Urteil des VerfGH Berlin vom 27.01.1995

VerfGH Berlin: rechtliches gehör, wahrung der frist, öffentliche gewalt, verfassungsbeschwerde, verfügung, betriebswirtschaftslehre, universität, zugang, grundrecht, prüfungsordnung

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Gericht:
Verfassungsgerichtshof
des Landes Berlin
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
32/95
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
Art 62 Verf BE, § 49 Abs 2 S 1
VGHG BE
VerfGH Berlin: Keine Verletzung rechtlichen Gehörs durch
Verwerfung einer Beschwerde im einstweiligen
Rechtsschutzverfahren, wenn das Verwaltungsgericht
angemessene Zeit auf eine angekündigte Begründung gewartet
hat
Gründe
I.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft eine im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes
ergangene, die Beschwerde der Antragstellerin des Ausgangsverfahrens zurückweisende
Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Berlin vom 27. Januar 1995 und einen in
derselben Sache ergangenen Beschluß des Oberverwaltungsgerichts Berlin vom 10.
März 1995, mit dem eine auf den Vorwurf der Verletzung des rechtlichen Gehörs
gestützte Gegenvorstellung der Beschwerdeführerin zurückgewiesen worden ist.
Die Beschwerdeführerin ist seit dem 1. Oktober 1994 im Studiengang
Betriebswirtschaftslehre an der ...-Universität immatrikuliert. Im Dezember 1994
beantragte sie nach vorangegangenen entsprechenden Auseinandersetzungen mit dem
Prüfungsausschuß der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät beim Verwaltungsgericht
Berlin den Erlaß einer einstweiligen Anordnung, um feststellen zu lassen, das sie
berechtigt sei, ihr Grundstudium und die während und am Ende dieses Grundstudiums
zu absolvierenden Prüfungen nach den Regelungen der bereits am 30. September 1994
geltenden Studien- und Prüfungsordnungen des Diplomstudiengangs
Betriebswirtschaftslehre durchzuführen bzw. abzulegen. Sie berief sich hierzu auf § 29
Abs. 1 Satz 1 der am 19. Oktober 1994 in Kraft getretenen neuen Prüfungsordnung (PO
1994) sowie auf § 18 Abs. 1 der am selben Tage in Kraft getretenen neuen
Studienordnung (StO 1994), wonach allen Studierenden, die zum Zeitpunkt des
Inkrafttretens der PO 1994 bzw. der StO 1994 bereits im Studiengang
Betriebswirtschaftslehre immatrikuliert waren, ein Wahlrecht hinsichtlich der alten und
der neuen Bestimmungen eingeräumt worden ist.
Das Verwaltungsgericht Berlin wies mit Beschluß vom 23. Dezember 1994 - VG 12 A
1427.94 - der den früheren Verfahrensbevollmächtigten der Antragstellerin am 28.
Dezember 1994 zugestellt wurde, den Antrag zurück.
Mit Schriftsatz vom 10. Januar 1995 legte die Beschwerdeführerin nunmehr vertreten
durch ihre jetzigen Verfahrensbevollmächtigten hiergegen Beschwerde ein. In dem
Schreiben heißt es: - Die Beschwerde dient zunächst der Wahrung der Frist, eine
Begründung lassen wir folgen." Nachdem das Verwaltungsgericht am 17. Januar 1995
beschlossen hatte, der Beschwerde nicht abzuhelfen, verfügte der Vorsitzende des für
die Beschwerdeentscheidung zuständigen 8. Senats des Oberverwaltungsgerichts Berlin
unter dem 18. Januar 1995 zugleich mit der Mitteilung über den dortigen Eingang der
Beschwerde: "Die Begründung der Beschwerde bitte ich umgehend nachzureichen."
