Urteil des StGH Hessen vom 02.04.2017

StGH Hessen: höchstpersönliche rechte, höhere gewalt, aussperrung, grundrecht, hessen, verfügung, zinn, streik, betrug, drucker

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Gericht:
Staatsgerichtshof
des Landes
Hessen
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
P.St. 825
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
Art 13 Verf HE , Art 29 Verf HE
, Art 33 Verf HE , Art 131 Verf
HE , §§ 45 StGHG
Leitsatz
1. Zur Frage des Grundrechtscharakters und der Fortgeltung des Art. 29 Abs. 5 HV.
2. Art. 33 Satz 1 HV gewährt kein Grundrecht.
3. Zu den Voraussetzungen einer Vorabentscheidung des StGH nach § 48 Abs. 1 Satz
3 StGHG (hier verneint).
4. Im übrigen Einzelfall einer unzulässigen Grundrechtsklage betr. Nichtauslieferung
einer Tageszeitung während eines Druckerstreiks (Rechtsweg nicht erschöpft; nicht
substantiiert).
Tenor
Die Anträge werden auf Kosten des Antragstellers zurückgewiesen.
Die Gebühr wird auf 150,-- DM festgesetzt.
Gründe
I.
Der Antragsteller wendet sich mit seiner Eingabe vom 6. Mai 1976, bei der
Geschäftsstelle des Staatsgerichtshofs eingegangen am 10. Mai 1976, "gegen die
fast absolute Informationslosigkeit nicht nur im lokalen und regionalen, sondern
bundesweiten Maßstab". Er ist seit etwa drei Jahren Abonnent der "Frankfurter
Rundschau". Infolge des bundesweiten Druckerstreiks Ende April/Anfang Mai 1976
ist ihm die Zeitung nicht zugestellt worden.
Am 29. April 1976 beantragte der Antragsteller bei dem Landgericht in..., der
"Frankfurter Rundschau" im Wege der einstweiligen Verfügung die sofortige
vertragsgemäße Ablieferung der Zeitung aufzugeben. Das Landgericht wies den
Antrag durch Beschluß vom 3. Mai 1976 - 2/3 O 229/76 - zurück, der dem
Antragsteller nach seinen Angaben am 6. Mai 1976 zugestellt worden ist.
Mit seiner "Verfassungsbeschwerde und Antrag auf Erlaß einer diesbezüglichen
einstweiligen Verfügung" an den Staatsgerichtshof will er erreichen, daß er seine
"bezahlte und grundgesetzlich garantierte Pressefreiheit beanspruchen kann", und
zwar jeweils für die neueste Ausgabe. Die "Frankfurter Rundschau" sei für den
Streit und Streik verantwortlich, solle sie doch ihre Drucker so bezahlen, daß
wenigstens die Preiserhöhungen erstattet würden.
Der Antragsteller beruft sich auf die Grundrechte; dazu zählt er auch die Art. 29
und 33 HV. Er trägt vor, die Aussperrung sei verfassungswidrig und habe auch
keine demokratische Legitimation. Das Urteil des Bundesarbeitsgerichts aus dem
Jahre 1971, das die Aussperrung als zulässig bezeichnet habe, könne nicht dahin
ausgelegt werden, daß Bundesrecht Landesrecht breche. Arbeitsgerichte könnten
"Verfassungsrechte nicht revidieren, das Urteil sei nur aus formaljuristischen
Gründen - ohne Inhalt - durch Versäumnis des DGB in diesem einen Fall wirksam
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Gründen - ohne Inhalt - durch Versäumnis des DGB in diesem einen Fall wirksam
geworden. ... wie alle Arbeitnehmer halten die Aussperrung für verfassungswidrig".
Die Aussperrung sei Betrug, keine höhere Gewalt, sondern selbstverschuldet.
II.
Im Hinblick auf die von dem Antragsteller vorgetragene Eilbedürftigkeit des
Antrages auf Erlaß einer einstweiligen Verfügung hat der Staatsgerichtshof davon
abgesehen, eine Stellungnahme des Landesanwalts einzuholen.
III.
Die Anträge können keinen Erfolg haben; sie sind unzulässig.
1. Zwar kann nach Art. 131 Abs. 1 HV, §§ 45 ff. StGHG jedermann den
Staatsgerichtshof anrufen, der geltend macht, daß ein ihm von der Verfassung
des Landes Hessen gewährtes Grundrecht verletzt sei. Der Antrag zur
Verteidigung der Grundrechte ist nach § 46 Abs. 1 StGHG jedoch nur zulässig,
wenn er das Grundrecht bezeichnet und mit der Angabe der Beweismittel die
Tatsachen darlegt, aus denen sich die Verletzung der Grundrechte ergeben soll.
Die allgemeine Bezugnahme des Antragstellers auf die Grundrechte genügt
diesem Formerfordernis jedoch nicht. Wenn seinem Vorbringen überhaupt
entnommen werden, kann, daß er sich in seinem Grundrecht verletzt fühlt, sich auf
allen Gebieten des Wissens und der Erfahrung sowie über die Meinung anderer
durch Bezug von Druckerzeugnissen, das Abhören von Rundfunksendern oder auf
sonstige Weise frei zu unterrichten (Art. 13 HV), scheitert seine Grundrechtsklage
an der mangelnden Erschöpfung des Rechtsweges. Ein Verfahren wegen
Verletzung eines Grundrechts findet vor dem Staatsgerichtshof, nur statt, wenn
der Antragsteller zuvor eine Entscheidung des höchsten in der Sache zuständigen
Gerichts herbeigeführt hat und innerhalb eines Monats seit Zustellung dieser
Entscheidung den Staatsgerichtshof anruft. Diese Voraussetzung hat der
Antragsteller jedoch nicht erfüllt. Entgegen seiner Ansicht hat er den Rechtsweg
nicht erschöpft. Gegen den ablehnenden Beschluß des Landgerichts... vom 3. Mai
1976 hätte er zunächst die einfache Beschwerde nach § 567 ZPO einlegen
müssen. Das hat er nicht getan. Deshalb ist seine Grundrechtsklage unzulässig.
