verfahrens Umfang und Tragweite von Grundrechten eines
Beschwerdeführers verkannt wurden. So liegen die Dinge hier. Bereits der
Staatsanwaltschaft, spätestens aber dem Richter hätte sich nach Eingang der Akten des
Arbeitsgerichts Berlin die Annahme aufdrängen müssen, dass erhebliche Zweifel an der
Schuldfähigkeit des Beschwerdeführers bestanden. Das hätte Veranlassung geben
müssen, im Rahmen des weiteren Verfahrens diese Frage zu klären, bevor die
Entscheidung getroffen wurde, die Sache im Strafbefehlsverfahren durchzuführen. Der
Antrag auf Erlass eines Strafbefehls setzt, wie die Anklageerhebung gemäß § 170 Abs. 1
StPO, genügenden Anlass zur Erhebung der öffentlichen Klage voraus. Daran fehlt es
bereits, wenn aufgrund gewichtiger Anhaltspunkte Zweifel an der Schuldfähigkeit eines
Beschuldigten bestehen.
Nach § 408 Abs. 3 StPO hat der Richter Hauptverhandlung anzuberaumen, wenn er
Bedenken hat, durch Strafbefehl zu entscheiden. Dies gilt insbesondere dann, wenn zwar
hinreichender Tatverdacht besteht, der Richter die beantragte Rechtsfolge auch für
vertretbar, gleichwohl aber die Aburteilung im Beschlussverfahren für bedenklich hält.
Diese Bedenken können sich insbesondere daraus ergeben, dass eine
Hauptverhandlung zur vollständigen Klärung auch der Nebenumstände zweckmäßig
erscheint oder der Richter sich von dem Angeklagten einen persönlichen Eindruck
verschaffen will (Kleinknecht/Meyer, StPO, Anm. 12 zu § 408). Auch hier hat sich der
Richter bei der Beurteilung der Sach- und Rechtslage an den durch die Verfassung
gesetzten grundrechtlichen Maßstäben zu orientieren.
Hieran gemessen hält die Entscheidung des Strafrichters, einen Strafbefehl zu erlassen,
nach dem Bild, das der Beschwerdeführer aufgrund der dem Verfahren zugrunde
liegenden arbeitsgerichtlichen Akte bot, verfassungsrechtlicher Prüfung nicht stand. Er
hat verkannt, dass die Frage der Schuldfähigkeit des Beschwerdeführers als
Voraussetzung für eine etwaige Bestrafung seiner Handlungsweisen bereits vor und
nicht erst nach Erlass des Strafbefehls und Einlegung des Einspruchs hätte erfolgen
müssen, weil nur so dem für den Beschwerdeführer streitenden Grundsatz "nulla poena
sine culpa" hätte Rechnung getragen werden können. Die Ermittlungsakten enthalten
mit Ausnahme der Bemerkung des antragstellenden Vorsitzenden Richters beim
Landesarbeitsgericht Berlin keinerlei Hinweis darauf, dass die Frage seiner
Schuldfähigkeit überhaupt in Betracht gezogen wurde. Dieser Grundsatz "nulla poena
sine culpa" hat den Rang eines Verfassungsrechtssatzes. Er ist im Rechtsstaatsprinzip
begründet. Dieses ist eines der elementaren Prinzipien der Verfassung (vgl. zum
Bundesrecht: BVerfGE 20, 323 <331 >). Eine Strafe ist dadurch gekennzeichnet, dass
sie - wenn nicht ausschließlich, so doch auch - auf Repression und Vergeltung für ein
rechtlich verbotenes Verhalten abzielt. Mit der Strafe, auch mit der Ordnungsstrafe, wird
dem Täter ein Rechtsverstoß vorgehalten und zum Vorwurf gemacht. Ein solcher
strafrechtlicher Vorwurf aber setzt Vorwerfbarkeit, also strafrechtliche Schuld voraus.
