Urteil des VerfG Brandenburg vom 02.04.2017

VerfG Brandenburg: ordentliche kündigung, rechtliches gehör, verfassungsbeschwerde, faires verfahren, verfassungsgericht, beendigung, ddr, zusammenarbeit, interessenabwägung, mitarbeit

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Gericht:
Verfassungsgericht
des Landes
Brandenburg
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
7/98
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 72 Abs 2 Nr 2 ArbGG, § 72a
Abs 1 ArbGG, § 45 Abs 2 S 1
VerfGG BB
VerfG Potsdam: Mangels Rechtswegerschöpfung unzulässige
Verfassungsbeschwerde einer Lehrerin gegen Abweisung einer
Kündigungsschutzklage aufgrund Falschbeantwortung eines
Personalfragebogens bezüglich Fragen nach früherer MfS-
Mitarbeit
Gründe
A.
I.
Die Beschwerdeführerin arbeitete seit 1965 als Lehrerin in der DDR und stand nach der
deutschen Wiedervereinigung im Dienste des Landes Brandenburg. In einem
Personalfragebogen verneinte sie 1991 alle Fragen zu einer möglichen Zusammenarbeit
mit dem ehemaligen Staatssicherheitsdienst der DDR (MfS). Im August 1995 teilte der
Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen
DDR dem Land Brandenburg mit, daß die Beschwerdeführerin vom Mfs als inoffizielle
Mitarbeiterin geführt worden sei. Sie habe sich im Oktober 1979 schriftlich zur Mitarbeit
verpflichtet und dem MfS bis zum Dezember 1983 in unregelmäßigen Abständen ein
Zimmer ihrer Wohnung für konspirative Treffen zur Verfügung gestellt. Das Land
Brandenburg sprach nach Anhörung der Beschwerdeführerin die ordentliche Kündigung
des Arbeitsverhältnisses zum 31. Dezember 1996 aus personenbedingten Gründen aus,
die es in der Falschbeantwortung des Personalfragebogens und der Aufrechterhaltung
dieser Täuschung in den nachfolgenden Anhörungen sah. Die hiergegen erhobene
Kündigungsschutzklage wies das Arbeitsgericht (ArbG) Frankfurt (Oder) mit Urteil vom
25. September 1996 ab. Die Kündigung sei aus den genannten Gründen gemäß § 1 Abs.
2 Kündigungsschutzgesetz (KSchG) gerechtfertigt, weil die Klägerin bewußt
wahrheitswidrige Angaben im Personalfragebogen gemacht habe.
Das Landesarbeitsgericht (LAG) Brandenburg hat die Berufung der Beschwerdeführerin
mit Urteil vom 28. Oktober 1997 zurückgewiesen. Die Kündigung sei nach § 1 Abs. 2
KSchG aus personenbedingten Gründen wegen fehlender persönlicher Eignung der
Beschwerdeführerin rechtswirksam. Schon die inoffizielle Tätigkeit der
Beschwerdeführerin für das MfS rechtfertige die Beendigung des Arbeitsverhältnisses.
Insoweit seien die gleichen Grundsätze heranzuziehen wie für eine Kündigung nach dem
Einigungsvertrag wegen einer Tätigkeit für das MfS. Die Beschwerdeführerin sei in
erheblichem Maße noch sieben Jahre vor der sogenannten Wende in das
Unrechtsregime des Staatssicherheitsdienstes verstrickt gewesen. Dies lasse ein
Festhalten am Arbeitsverhältnis als unzumutbar erscheinen. Auch die falschen
Antworten im Personalfragebogen rechtfertigten eine ordentliche Kündigung. Die
Prognose falle zu Ungunsten der Beschwerdeführerin aus. Durch ihre frühere Tätigkeit
für das MfS habe sie gezeigt, daß sie als Lehrerin grundsätzlich ungeeignet sei. Dies
gelte erst recht angesichts ihrer groben Unehrlichkeit. Bei einer Interessenabwägung
unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls überwiege das Interesse des
Arbeitgebers an der Beendigung des Arbeitsverhältnisses.
Eine gegen die Entscheidung des LAG zunächst erhobene Nichtzulassungsbeschwerde
zum Bundesarbeitsgericht (BAG) hat die Beschwerdeführerin wieder zurückgenommen.
II.
Mit der am 2. Februar 1998 erhobenen Verfassungsbeschwerde rügt die
Beschwerdeführerin eine Verletzung ihres Grundrechts auf freie Berufswahl gemäß Art.
