Urteil des StGH Niedersachsen vom 22.07.2013

StGH Niedersachsen: gesetzesinitiative, folter, strafgesetzbuch, kollision, probe, amtsmissbrauch, abgabenordnung, strafprozessordnung, gewährleistung, öffentlich

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Bisher keine Eröffnung des Rechtswegs zum
Niedersächsischen Staatsgerichtshof wegen
Individualverfassungsbeschwerden
niedersächsischer Bürgerinnen und Bürger
Der Niedersächsische Staatsgerichtshof ist nach der derzeit geltenden
Zuständigkeitsbestimmung in Art. 54 NV nicht befugt, auf den Antrag einer
Bürgerin oder eines Bürgers die Vereinbarkeit staatlichen Handelns oder
Unterlassens mit der Niedersächsischen Verfassung oder mit dem
Grundgesetz zu überprüfen. Eine solche Befugnis ergibt sich auch nicht aus
der Gewährleistung des Rechtswegs nach Art. 53 NV.
Niedersächsischer Staatsgerichtshof, Beschluss vom 22.07.2013, 1/13, 2/13, 3/13,
StGH 1/13, StGH 2/13, StGH 3/13
Art 53 Verf ND, Art 54 Verf ND
Tenor
Die Anträge werden verworfen.
Gründe
I.
Die Antragsteller begehren die Verpflichtung der Niedersächsischen
Landesregierung zur Vornahme verschiedener Gesetzesinitiativen.
Die Antragsteller sind nach ihren eigenen Angaben als freischaffende
Filmemacher künstlerisch tätig. Sie halten die Besteuerung ihrer Einkünfte aus
dieser Tätigkeit nach Maßgabe des Einkommensteuergesetzes für
unvereinbar mit der grundgesetzlichen Kunstfreiheit. Jedes auf die
Durchsetzung dieser Besteuerung gerichtete Handeln der
Verwaltungsbehörden und Gerichte sei verfassungswidrig. Der Gesetzgeber
müsse den verfassungsrechtlichen Vorgaben genügende einfachgesetzliche
Regelungen schaffen. Dies sei bisher nicht erfolgt. Aufforderungen der
Antragsteller an die Niedersächsische Landesregierung, insoweit initiativ tätig
zu werden, seien nicht befolgt worden.
Die Antragsteller machen geltend, der Rechtsweg zum Niedersächsischen
Staatsgerichtshof sei nach Art. 53 der Niedersächsischen Verfassung (NV)
eröffnet. Die Verfahren nach Art. 54 Nrn. 1 und 6 NV seien statthaft. Sie - die
Antragsteller - seien Beteiligte im Sinne des Art. 54 Nr. 1 NV, da sie Bürger des
Landes Niedersachsen und als Grundrechtsträger durch die Niedersächsische
Verfassung mit eigenen Rechten ausgestattet seien. Das Verfahren nach
Art. 54 Nr. 6 NV sei ungeachtet der mangelnden konkreten Ausgestaltung
durch die nachgeordnete Vorschrift in § 8 des Gesetzes über den
Staatsgerichtshof (NStGHG) für sie eröffnet, da für Klagen wegen der durch
Handlungen niedersächsischer Behörden und Gerichte erlittenen
Grundrechtsverletzungen ein anderer Rechtsweg nicht gegeben sei.
