Urteil des VerfG Brandenburg vom 24.03.2003

VerfG Brandenburg: bevölkerung, anhörung, auflösung, amt, nichtigkeit, stadt, verfassungsbeschwerde, zusammenlegung, demokratie, burg

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Gericht:
Verfassungsgericht
des Landes
Brandenburg
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
67/03
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
Art 97 Abs 1 S 1 Verf BB, Art 98
Abs 2 S 3 Verf BB
Diese Entscheidung hat
Gesetzeskraft.
(VerfG Potsdam: Nichtigkeit der Auflösung einer Gemeinde bei
Unterbleiben der Anhörung der Bevölkerung nach Verf BB Art 98
Abs 2 S 3)
Tenor
1. § 1 Absätze 2 und 3 des 2. Gemeindegebietsreformgesetzes Brandenburg vom 24.
März 2003 (GVBl I S. 82) verletzen die Beschwerdeführerinnen in ihrem recht auf
kommunale Selbstverwaltung und sind nichtig.
2. ...
Gründe
I.
Die Beschwerdeführerinnen, 15 amtsangehörige Gemeinden, wehren sich gegen ihre
Auflösung durch ihre in § 1 Abs. 2 des Zweiten Gesetzes zur landesweiten
Gemeindegebietsreform betreffend die kreisfreie Stadt Cottbus und das Amt
Neuhausen/Spree (2. GemGebRefGBbg) vom 24. März 2003 (GVBl I S. 82) vorgesehene
Zusammenlegung zu einer neuen amtsfreien Gemeinde namens Neuhausen/Spree.
Gleichzeitig soll gemäß § 1 Abs. 3 des 2. GemGebRefGBbg das Amt aufgelöst werden.
Drei der insgesamt 18 Gemeinden des bisherigen Amtes sollen nach § 1 Abs. 1 des 2.
GemGebRefGBbg in die Stadt Cottbus eingegliedert werden. Die Regelungen treten
zufolge § 11 Satz 1 des 2. GemGebRefGBbg am Tage der nächsten - auf den 26.
Oktober 2003 festgesetzten - landesweiten Kommunalwahlen in Kraft. Inzwischen steht
fest, daß zu der konkreten Neugliederungsmaßnahme, nämlich Zusammenlegung von
(nur) 15 Gemeinden des bisherigen Amtes zu einer amtsfreien Großgemeinde, keine
(förmliche) Anhörung der Bevölkerung stattgefunden hat.
Die Beschwerdeführerinnen beantragen festzustellen, daß
§ 1 des 2. Gemeindegebietsreformgesetzes Brandenburg sie in ihren
verfassungsmäßigen Rechten verletzt und nichtig ist.
Der Landtag Brandenburg, die Landesregierung und der Städte- und Gemeindebund
Brandenburg hatten Gelegenheit zur Stellungnahme. Die Landesregierung hat davon
Gebrauch gemacht.
II.
Die kommunale Verfassungsbeschwerde der Beschwerdeführerinnen, die das
Landesverfassungsgericht allein auf die Absätze 2 und 3 (und nicht auch auf die die
Beschwerdeführerinnen gar nicht betreffenden weiteren Absätze) des § 1 des 2.
GemGebRefGBbg bezieht, ist zulässig und hat Erfolg. § 1 Abs. 2 des 2. GemGebRefGBbg
ist unter Verletzung der Landesverfassung zustande gekommen und deshalb nichtig; die
Nichtigkeit erfasst auch § 1 Abs.3 des GemGebRefGBbg.
1. a) Art. 98 Abs. 2 Satz 3 LV schreibt vor, daß vor einer Änderung des Gemeindegebiets
die Bevölkerung der unmittelbar betroffenen Gebiete gehört werden muss. "Änderung
des Gemeindegebietes" in diesem Sinne ist, wie keiner näheren Begründung bedarf,
auch die Auflösung einer Gemeinde unter (gänzlichem) Wegfall eines eigenen
Gemeindegebietes. Daß Art. 98 Abs. 2 Satz 2 LV die Auflösung von Gemeinden
besonders anspricht, um hierfür - wenn die Auflösung gegen den Willen der Gemeinde
erfolgen soll - einen Gesetzesvorbehalt zu bestimmen, besagt nicht etwa, daß bei einer
Gemeindeauflösung die sonstigen für Gemeindegebietsänderungen geltenden
Verfassungsbestimmungen nicht anzuwenden wären. Nach der Systematik des § 98
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Verfassungsbestimmungen nicht anzuwenden wären. Nach der Systematik des § 98
Abs. 2 LV ist die Gemeindeauflösung vielmehr ein Unterfall der
Gemeindegebietsänderung, für den es zusätzlich eines Gesetzes bedarf, wenn die
Gemeinde nicht einverstanden ist.
b) Art. 98 Abs. 2 Satz 3 LV gehört - wie auch schon der Gesamtzusammenhang der Art.