49 Abs. 1 Landesverfassung (LV), des Anspruchs auf Gleichheit vor Gericht und auf
rechtliches Gehör gemäß Art. 52 Abs. 3 LV sowie des Anspruchs auf ein faires Verfahren
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rechtliches Gehör gemäß Art. 52 Abs. 3 LV sowie des Anspruchs auf ein faires Verfahren
gemäß Art. 52 Abs. 4 LV. Die Rücknahme der Nichtzulassungsbeschwerde stehe der
Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde nicht entgegen. Die
Nichtzulassungsbeschwerde sei lediglich ein zusätzlicher Rechtsbehelf, der erst die
Möglichkeit zur Einlegung eines Rechtsmittels - der Revision - schaffen solle. Erst die
Revisionsrücknahme führe zur Nichterschöpfung des Rechtswegs. Werde eine
Nichtzulassungsbeschwerde zurückgenommen, so habe das Verfassungsgericht vor
einer Verwerfung der Verfassungsbeschwerde mangels Erschöpfung des Rechtswegs
festzustellen, daß die Nichtzulassungsbeschwerde Erfolg gehabt hätte. Dies sei hier
nicht ersichtlich.
In der Sache macht die Beschwerdeführerin im wesentlichen geltend: Das LAG habe zu
Unrecht personenbedingte Kündigungsgründe bejaht. Die Überlassung eines Zimmers
sei nicht notwendigerweise eine Tätigkeit für das MfS. Jedenfalls müsse eine solche
Aktivität als unbedeutend angesehen werden. Das ArbG und das LAG hatten ferner
einen falschen Bewertungsmaßstab zugrundegelegt, indem sie für die Frage der
Zumutbarkeit nur den Zeitraum bis zur sogenannten Wende zugrundegelegt hätten,
statt auf den Zeitpunkt der Kündigung im Mai 1996 abzustellen. Dies widerspreche der
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG). Das LAG habe auch das
rechtliche Gehör verletzt, indem es einem Beweisangebot zu den näheren Umständen
der Beendigung ihrer MfS-Mitarbeit nicht nachgegangen sei. Die Beantwortung des
Fragebogens und ihr nachfolgendes Verhalten könnten ferner nicht als "beharrliche
Lüge" gewertet werden. Vielmehr sei sie durchgängig davon ausgegangen, daß die
Bereitstellung eines Zimmers nicht als Tätigkeit für das MfS zu bewerten sei.
B.
Die Verfassungsbeschwerde ist unzulässig. Die Beschwerdeführerin hat vor Erhebung
der Verfassungsbeschwerde den Rechtsweg im Sinne des § 45 Abs. 2 Satz 1
Verfassungsgerichtsgesetz Brandenburg (VerfGGBbg) nicht ausgeschöpft.
1. Zum Rechtsweg gehört auch die auf eine Divergenz gestützte
Nichtzulassungsbeschwerde nach §§ 72a Abs. 1, 72 Abs. 2 Nr. 2 Arbeitsgerichtsgesetz -
ArbGG - (vgl. BVerfG, NJW 1996, 45 und Beschluß vom 18. März 1998 - 1 BvR 1759/96 -;
s. auch VerfGH Berlin, LVerfGE 5, 30, 33 f.). Ein Beschwerdeführer ist deshalb gehalten,
vor Anrufung des Verfassungsgerichts auch diese Möglichkeit fachgerichtlichen
Rechtsschutzes unter Beachtung der jeweiligen Zulässigkeitsvoraussetzungen in
Anspruch zu nehmen, um auf eine Korrektur der geltend gemachten
Grundrechtsverletzung hinzuwirken.
Die Beschwerdeführerin hat die zunächst erhobene Nichtzulassungsbeschwerde zum
BAG wieder zurückgenommen. Die Rücknahme eines Rechtsbehelfs aber ist - worauf das
Gericht bereits mit Schreiben vom 2. April 1998 hingewiesen hat - nach der ständigen
Rechtsprechung des erkennenden Gerichts der Nichterschöpfung des Rechtswegs
gleichzuachten, weil sich ein Beschwerdeführer dadurch von sich aus der Möglichkeit
fachgerichtlichen Rechtsschutzes begibt (vgl. Verfassungsgericht Brandenburg, Beschluß
vom 16. Oktober 1997 - VfGBbg 26/97, 26/97 EA -, vorgesehen zur Veröffentlichung in
LVerfGE 6, Teil Brandenburg, Nr. 12, und Beschluß vom 20. November 1997 - VfGBbg
33/97 -).