2. Die Voraussetzungen des § 48 Abs. 1 Satz 3 StGHG, nach dem der
Staatsgerichtshof vor Erschöpfung des Rechtsweges entscheidet, wenn die
Bedeutung der Sache über den Einzelfall hinausgeht, insbesondere mit einer
Wiederholung zu rechnen ist und daher eine allgemeine Regelung erforderlich
erscheint, liegen nicht vor. Einmal war bereits ein ordentliches Gericht mit der
Streitsache befaßt, zum anderen könnte eine solche Vorabentscheidung nur
erwogen werden, wenn die Grundrechtsklage im übrigen zulässig wäre (vgl. auch
StGH, Beschluß vom 6. Januar 1971 - P.St. 605 -). Das ist aber nicht der Fall.
3. Soweit sich der Antragsteller auf die Art. 29 und 33 HV beruft, kann zunächst
dahingestellt bleiben, ob sie überhaupt Grundrechte oder grundrechtsähnliche
Rechte gewähren. Diese genannten Bestimmungen sind im "Ersten Hauptteil: Die
Rechte des Menschen" der Verfassung des Landes Hessen unter "III. Soziale und
wirtschaftliche Rechte und Pflichten" angesiedelt. Dieser Abschnitt regelt die
Sozial- und Wirtschaftsordnung; er normiert Grundrechte, aktuelle, objektive
Rechtsnormen, Institutsgarantien, institutionelle Garantien sowie
Programmforderungen (vgl. Zinn-Stein, Die Verfassung des Landes Hessen, Band
I, 1954, vor Art. 27, S. 170/171).
a) Art. 29 Abs. 5 HV, der die Aussperrung für rechtswidrig erklärt und auf den sich
der Antragsteller im wesentlichen beruft, ist eine aktuelle Verbotsnorm (vgl. Zinn-
Stein, a.a.O. S. 190). Indessen ist seine Fortgeltung nach Inkrafttreten des
Grundgesetzes und anderer bundesgesetzlicher Bestimmungen umstritten (vgl.
dazu Weber in Betriebsberater 1961, 293, 294 und Kaiser in Bayer.
Verwaltungsblätter 1974, 117 ff., jeweils mit weiteren Nachweisen). Zu dieser
Frage braucht der Staatsgerichtshof jedoch in diesem Verfahren nicht
abschließend Stellung zu nehmen. Selbst wenn Art. 29 Abs. 5 HV ein fortgeltendes
Grundrecht normierte, wäre der Antragsteller nicht unmittelbar von der
Aussperrung in der Druckindustrie betroffen, da er nicht zu den Arbeitnehmern des
Druckereigewerbes gehört. Art. 29 Abs. 5 HV könnte allenfalls diesem
Personenkreis einen Grundrechtsschutz gewähren. Die Verletzung eines ihm
zustehenden Grundrechts hat der Antragsteller daher nicht schlüssig darzulegen
vermocht.
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Die Grundrechtsklage des Antragstellers kann auch nicht in einen Antrag zur
Verteidigung der Grundrechte in Prozeßstandschaft für die von der Aussperrung
betroffenen Arbeitnehmer umgedeutet werden. Die Grundrechte sind
höchstpersönliche Rechte zum Schutze der persönlichen Freiheit; sie sind weder
der Substanz noch der Ausübung nach übertragbar (so StGH, Beschluß vom 11.
April 1973 - P.St. 697 -, StAnz. 1973, 927 = ESVGH 23, 147 = DÖV 1973, 524 =
DVBl. 1973, 334 [L]).
b) Soweit sich der Antragsteller auf Art. 33 HV beruft, hat er allenfalls Tatsachen
vorgetragen, aus denen sich eine Verletzung des Art. 33 Satz 1 HV ergeben
könnte. Danach muß das Arbeitsentgelt der Leistung entsprechen und zum
Lebensbedarf für den Arbeitenden und seine Unterhaltsberechtigten ausreichen.
Diese Bestimmung gewährt aber weder ein Grundrecht noch ein
subjektivöffentliches Recht. Art. 33 Satz 1 HV fordert einen gerechten Lohn und
stellt vornehmlich einen Aufruf an das soziale Gewissen dar, da die Regelung des
Arbeitsentgelts den Sozialpartnern überlassen ist (so Zinn-Stein, a.a.O., S. 193).
Da der Antragsteller nach allem kein eigenes Grundrecht bezeichnet hat, das
verletzt sein soll, entspricht sein Vorbringen nicht den Erfordernissen des § 46 Abs.
1 StGHG, so daß auch für eine Entscheidung des Staatsgerichtshofs vor
Erschöpfung des Rechtsweges nach § 48 Abs. 1 Satz 3 StGHG kein Raum ist.
4. Unter diesen Umständen kommt auch der Erlaß einer einstweiligen Verfügung
nach § 22 StGHG nicht in Betracht. Nach der ständigen Rechtsprechung des
Staatsgerichtshofs ist der Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Verfügung
unzulässig, wenn die Grundrechtsklage, wie hier, unzulässig ist (zuletzt StGH,
Beschluß vom 7. April 1976 - P.St. 785 -).
Die Kostenentscheidung beruft auf § 24 StGHG.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.