Dieses Schreiben wurde am 23. Januar 1995 an die Verfahrensbevollmächtigten der
Beschwerdeführerin abgesandt, bei denen es am 25. Januar 1995, einem Mittwoch,
eintraf. Am Freitag, dem 27. Januar 1995, hat das Oberverwaltungsgericht die
Beschwerde "aus den zutreffenden und vom Beschwerdevorbringen nicht entkräfteten
Gründen des angefochtenen Beschlusses, denen die Antragstellerin nichts
entgegenzusetzen hat, zurückgewiesen". Dieser Beschluß wurde am darauffolgenden
Montag, dem 30. Januar 1995, an die Verfahrensbevollmächtigten der
Beschwerdeführerin abgesandt. Am 9. Februar 1995 erhoben dieses daraufhin
Gegenvorstellung mit dem Antrag, den Beschluß im Wege der Selbstkontrolle wegen der
Verletzung des rechtlichen Gehörs aufzuheben und festzustellen, daß für das Studium
der Beschwerdeführerin die Studien- und Prüfungsordnung vom 10. Februar 1992
maßgeblich sei. Sie trugen vor, der Beschluß sei unter Verletzung des rechtlichen
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maßgeblich sei. Sie trugen vor, der Beschluß sei unter Verletzung des rechtlichen
Gehörs der Beschwerdeführerin zustandegekommen, weil der Senat die von ihnen
angekündigte Begründung der Beschwerde nicht abgewartet habe. Die am 10. Januar
1995 angekündigte Beschwerdebegründung habe nicht sofort gegeben werden können,
weil ihnen das Mandat erst am Tage der Beschwerde übertragen worden sei. Am Tag des
Eingangs der Mitteilung des Oberverwaltungsgerichts vom 18. Januar 1995, dem 25.
Januar 1995, sei die Beschwerdebegründung bereits gefertigt gewesen, habe jedoch mit
der Beschwerdeführerin noch nicht abgestimmt werden können. Bis zum 27. Januar
1995, dem Tag der Beschlußfassung, habe die Beschwerdeführerin nicht die Möglichkeit
gehabt, ihre Begründung vortragen zu lassen. Im Anschluß daran folgte eine neun
Seiten umfassende Beschwerdebegründung.
Nachdem die ...-Universität mit Schriftsatz vom 3. März 1995 geltend gemacht hatte,
den Verfahrensbevollmächtigten der Beschwerdeführerin wäre es möglich gewesen,
unmittelbar nach Zugang der gerichtlichen Auflage vom 18. Januar 1995 dem
Oberverwaltungsgericht unter Hinweis auf den Zeitpunkt des Zugangs mitzuteilen, daß
die Begründung der Beschwerde noch etwas Zeit in Anspruch nehmen werde, und im
"übrigen erscheine der zum Nachreichen der Beschwerdebegründung eingeräumte
Zeitraum von mehr als zwei Wochen auch als ausreichend und im Hinblick auf die
Eilbedürftigkeit des Verfahrens als angemessen, hat das Oberverwaltungsgericht die
Gegenvorstellung durch Beschluß vom 10. März 1995 im wesentlichen mit diesen
Argumenten zurückgewiesen und dem Beschluß eine Abschrift des Schriftsatzes der ...-
Universität zur Kenntnisnahme beigefügt.
Mit ihrer am Montag, dem 3. April 1995, beim Verfassungsgerichtshof eingegangenen
Verfassungsbeschwerde gegen den ihr am 1. Februar 1995 zugegangenen Beschluß
vom 27. Januar 1995 und den weitere Beschluß vom 10. März 1995 macht die
Beschwerdeführerin geltend, sie sei durch die angegriffenen Entscheidungen in ihrem
durch Artikel 62 der Verfassung von Berlin mitgewährleisteten Recht auf Gewährung
rechtlichen Gehörs vor Gericht verletzt. Das Gericht sei nach ständiger Rechtsprechung
des Bundesverfassungsgerichts dazu verpflichtet, auf eine angekündigte oder zu
erwartende Stellungnahme eine angemessene Zeit zu warten. wenn keine feste Frist
gesetzt worden sei (BVerfGE 8, 89, 91; 60, 313, 317). Die Berechnung des
Oberverwaltungsgerichts in seinem Beschluß vom 10. März 1995, ihr hätten bis zur
Absendung des Beschlusses etwa drei Wochen zur Begründung der Beschwerde zur
Verfügung gestanden, lasse außerdem die Erklärung außer acht, die in der Verfügung
vom 18. Januar 1995 liege. Das Gericht fordere darin selbst auf, die
Beschwerdebegründung nachzureichen. Auch wenn dies dringend erbeten werde
("umgehend"), so dürfe sie - die Beschwerdeführerin - dieser Verfügung doch
entnehmen, daß noch angemessene Zeit auf ihre Begründung gewartet werde.