2. Etwas anderes ergibt sich hier auch nicht unter Zumutbarkeitsgesichtspunkten. Das
Gebot der vorgängigen Erschöpfung des Rechtsweges kann zwar unter dem
Gesichtspunkt der Zumutbarkeit Einschränkungen erfahren, wenn der Rechtsbehelf
offensichtlich aussichtslos ist (BVerfG a.a.O.; vgl. auch BVerfGE 16, 1, 2 f.). Einem
Beschwerdeführer ist jedoch zuzumuten, sich auch einer fachgerichtlichen
Rechtsschutzmöglichkeit zu bedienen, deren Erfolgsaussicht ungewiß ist, solange sie
nicht von vornherein aussichtslos erscheint (vgl. BVerfGE 16, 1, 3; vgl. auch
Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, Beschluß vom 20. Februar 1997 - VfGBbg
30/96 -, S. 8 des Entscheidungsumdrucks). Wenn ein Beschwerdeführer die ihm zu
Gebote stehenden prozessualen Möglichkeiten vor den Fachgerichten nicht ausschöpft,
ist es nicht Aufgabe des Verfassungsgerichts, sich gleichsam an die Stelle des nicht
angerufenen Fachgerichts zu setzen und zu prüfen, ob das ungenutzt gebliebene
Rechtsmittel bzw. der Rechtsbehelf erfolgreich gewesen wäre. Vielmehr ist eine unter
solchen Umständen erhobene Verfassungsbeschwerde bereits dann mangels
Erschöpfung des Rechtswegs unzulässig, wenn dem Beschwerdeführer nach den
dargelegten Maßstäben, die Weiterführung des fachgerichtlichen Prozesses als nicht
völlig aussichtslos zumutbar gewesen wäre. Das Verfassungsgericht beschränkt sich
insoweit auf eine Evidenzkontrolle. Als "aussichtslos" stellt sich die weitere Prozeßführung
dann dar, wenn im Hinblick auf eine gefestigte höchstrichterliche Rechtsprechung im
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dann dar, wenn im Hinblick auf eine gefestigte höchstrichterliche Rechtsprechung im
konkreten Einzelfall eine von dieser Rechtsprechung abweichende Entscheidung völlig
ausgeschlossen erscheint (vgl. BVerfGE 9, 3, 7; 78, 155, 160). Ob die Erfolgsaussicht in
diesem Sinne aus der Sicht der Beschwerdeführerin ganz und gar negativ eingeschätzt
werden konnte, ist hier schon angesichts ihrer eigenen juristischen Bewertung
zweifelhaft. Immerhin weist sie selbst darauf hin, daß der vom LAG zugrunde gelegte
Prüfungsmaßstab der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts widerspreche.
Eine nähere Auseinandersetzung kann in diesem Punkt indes dahinstehen. Denn von
einer "völligen Aussichtslosigkeit" kann auch aus anderen Gründen nicht ausgegangen
werden. Es ist nicht Aufgabe des Verfassungsgerichts, die Auslegung und Anwendung
einfachen Gesetzesrechts durch die zuständigen Fachgerichte an deren Stelle
vorzunehmen. Es würde die unterschiedlichen Aufgaben- und Prüfungsbereiche von
Verfassungs- und Fachgerichtsbarkeit verwischen, wenn bei der Beurteilung nach § 45
Abs. 2 Satz 2 VerfGGBbg das Verfassungsgericht die Entscheidung des Fachgerichts -
hier über die arbeitsgerichtliche Nichtzulassungsbeschwerde - quasi mit zu treffen hätte.