97 bis 100 LV nahe legt - zu den Verfassungsbestimmungen mit Bezug auf die
kommunale Selbstverwaltung. Das erkennende Gericht ist bereits zu Art. 98 Abs. 2 Satz
2 LV davon ausgegangen, daß ein Verstoß hiergegen einen Eingriff in die kommunale
Selbstverwaltung bedeutet (Urteil vom 1. Juni 1995 - VfGBbg 6/95 - LVerfGE 3, 157, 162),
und hat sich allgemein auf den Standpunkt gestellt, daß Gegenstand einer kommunalen
Verfassungsbeschwerde sämtliche Verfassungsbestimmungen sein können, "die die
kommunale Selbstverwaltung prägen oder doch mit der kommunalen Selbstverwaltung -
wie dies bei den Anhörungsrechten nach Art. 97 Abs. 4 und 98 Abs. 3 der Fall ist - zu tun
haben" (Urteil vom 29. August 2002 - VfgBbg 15/02 - S. 12 m. w. N., zur Veröffentlichung
in LVerfGE bestimmt). In den Kreis dieser Verfassungsbestimmungen fällt auch Art. 98
Abs. 2 Satz 3 LV. Art. 98 ist als demokratisches Element bei
Gemeindegebietsänderungen und in Anlehnung an die Verfassung von Baden-
Württemberg in die Landesverfassung eingestellt worden (vgl. Dokumentation
Verfassung des Landes Brandenburg, Bd. 3, S. 824, 874, 917). Für die damit der Sache
nach in Bezug genommene Regelung in Art. 74 Abs. 2 Satz 3 der Verfassung des
Landes Baden-Württemberg hat der Staatsgerichtshof für das Land Baden-Württemberg
die Nachprüfung im verfassungsgerichtlichen Verfahren auf Antrag der Gemeinde ohne
weiteres bejaht (StGH BW, Urteile vom 25. April 1975 - GR 6/74 - DÖV 1975, 500 f. und
vom 6. Februar 1976 - GR 66/74 - DÖV 1976, 245, 246 f.). Ebenso haben es der
Thüringer Verfassungsgerichtshof für die gleichartige Regelung in Art. 92 Abs. 2 Satz 3
der Thüringer Verfassung (vgl. Urteile vom 18. September 1998 - VerfGH 1/97 - VwRR
MO 1999, 87, 89 und vom 28. Mai 1999 - VerfGH 39/97 - S. 18
nicht mit abgedruckt>; teilweise abweichend - jedoch für den Rechtszustand vor
Inkrafttreten der Thüringer Verfassung - Urteil vom 18. Dezember 1996 - VerfGH 2/95
und 6/95 -, LVerfGE 5, 391, 411) und der Verfassungsgerichtshof des Freistaates
Sachsen zu Art. 88 Abs. 2 Satz 3 Sächsische Verfassung (vgl. Urteile vom 18. Juni 1999 -
Vf. 54-VIII-98 -, SächsVBl 1999, 237, 238 und - Vf. 51-VIII-98 - LKV 2000, 21) gesehen.
Für Art. 98 Abs. 2 Satz 3 der brandenburgischen Landesverfassung gilt nichts anderes.
Kommunale Selbstverwaltung bedeutet nicht zuletzt auch Mitwirkung und Beteiligung an
der Meinungsbildung "vor Ort" sowie "Aktivierung der Beteiligten für ihre eigenen
Angelegenheiten ... mit dem Ziel, das Wohl der Einwohner zu fördern und die
geschichtliche und heimatliche Eigenart zu wahren" (BVerfGE 11, 266, 275 f.). Das
Unterbleiben der in Art. 98 Abs. 2 Satz 3 LV eigens angeordneten "Anhörung der
Bevölkerung" vor einer Änderung des Gemeindegebietes ist deshalb ein Verstoß gegen
die kommunale Selbstverwaltung in ihrer Ausgestaltung durch die Landesverfassung.