Die Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens sowie die Senatsverwaltung für Justiz
haben gemäß § 53 VerfGHG Gelegenheit zur Stellungnahme erhalten.
II.
1. Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig.
Nach § 49 Abs. 1 VerfGHG kann jedermann mit der Behauptung durch die öffentliche
Gewalt des Landes Berlin in einem seiner in der Verfassung von Berlin enthaltenen
Rechte verletzt zu sein, Verfassungsbeschwerde zum Verfassungsgerichtshof erheben.
Die Beschwerdeführerin beruft sich auf das durch die Verfassung von Berlin, zum
Zeitpunkt der angefochtenen Entscheidung namentlich durch Artikel 62 VvB,
inhaltsgleich mit Artikel 103 Abs. 1 GG gewährleistete Grundrecht auf rechtliches Gehör
(vgl. Beschluß vom 15. Juni 1993 - VerfGH 18.92 = JR 1993, 519, und vom 11. August
1993 - VerfGH 58.92 - ) hinsichtlich dessen die Prüfungsbefugnis des
Verfassungsgerichtshofs auch dann besteht, wenn - wie hier - Gegenstand der
Verfassungsbeschwerde die Anwendung von Bundesrecht - im vorliegenden Fall der
Verwaltungsgerichtsordnung - ist (st. Rspr., u.a. Beschluß vom 2. Dezember 1993 -
VerfGH 89.93 - NJW 1994, 437). Die Beschwerdeführerin hat die Verletzung des
Grundrechts des rechtlichen Gehörs auch in einer den Anforderungen des § 50 VerfGHG
entsprechenden Weise gerügt.
Die Verfassungsbeschwerde genügt überdies der Bestimmung des § 49 Abs. 2 Satz 1
VerfGHG: Hinsichtlich der von der Beschwerdeführerin angegriffenen Entscheidungen
des einstweiligen Rechtsschatzes steht ein weiteres Rechtsmittel nicht zur Verfügung. §
49 Abs. 2 Satz 1 VerfGHG gebietet zwar über die Rechtswegerschöpfung im engeren
Sinne hinaus, daß ein Beschwerdeführer auch sonstige prozessuale Möglichkeiten nutzt,
um eine Korrektur der geltend gemachten Verfassungsverletzung zu erwirken oder eine
solche Verletzung zu verhindern. Daraus folgt, daß die Erschöpfung des Rechtswegs im
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solche Verletzung zu verhindern. Daraus folgt, daß die Erschöpfung des Rechtswegs im
Eilverfahren nicht ausreicht, soweit das Hauptsacheverfahren ausreichende
Möglichkeiten bietet der (behaupteten) Grundrechtsverletzung abzuhelfen und dieser
Weg dem Beschwerdeführer zumutbar ist. Soweit es demgegenüber um die Verletzung
von Grundrechten gerade durch die Entscheidungen im vorläufigen
Rechtsschutzverfahren geht und eine hierbei möglicherweise bewirkte
Verfassungsverletzung dementsprechend durch die Entscheidungen der Gerichte in der
Hauptsache auch nicht mehr ausgeräumt werden könnte, verlangt § 49 Abs. 2 Satz 1
VerfGHG im Ergebnis nur, daß der Rechtsweg des Eilverfahrens erschöpft ist (vgl.
Beschluß vom 8. Juni 1994 - VerfGH 72.93 - Umdruck, S. 7 sowie zum inhaltsgleichen §
90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG: BVerfGE 59, 63 (81); 65, 227 (233) 77, 381 (401 f.): 80, 40
(45)). So liegt der Fall hier., weil die Beschwerdeführerin mit der Rüge der
Gehörsverletzung eine den auch Rechtsschutz als solche betreffende
Grundrechtsverletzung geltend macht.