Die Antragsteller beantragen
1. im Verfahren StGH 1/13,
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a. deklaratorisch festzustellen, dass die Niedersächsische
Landesregierung als Mitglied der Länderkammer der
Bundesrepublik Deutschland es versäumt hat, die
Gesetzesinitiative zur Ausgestaltung des Rechtsweges für
öffentlich-rechtliche Streitigkeiten von verfassungsrechtlicher Art
gemäß Art. 19 Abs. 4 Satz 2 Halbsatz 2 des Grundgesetzes zu
ergreifen und
b. der Niedersächsischen Landesregierung aufzugeben,
unverzüglich die Gesetzesinitiative zur Ausgestaltung des
Rechtsweges für öffentlich-rechtliche Streitigkeiten von
verfassungsrechtlicher Art gemäß Art. 19 Abs. 4 Satz 2 Halbsatz 2
des Grundgesetzes zu ergreifen,
2. im Verfahren StGH 2/13,
a. deklaratorisch festzustellen, dass die Niedersächsische
Landesregierung als Mitglied der Länderkammer der
Bundesrepublik Deutschland es verfassungswidrig versäumt hat,
die Initiative zur Gesetzesbereinigung zu ergreifen, obwohl
(1) die Vorschrift des § 18 Abs. 1 Nr. 1 des
Einkommensteuergesetzes in seiner Formulierung
"wissenschaftliche, künstlerische" mit Art. 5 Abs. 3 Satz 1 des
Grundgesetzes kollidiert und daher nichtig ist,
(2) das Strafbefehlsverfahren gemäß §§ 407 f. der
Strafprozessordnung und § 406 der Abgabenordnung wegen
der Kollision mit Art. 103 des Grundgesetzes und Art. 6 Abs. 1
der Europäischen Menschenrechtskonvention verfassungs- und
konventionswidrig und daher nichtig ist,
(3) die Justizbeitreibungsordnung vom 11. März 1937 faktisch
mit dem Tod des Usurpators und Massenmörders Adolf Hitler
und der bedingungslosen Kapitulation des NS-Terrorregimes am
8. Mai 1945 ersatzlos untergegangen und konstitutiv durch das
Kontrollratsgesetz Nr. 1 vom 20. September 1945 aufgehoben
worden ist, was durch die für allgemeingültig erklärte
Tillessen/Erzberger-Entscheidung des Tribunal Général in
Rastatt vom 6. Januar 1947 deklaratorisch bestätigt worden ist,
und somit im Geltungsbereich des Bonner Grundgesetzes
nichtig ist und
(4) die Zuweisung von richterlichen Dienstgeschäften durch
einfachgesetzliche Vorschriften an Hilfsrichter in Gestalt von
Richtern auf Probe, aus persönlichen Gründen abgeordneten
Richtern und Richtern kraft Auftrages wegen der Kollision mit
Art. 97 des Grundgesetzes und Art. 6 Abs. 1 der Europäischen
Menschenrechtskonvention unzulässig ist,
b. der Niedersächsischen Landesregierung aufzugeben,
unverzüglich verfassungskonform die Gesetzesinitiative bzw.
Initiative dahingehend zu ergreifen,
(1) die Worte "wissenschaftliche, künstlerische" in der Vorschrift
des § 18 Abs. 1 Nr. 1 des Einkommensteuergesetzes ersatzlos
zu streichen,
(2) das Strafbefehlsverfahren in der Strafprozessordnung und
der Abgabenordnung ersatzlos zu streichen,
(3) die ersatzlos untergegangene Justizbeitreibungsordnung
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vom 11. März 1937 einschließlich ihrer Änderungen aus dem
Gesetzeskatalog zu entfernen und
(4) die einfachgesetzlichen Vorschriften betreffend die
Übertragung von richterlichen Dienstgeschäften an Hilfsrichter in
Gestalt von Richtern auf Probe, aus persönlichen Gründen
abgeordneten Richtern und Richtern kraft Auftrages ersatzlos zu
streichen,
3. im Verfahren StGH 3/13,
a. deklaratorisch festzustellen, dass die Niedersächsische
Landesregierung als Mitglied der Länderkammer der
Bundesrepublik Deutschland es versäumt hat, die
Gesetzesinitiative zu ergreifen
(1) zur Aufnahme des entgegen der Verpflichtung aus Art. 4 des
Übereinkommens gegen Folter vom 10. Dezember 1984 nicht
aufgenommenen Tatbestandes der Folter im Sinne des Art. 1
des Übereinkommens in das Strafgesetzbuch,
(2) zur Ersetzung des Wortes "und" durch "oder" im § 353 Abs. 1
des Strafgesetzbuches,
(3) zur Streichung des § 240 Abs. 2 des Strafgesetzbuches und
des § 253 Abs. 2 des Strafgesetzbuches und
(4) zur Wiederaufnahme des § 339 des Strafgesetzbuches a.F.
(Amtsmissbrauch),
b. der Niedersächsischen Landesregierung aufzugeben,
unverzüglich die Gesetzesinitiative bzw. Initiative dahingehend zu
ergreifen,
(1) den Tatbestand der Folter im Sinne des Art. 1 des
Übereinkommens gegen Folter vom 10. Dezember 1984 in das
Strafgesetzbuch aufzunehmen,
(2) in § 353 Abs. 1 des Strafgesetzbuches das Wort "und" durch
das Wort "oder" zu ersetzen,
(3) § 240 Abs. 2 des Strafgesetzbuches und § 253 Abs. 2 des
Strafgesetzbuches ersatzlos zu streichen und
(4) redaktionell die Vorschrift des § 339 des Strafgesetzbuches
a.F. (Amtsmissbrauch) in das Strafgesetzbuch aufzunehmen.