2. Eine Anhörung der Bevölkerung nach Art. 98 Abs. 2 Satz 3 LV ist hier unterblieben.
Die etwas anderes suggerierende Stellungnahme des Amtsdirektors gegenüber dem
Innenminister (zur Weiterleitung an den Innenausschuss) vom 12. September 2002
entspricht ersichtlich nicht den Tatsachen. Daß die Bürger die Möglichkeit hatten, sich
von sich aus, etwa mit Eingaben an Landtag, Landesregierung und Gemeindeverwaltung,
zu Wort zu melden, reicht nicht aus. Eine Anhörung nach Art. 98 Abs. 2 Satz 3 LV setzt
mindestens voraus, daß die Bürger des unmittelbar betroffenen Gebietes förmlich
Gelegenheit erhalten, sich innerhalb einer bestimmten Frist zu einer konkret ins Auge
gefassten Gebietsänderung oder auch zu mehreren alternativ in Betracht kommenden
Gebietsänderungen zu äußern. Eine solchen Anforderungen genügende Anhörung hat,
wie inzwischen als "Panne" feststeht, im Gebiet der Beschwerdeführerinnen nicht
stattgefunden. Sie war auch nicht etwa im Hinblick darauf entbehrlich, daß es offenbar
einen Bürgerentscheid zu der Frage eines Zusammenschlusses aller 18
amtsangehörigen Gemeinden zu einer amtsfreien Großgemeinde gegeben hat. Dies
hätte zwar ebenfalls den Verlust der gemeindlichen Selbständigkeit der
Beschwerdeführerinnen bedeutet, jedoch unter nennenswert anderen Bedingungen,
nämlich in der Form eines Verbunds in den Grenzen des bisherigen Amtes und ohne
Schwächung durch Eingliederung eines Teils der bisher zu dem Amt gehörenden
Gemeinden in die Stadt Cottbus. Zu der mit dem Entwurf des 2. GemGebRefGBbg
konkret verfolgten Auflösung durch Aufgehen in einer nur aus 15 Gemeinden des Amtes
gebildeten Großgemeinde ist hingegen die Bevölkerung unter Verstoß gegen Art. 98
Abs. 2 Satz 3 LV nicht angehört worden; daß auch diese Möglichkeit schon in der
öffentlichen Diskussion gewesen sein mag, macht die Anhörung der Bevölkerung hierzu
nicht entbehrlich, um so weniger, als auch andere Varianten, auch als Amtslösung (vgl.
auch - in der Nachbarschaft - die Ämter Döbern-Land, Peitz und Burg ),
vorstellbar sind. Damit erweist sich Art. 1 Abs. 2 des 2. GemGebRefGBbg schon aus
diesem Grunde in Bezug auf die Beschwerdeführerinnen als verfassungswidrig und
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diesem Grunde in Bezug auf die Beschwerdeführerinnen als verfassungswidrig und
nichtig. Auf Kausalitätsfragen kommt es insoweit nicht an (so auch StGH BW DÖV 1976,
245, 246 f.). Das von der Landesregierung in diesem Zusammenhang angeführte Urteil
des Niedersächsischen Staatsgerichtshofes vom 3. Juni 1980 - StGH 2/79 -, DVBl 1981,
214 betrifft nicht die Anhörung der Bevölkerung, sondern der Kommune durch ihren
Hauptverwaltungsbeamten. Eine Argumentation etwa dahin, daß der Gesetzgeber ein
abweichendes Votum der Bevölkerung sowieso nicht beachtet hätte, würde Art. 98 Abs.
2 Satz 3 LV als bindende Verfassungsbestimmung relativieren und ist in einer
Demokratie nicht angängig.
3. Die Nichtigkeit von § 1 Abs. 2 ergreift auch § 1 Abs. 3 des 2. GemGebRefGBbg. Die
Beschwerdeführerinnen bleiben als amtsangehörige Gemeinden bestehen und haben
damit Anspruch auf eine geeignete Amtsverwaltung. Das Amt muss daher "aus
denselben Gründen" (§ 41 Satz 2 Verfassungsgerichtsgesetz Brandenburg - VerfGGBbg
-) bestehen bleiben. Das Schicksal derjenigen Gemeinden des Amtes, die gemäß § 1
Abs. 1 des 2. GemGebRefGBbg nach Cottbus eingegliedert werden sollen und in denen
nach Mitteilung der Landesregierung eine Anhörung nach Art. 98 Abs. 2 Satz 3 LV
stattgefunden hat, bleibt hierbei offen. Insoweit gelten die auf Antrag dieser Gemeinden
ergangenen einstweiligen Anordnungen.
III.
Vorsorglich weist das Landesverfassungsgericht darauf hin, daß mit der hier getroffenen
Entscheidung für die Beschwerdeführerinnen die im Verfahren der einstweiligen
Anordnung ergangenen Beschlüsse vom 6. August 2003 gegenstandslos werden und für
die Beschwerdeführerinnen jeweils eine eigenständige Gemeindevertretung zu wählen
ist. Die bisherige Gemeindevertretung, die zunächst im Amt bleibt (§ 4 Satz 2
Brandenburgisches Kommunalwahlgesetz), und die fortbestehende Amtsverwaltung
haben die Wahl der neuen Vertretung in die Wege zu leiten. Auf die Wahlen für den
Kreistag ergeben sich, soweit ersichtlich, keine Auswirkungen.
IV.
Die Nebenentscheidungen beruhen auf § 32 Abs. 7 VerfGGBbg und § 113 Abs. 2 Satz 3
der Bundesrechtsanwaltsgebührenordnung. In dem festgesetzten Gegenstandswert ist
die Erhöhung durch Zusammenfassung von 15 kommunalen Verfassungsbeschwerden
zur gemeinsamen Entscheidung berücksichtigt.
V.
Das Gericht hat einstimmig eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich gehalten
(§ 22 Abs. 1 VerfGGBbg). Auf weiteren Vortrag der Beschwerdeführerinnen kommt es
nicht an, da die Beschwerdeführerinnen schon aus den dargelegten Gründen Erfolg
haben.
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