2. Die Verfassungsbeschwerde ist jedoch nicht begründet.
Der Beschluß des Oberverwaltungsgerichts Berlin vom 27. Januar 1995 ist ergangen,
nachdem die Beschwerdeführerin ausreichend Gelegenheit zur Stellungnahme erhalten
hatte. Er wurde zu einem die an sie abgesandt, zu dem sie nicht mehr darauf vertrauen
durfte, daß ihre Beschwerdebegründung abgewartet werde. Nach ständiger
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Grundrecht auf rechtliches Gehör,
der der Verfassungsgerichtshof folgt, muß das Gericht den Ablauf einer selbst gesetzten
Frist abwarten (vgl. BVerfGE 42, 243, 247); fehlt es an einer eindeutigen Fristsetzung, so
muß es insbesondere dann, wenn sich ein Beschwerdeführer ausdrücklich die
Begründung seines Rechtsmittels vorbehalten hat, mit einer die Beschwerde
zurückweisenden Entscheidung angemessene Zeit warten (vgl. BVerfG, NJW 91, 2758;
BVerfGE 17, 191, 193; 8, 89, 91; 6, 12, 15; 4, l90, 192). Entscheidet es, ohne die Zeit
abzuwarten, innerhalb deren eine angekündigte Stellungnahme unter normalen
Umständen eingehen kann, oder war der Zeitraum bis zur gesetzten Frist nicht
angemessen (vgl. BVerfGE 49, 212, 215/216), so liegt darin ebenso eine Verletzung des
Grundrechts auf rechtliches Gehör wie bei einer Entscheidung vor Ablauf einer gesetzten
Frist.
Eine Verkennung dieser Anforderungen des Gebots des rechtlichen Gehörs ist dem
Oberverwaltungsgericht nicht vorzuwerfen. Die Beschwerdeführerin hat in
verfassungsrechtlich hinreichendem Umfang Gelegenheit gehabt, sich im
Beschwerdeverfahren zu äußern. Sie hat die Beschwerde durch Schriftsatz ihrer
Bevollmächtigten vom 10. Januar 1995 eingelegt und dabei angekündigt, eine
Begründung ihrer Beschwerde folgen zu lassen. Bis zum 27. Januar 1995, als das
Oberverwaltungsgericht über die Beschwerde entschied, waren mithin bereits 17 Tage
verstrichen, in denen die Beschwerde hätte begründet werden können. Die Aufforderung
des Oberverwaltungsgerichts vom 18. Januar 1995, die Beschwerdebegründung
umgehend nachzureichen, die den Bevollmächtigtes der Beschwerdeführerin allerdings
erst am 25. Januar 1995 zugegangen ist, machte durch die Verwendung des Wortes
"umgehend" überdies deutlich, daß das Gericht nunmehr eine nahezu sofortige
Einreichung der Beschwerdebegründung erwartete. Die Bevollmächtigten der
Beschwerdeführerin mußten unter diesen Umständen mit einer alsbaldigen
Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts rechnen. Da sie bereits die Beschwerde per
Fax eingereicht hatten und da nach ihrem eigenen Vorbringen die
Beschwerdebegründung fertig vorlag, als ihnen am 25. Januar 1995 die Aufforderung des
Oberverwaltungsgerichts zuging, waren sie auch in der Lage, die Beschwerdebegründung
umgehend einzureichen oder zumindest dem Oberverwaltungsgericht deren
unverzügliche Einreichung anzukündigen.
Angesichts des Umstandes, daß seit der Einlegung der Beschwerde und der in ihr
enthaltenen Ankündigung, eine Begründung folgen zu lassen, bereits mehr als zwei
Wochen vergangen waren, und angesichts der mehrere Tage zurückliegenden,
unbeachtet gebliebenen Aufforderung des Oberverwaltungsgerichts, die
Beschwerdebegründung umgehend nachzureichen, war das Gericht verfassungsrechtlich
nicht gehindert, nunmehr am 27. Januar 1995 über die Beschwerde zu entscheiden.
Da der Beschluß des Oberverwaltungsgerichts erst am 30. Januar 1995 zur Zustellung
gegeben worden ist, wäre es noch bis zu diesem Zeitpunkt möglich gewesen, die
Beschwerdebegründung einzureichen, was zu einer erneuten Beratung des
Oberverwaltungsgerichts hätte führen müssen. Auch bis zu diesem fünf Tage nach
Zugang der gerichtlichen Aufforderung, die Begründung umgehend nachzureichen,
liegenden Zeitpunkt ist die Beschwerde nicht begründet worden.
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Hinsichtlich des Beschlusses des Oberverwaltungsgerichts vom 10. März 1995, der eine
Abänderung des Beschlusses vom 27. Januar 1995 ablehnt, ist eine selbständige
Verletzung des Grundrechts auf rechtliches Gehör von vornherein nicht ersichtlich.
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf den §§ 33, 34 VerfGHG.
Dieser Beschluß ist unanfechtbar.
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