Die Antragsteller sind vom Staatsgerichtshof auf die mangelnde Statthaftigkeit
ihrer Anträge hingewiesen worden. Sie halten ihre Anträge gleichwohl aufrecht.
II.
Die Anträge sind unstatthaft und daher gemäß §§ 12 Abs. 1 NStGHG, 24
BVerfGG zu verwerfen.
Der Staatsgerichtshof entscheidet gemäß Art. 54 NV vom 19. Mai 1993
(Nds. GVBl. S. 107), zuletzt geändert durch Gesetz vom 30. Juni 2011
(Nds. GVBl. S. 210), ausschließlich über die in dieser Verfassungsbestimmung
abschließend aufgeführten Gegenstände. Die Befugnis, auf den Antrag eines
Bürgers die Vereinbarkeit staatlichen Handelns oder Unterlassens mit der
Niedersächsischen Verfassung oder - was die Antragsteller in erster Linie
anstreben - mit dem Grundgesetz zu überprüfen, ist dem Staatsgerichtshof
hiernach nicht eingeräumt (vgl. Nds. StGH, Beschl. v. 18.5.1998 - StGH 27/94 -
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, NdsRpfl. 1998, 270). Eine solche Befugnis ergibt sich auch nicht aus der
Gewährleistung eines Rechtswegs nach Art. 53 NV (vgl. Nds. StGH, Beschl.
v. 17.5.1999 - StGH 3/99 -, juris Rn. 3).
Ohne Erfolg verweisen die Antragsteller auch auf die Möglichkeit der
Durchführung eines Verfahrens nach Art. 54 Nr. 1 NV.
In den (Organstreit-)Verfahren nach Art. 54 Nr. 1 NV darf der Staatsgerichtshof
nur auf Antrag eines obersten Landesorgans oder eines Beteiligten im Sinne
dieser Verfassungsbestimmung entscheiden. Nach dem Wortlaut dieser
Bestimmung und dem insoweit wortgleichen § 8 Nr. 6 NStGHG vom 1. Juli
1996 (Nds. GVBl. S. 342), zuletzt geändert durch Gesetz vom 10. November
2011 (Nds. GVBl. S. 414), können antragsbefugte Beteiligte nur Organe und
Personen sein, die durch die Niedersächsische Verfassung oder in der
Geschäftsordnung des Landtags oder der Landesregierung mit eigenen
Rechten ausgestattet sind. Eigene Rechte im Sinne des Art. 54 Nr. 1 NV
können nur solche sein, die dem Betreffenden über die jedermann
zustehenden Rechte und verfassungsrechtlichen Gewährleistungen hinaus
zustehen (vgl. Nds. StGH, Beschl. v. 27.1.2006 - StGH 3/05 -, StGHE 4, 131
(132)).
Solche Rechte machen die Antragsteller im Zusammenhang mit ihrem
maßgeblichen Begehren um eine Verpflichtung der Niedersächsischen
Landesregierung zur Vornahme verschiedener Gesetzesinitiativen nicht für
sich geltend und können das auch nicht. Sie sind weder durch die
Niedersächsische Verfassung noch durch eine der genannten
Geschäftsordnungen allgemein oder in Bezug auf ihr Begehren mit
besonderen Rechten ausgestattet, deren Umfang durch Auslegung der
Niedersächsischen Verfassung zu ermitteln wäre. Eine solche besondere
Rechtsstellung erwächst ihnen insbesondere nicht daraus, dass die im
Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland festgelegten Grundrechte
und staatsbürgerlichen Rechte nach Art. 3 Abs. 2 Satz 1 NV Bestandteil der
Niedersächsischen Verfassung sind. Denn dabei handelt es sich um
Gewährleistungen, auf die sich jedermann berufen kann.
Die Antragsteller können sich schließlich nicht mit Erfolg auf Art. 54 Nr. 6 NV
berufen.
Nach dieser Bestimmung entscheidet der Staatsgerichtshof auch in den
übrigen, ihm durch die Niedersächsische Verfassung oder durch Gesetz
zugewiesenen Fällen. Eine solche konkrete verfassungsrechtliche oder
einfachgesetzliche Zuweisung besteht für die vorliegenden Anträge ersichtlich
nicht (vgl. Nds. StGH, Beschl. v. 18.5.1998, a.a.O.).
Das Verfahren vor dem Staatsgerichtshof ist gemäß § 21 Abs. 1 NStGHG
kostenfrei. Auslagen werden gemäß § 21 Abs. 2 Satz 2 NStGHG nicht
erstattet.