Urteil des StGH Hessen vom 15.03.2017

StGH Hessen: staat und kirche, hessen, grundrecht, schulgebet, ratio legis, trennung, zinn, schüler, wrv, religionsunterricht

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Gericht:
Staatsgerichtshof
des Landes
Hessen
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
P.St. 388
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
Art 9 Verf HE, Art 48 Abs 1
Verf HE, Art 48 Abs 2 Verf HE,
Art 56 Verf HE, Art 57 Verf HE
(Schulgebet in öffentlicher Volksschule)
Leitsatz
Ein Gebet vor dem Beginn des Unterrichts einer Klasse in einer öffentlichen Volksschule
kann das Grundrecht der negativen Bekenntnisfreiheit eines Schülers dieser Klasse
verletzen.
Tenor
Die Bescheide des Regierungspräsidenten in Wiesbaden vom 27. Juni 1963 und
vom 24. September 1963 - II 2 b - II b 40 z 02 - 01 - verletzen die Grundrechte des
Antragstellers aus Art. 9 und 48 II der Verfassung des Landes Hessen. Sie werden
aufgehoben.
Die Entscheidung ergeht gebührenfrei; Auslagen werden nicht erstattet.
Gründe
I.
Die Eltern des Antragstellers beantragten mit einer Eingabe vom 14. Januar 1963
beim Stadtschulamt der Stadt Frankfurt (Main), dass in der Klasse … der …-schule
in Frankfurt (Main), einer öffentlichen Volksschule, vor dem Unterricht nicht
gebetet werden solle, da ihr Sohn …, seit Ostern … Schüler dieser Klasse, weder
getauft noch religiös erzogen worden sei. Eine Regelung des Inhalts, dass ihr Sohn
jeweils erst nach dem Beten das Klassenzimmer betrete, erscheine ihnen nicht
vertretbar, da dies ihren Sohn in unerträglicher Weise diskriminieren würde. Sie
stützten ihren Antrag auf näher bezeichnete Vorschriften des Grundgesetzes und
der Hessischen Verfassung. Das Stadtschulamt legte den Antrag dem
Regierungspräsidenten in Wiesbaden zur Entscheidung vor, der wegen der
allgemeinen und grundsätzlichen Bedeutung des Falles die Eingabe unter
Darlegung seiner Rechtsauffassung dem Hessischen Kultusminister zur
Entscheidung unterbreitete und die Eheleute … hiervon verständigte. Der
Hessische Kultusminister bat den Regierungspräsidenten, den Antrag abzulehnen.
Mit Bescheid vom 27. Juni 1963 teilte der Regierungspräsident den Eheleuten …
mit, dass er ihrem Antrag, „dass in der Klasse … der …-schule in Frankfurt (Main)
das Beten zu Beginn des Unterrichts eingestellt werde“, nicht stattgeben könne.
Zur Begründung führte er u.a. aus, dass es den Eltern … freistehe zu bestimmen,
ob ihr Kind während des Gebets in im Klassenzimmer bleiben oder außerhalb des
Zimmers warten solle. Das letztere stelle keine unzulässige Diskriminierung des
Kindes dar. Darüber hinaus hätten sie rechtlich nicht die Möglichkeit zu verlangen,
dass in der Schule nicht gebetet werde. Die von ihnen angeführten
Verfassungsbestimmungen vermöchten den Antrag nicht zu stützen. In den
hessischen Schulen sei es allgemein üblich, dass täglich zu Beginn des Unterrichts
ein Gebet gesprochen werde. Die hessische Gemeinschaftsschule trage in ihrer
tatsächlichen Ausgestaltung wesentliche christliche Züge; das ergebe sich zwar
nicht aus dem Wortlaut der Verfassung, aber aus ihrer Entstehungsgeschichte, der
Tradition im Lande Hessen und der Verfassungswirklichkeit. In Art. 15 I des
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Tradition im Lande Hessen und der Verfassungswirklichkeit. In Art. 15 I des
Vertrages des Landes Hessen mit den Evangelischen Landeskirchen vom 18.
Februar 1960, der Gesetzeskraft erlangt habe, sei ausdrücklich festgelegt worden,
dass die Gemeinschaftsschule in Hessen auf christlicher Grundlage beruhe. Das
Gebet widerspreche infolge langjähriger Übung nicht dem Wesen der Schule, sei
vielmehr Bestandteil der Schule geworden. Durch das Beten würden, wie des
näheren begründet wird, die Rechte der Eheleute … oder die ihres Kindes in keiner
Weise verletzt.
Gegen diesen Bescheid legten die Eheleute … form- und fristgerecht Widerspruch
ein, zu dessen Begründung sie sich auf ihre früheren Ausführungen bezogen und
ergänzend bemerkten, dass entscheidend für ihren Antrag allein die
Bestimmungen der Hessischen Verfassung seien. Aus diesen ergebe sich
eindeutig, dass kein Kind gezwungen werden dürfe, am Beten in der Schule
teilzunehmen. Mit Bescheid vom 24. September 1963 wies der
Regierungspräsident den Widerspruch als unbegründet ab. Er wiederholte im
wesentlichen seine früheren Ausführungen und wies ergänzend daraufhin, dass
dem seit jeher den hessischen Volksschulen üblichen Gebet vor dem Unterricht
seit dem Bestehen des Grundgesetzes und der Hessischen Verfassung bisher
außer den Eheleuten … kein Erziehungsberechtigter widersprochen habe. Mit voller
Berechtigung müsse somit angenommen werden, dass diese Übung dem Willen
der Elternschaft entspreche. