Urteil des StGH Niedersachsen vom 15.03.2000

StGH Niedersachsen: recht auf bildung, schulpflicht, volljährigkeit, mensch, ungültigkeit, schule, vervielfältigung, genehmigung, datenschutz, niedersachsen

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Zu den Anforderungen, die an die Begründung eines richterlichen
Vorlagebeschlusses zu stellen sind.
§ 65 Abs. 1 des Niedersächsischen Schulgesetzes in der Fassung vom 3.
März 1998 (Nds. GVBl. S. 138)
Niedersächsischer Staatsgerichtshof, Beschluss vom 15.03.2000, 5/99, StGH 5/99
Art 54 Nr 4 Verf ND, § 8 Nr 9 StGHG ND
Tenor
Die Vorlage ist unzulässig.
Gründe
Gegenstand der Vorlage ist die Frage, ob § 65 Abs. 1 des Niedersächsischen
Schulgesetzes in der Fassung vom 3. März 1998 (Nds. GVBl. S 138), wonach
die Schulpflicht grundsätzlich zwölf Jahre nach ihrem Beginn endet, mit Art. 4
Abs. 1 NV dann noch vereinbar ist, wenn die Schulpflicht über das
Volljährigkeitsalter hinausgeht.
I.
Der Landkreis Hannover hat bei dem Amtsgericht Burgdorf
Erzwingungsmaßnahmen nach § 98 Abs. 1 OWiG beantragt, nachdem eine
durch rechtskräftigen Bußgeldbescheid vom 25. Juni 1999 gegen eine
volljährige Schülerin wegen Schulversäumnisses festgesetzte Geldbuße in
Höhe von 260,-- DM nicht bezahlt worden war. Das Amtsgericht hat durch
Beschluss vom 20. August 1999 das Verfahren gemäß § 8 Nr. 9 StGHG i. V. m.
Art. 54 Nr. 4 der Niedersächsischen Verfassung (NV) und Art. 100 Abs. 1 GG
ausgesetzt und die Sache dem Niedersächsischen Staatsgerichtshof zur
Entscheidung darüber vorgelegt, ob § 65 Abs. 1 des Niedersächsischen
Schulgesetzes mit Art. 4 Abs. 1 NV vereinbar ist, soweit darin die Schulpflicht
über das Volljährigkeitsalter hinaus verlängert wird.
Zur Begründung des Vorlagebeschlusses wird folgendes ausgeführt: „Das
Gericht hat jedoch Zweifel daran, dass § 65 Abs. 1 NSchG mit Art. 4 Abs. 1 NV
vereinbar ist in dem Bereich, in dem die Schulpflicht einen Volljährigen trifft“.
Ähnlich heißt es später: „Das Gericht hält die Ausdehnung der Schulpflicht über
die Volljährigkeit hinaus möglicherweise für verfassungswidrig“. Gemäß Art. 4
Abs. 1 i. V. m. Art. 3 Abs. 2 NV habe jeder Mensch das Recht auf Bildung und
auf freie Wahl der Ausbildungsstätte. Hieraus folge, dass jeder Mensch auch
das Recht habe, ungebildet zu bleiben. Diesen Willensentschluss zur Unbildung
könne jeder Mensch von dem Zeitpunkt an ausüben, von dem an er frei über
sich entscheiden könne, nämlich ab der Volljährigkeit. Zwar sei es im Rahmen
einer Berufsausbildung erforderlich, eine begleitende Schule zu besuchen.
Dieser Schulbesuch könne auch über den Zeitpunkt der Volljährigkeit hinaus
gehen. Jedoch dürfe der Nichtbesuch dieser Schule jenseits der Volljährigkeit
nicht mit einer Geldbuße geahndet werden; er könne lediglich zur Folge haben,
dass der Betroffene sofort von der Bildungsmaßnahme ausgeschlossen werde.
Dem Niedersächsischen Landtag, der Niedersächsischen Landesregierung
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sowie den Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist Gelegenheit zur Äußerung
gegeben worden. Die Niedersächsische Landesregierung und der Landkreis
Hannover haben sich zum Verfahren geäußert.
II.
Die Vorlage ist unzulässig.
Das Amtsgericht hat die Entscheidungserheblichkeit der Vorlage nicht
hinreichend begründet. Dem Begründungserfordernis wird nur entsprochen,
wenn der Vorlagebeschluss mit hinreichender Deutlichkeit erkennen lässt, dass
das Amtsgericht bei Gültigkeit der Vorschrift zu einem anderen Ergebnis
kommen würde als bei ihrer Ungültigkeit und wie dieses Ergebnis jeweils in
beiden Fällen zu begründen gewesen wäre (vgl. BVerfGE 86, 52 [56] in std.
Rechtspr.). Vorliegend hätte sich das Amtsgericht dazu äußern müssen, ob und
inwieweit es in einem Erzwingungsverfahren die materielle Rechtmäßigkeit
eines rechtskräftigen Bußgeldbescheids nachprüfen kann. Denn dies wäre
Voraussetzung dafür, dass es im Ausgangsverfahren auf die Gültigkeit oder
Ungültigkeit des § 65 Abs. 1 NSchG ankommt.
Aus dem Vorlagebeschluss geht im übrigen auch nicht hervor, dass das
Amtsgericht von der Verfassungswidrigkeit des § 65 Abs. 1 NSchG überzeugt
ist. Es hegt in dieser Hinsicht lediglich „Zweifel“ und hält jene Vorschrift nur
„möglicherweise“ für verfassungswidrig. Das Amtsgericht hätte sich darüber
eindeutig Klarheit verschaffen und diese Gewissheit nachvollziehbar begründen
müssen. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, der
sich der Niedersächsische Staatsgerichtshof anschließt, ist eine Vorlage immer
schon dann unzulässig, wenn das vorlegende Gericht lediglich Zweifel an der
Verfassungsmäßigkeit einer Norm hat (vgl. BVerfGE 80, 54 [59] mit weiteren
Nachweisen).