Hier ist davon auszugehen, daß der Weiterführung des Verfahrens nicht von vornherein
jede Erfolgsaussicht fehlte. Die auf Divergenz gestützte Nichtzulassungsbeschwerde war
nicht zweifelsfrei aussichtslos. Eine Divergenz liegt nach der ständigen Rechtsprechung
aus BAG vor, wenn das angefochtene Urteil einen abstrakten die Entscheidung
tragenden Rechtssatz enthält, der von einem abstrakten Rechtssatz einer Entscheidung
im Sinne von § 72 Abs. 2 Nr. 2 ArbGG - also u.a. von einer Entscheidung des BVerfG
oder des BAG - abweicht, und das angefochtene Urteil auf dem abweichenden
Rechtssatz beruht (vgl. BAG, AP Nr. 3 zu § 72a ArbGG 1979 Divergenz; Grunsky, ArbGG,
7. Aufl. 1995, § 72 Rdn. 31 ff.). Der die Entscheidung tragende Rechtssatz braucht vom
Gericht nicht ausdrücklich formuliert zu werden, sondern kann sich auch aus
fallbezogenen Ausführungen ergeben, solange sich eindeutig feststellen läßt, daß das
Gericht den Rechtssatz wirklich vertreten wollte und nicht lediglich das Recht falsch
angewendet oder ein Rechtsproblem übersehen hat (vgl. BAG, AP Nr. 9 u. 15 zu § 72a
ArbGG 1979 Divergenz).
a. Eine Divergenzrüge hätte denkbarerweise darauf gestützt werden können, daß das
LAG die - mit Ausnahme der Falschbeantwortung - offenbar beanstandungsfreie
Durchführung des Arbeitsverhältnisses nach der Wende bis zur Kündigung nicht in seine
Einzelfall- und Interessenabwägung einbezogen hat. Damit könnte es von einem
Rechtsgrundsatz etwa der Art ausgegangen sein, daß es für die Rechtswirksamkeit einer
Kündigung wegen einer Tätigkeit für das MfS und/oder wegen einer Falschbeantwortung
von Fragen hinsichtlich einer solchen Tätigkeit auf das sonstige Verhalten eines
Arbeitnehmers nach der Wende nicht mehr ankomme. Es ist auch nicht auszuschließen,
daß das Urteil auf diesem Rechtssatz beruht.
Ein solcher Rechtssatz aber stünde, worauf der Prozeßbevollmächtigte der
Beschwerdeführerin selbst hingewiesen hat, im Widerspruch zur Rechtsprechung des
BVerfG, wonach maßgeblicher Bezugszeitpunkt der Ausspruch der Kündigung ist
(BVerfGE 92, 140, 155; vgl. auch BVerfG, LKV 1998, 141). Auch das BAG hat in
vergleichbarem Zusammenhang - und ebenfalls zu § 1 Abs. 2 KSchG - ausgeführt, da
die Bewährung im öffentlichen Dienst der Nach-Wende-Zeit im Rahmen der
Kündigungsentscheidung mit zu berücksichtigen sei (BAG, NJ 1996, 668, 670; vgl. auch
NJ 1997, 52 ).
b. Nachdem schon aus diesem Grunde eine Nichtzulassungsbeschwerde nicht evident
aussichtslos gewesen wäre, kann dahinstehen, ob der zuständige Senat des BAG eine
Divergenz möglicherweise auch in den Ausführungen des LAG zum Prüfungsmaßstab für
eine Kündigung nach § 1 KSchG gesehen hätte. Immerhin hat das LAG ausgeführt, daß
insoweit die zu den Sonderkündigungstatbeständen des Einigungsvertrages entwickelten
Grundsätze anwendbar seien (S. 10 des Urteils), während das BAG wiederholt betont
hat, daß die genannten Kündigungstatbestände nicht ohne weiteres vergleichbar seien
(vgl. BAG, NJ, 1997, 606, 607; s. auch BAG, NJ 1996, 668, 669; NJ 1997, 52 und VIZ 1998,
284).
c. Soweit die Beschwerdeführerin geltend macht, daß das LAG einen Beweisantrag dazu
übergangen habe, daß die Zusammenarbeit mit dem MfS seinerzeit deshalb ihr Ende
gefunden habe, weil das MfS sie wegen nicht aufgegebener Westkontakte nicht mehr für
verläßlich genug gehalten habe, bedarf es keiner abschließenden Entscheidung, ob ein
solcher Hergang die Gesamtabwägung hätte beeinflussen und deshalb die
Nichtzulassungsbeschwerde zum BAG womöglich auch unter diesem Gesichtspunkt
hätte Erfolg haben können. Es genügt, daß die Nichtzulassungsbeschwerde schon aus
dem dargelegten Grund nicht von vornherein aussichtslos gewesen wäre.
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3. Auf Fragen der Begründetheit der Verfassungsbeschwerde, so auch auf die
Ausführungen in dem Schriftsatz der Beschwerdeführerin vom 25. Juni 1998, kommt es
hiernach nicht an.
Diese Entscheidung ist mit 5 gegen 2 Stimmen ergangen.
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