Anderenfalls wäre die Strafe eine mit dem Rechtsstaatsprinzip unvereinbare Vergeltung
für einen Vorgang, den der Betroffene nicht zu verantworten hat. Die strafrechtliche oder
strafrechtsähnliche Ahndung einer Tat ohne Schuld des Täters ist demnach
rechtsstaatswidrig und verletzt den Betroffenen in seinem Grundrecht aus Art. 7 der
Verfassung von Berlin (vgl. zu Art. 2 Abs. 1 GG BVerfGE a.a.0.). Spätestens jedoch,
nachdem der Beschluss des Amtsgerichts Tiergarten ergangen war, ein
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nachdem der Beschluss des Amtsgerichts Tiergarten ergangen war, ein
Sachverständigengutachten zur Ermittlung der Schuldfähigkeit des Angeklagten
einzuholen, hätten die entsprechenden Bedenken durchschlagen müssen, im
Strafbefehlsverfahren vorzugehen. Das Landgericht und das Kammergericht haben
diese Gesichtspunkte nicht ausreichend gewertet. Zwar betrifft die Auswahl der
Verfahrensart das formelle Verfahrensrecht, doch schlägt hier die Frage der
Schuldfähigkeit des Beschwerdeführers als grundrechtlicher Bestandteil des materiellen
Strafrechts unmittelbar auf die Entscheidungsfindung durch. Sowohl das Landgericht wie
das Kammergericht hätten sich im Hinblick auf diese materiell-rechtliche Frage nicht
darauf beschränken dürfen, die Gründe für das Ausbleiben des Beschwerdeführers in der
Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht und seine Versuche, eine Wiedereinsetzung zu
erwirken, zu bewerten, ohne die in diesem Falle naheliegende Frage zu prüfen, ob die
sich durch das gesamte Strafverfahren ziehenden und aufdrängenden Zweifel an der
Schuldfähigkeit des Beschwerdeführers nicht nur einer Verurteilung entgegenstanden,
sondern den Beschwerdeführer auch außerstande sein ließen, sich in angemessener
Weise dem Strafverfahren zu stellen. Es hätte zudem der Klärung und Erwägung bedurft,
ob dies die Ursache dafür war, dass der Beschwerdeführer sein Recht auf Erscheinen in
der Verhandlung über den Einspruch nicht wahrgenommen und möglicherweise die
Gründe für sein Fernbleiben nicht ausreichend oder fristgerecht entschuldigt hatte.
Auf die Berufung gegen das Verwerfungsurteil hatte das Landgericht zu prüfen, ob die
Voraussetzungen für die Verwerfung vorgelegen haben. Dabei hatte es (auch) neues
Tatsachenvorbringen zu berücksichtigen (Kleinknecht-Meyer, StPO, Anm. 10 zu § 412).
Nach den Feststellungen des Berufungsurteils unter Einbeziehung des der
Hauptverhandlung vorangegangenen richterlichen Vermerks leidet der
Beschwerdeführer an "krankhafter Phantasie". Das hätte die Strafkammer unter dem
Gesichtspunkt des Grundrechtsschutzes für den Beschwerdeführer aus Art. 7 VvB zu
Erwägungen darüber veranlassen müssen, ob er das Vorliegen seiner
Entschuldigungsgründe krankheitsbedingt als tatsächlich gegeben annahm und daher -
auch in dieser Hinsicht unverschuldet - sein Ausbleiben als entschuldigt oder gar
gerechtfertigt ansehen konnte. Die Kammer hat sich nicht mit der Frage
auseinandergesetzt, ob der Beschwerdeführer - krankheitsbedingt - selbst von der
Richtigkeit seiner Äußerungen - einschließlich derjenigen im Wiedereinsetzungsverfahren
- überzeugt war.
Auch das Kammergericht hätte, gebunden an die tatsächlichen Feststellungen des
Landgerichts, das Vorliegen der Voraussetzungen des § 412 StPO unter
Berücksichtigung von Art. 7 VvB prüfen müssen. Dass dies geschehen sei, ist den
Gründen der Revisionsentscheidung nicht zu entnehmen.
Aus den vorstehend dargelegten Gründen ist die Verfassungsbeschwerde auch
begründet. Die angegriffenen Entscheidungen verletzen den Beschwerdeführer in
seinem Recht aus Art. 7 VvB. Sie lassen nicht erkennen, dass die angegriffenen
Entscheidungen den dem Beschwerdeführer zur Seite stehenden Grundsatz "nulla
poena sine culpa" ausreichend und in verfassungsrechtlich unbedenklicher Hinsicht
sowohl im Hinblick auf § 20 StGB als auch auf die Voraussetzungen von § 412 StPO
angewendet haben. Die Sache ist in entsprechender Anwendung von § 95 Abs. 2
BVerfGG an das Amtsgericht zurückzuverweisen.
Die Kostenentscheidung folgt aus den §§ 33,34 VerfGHG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar.
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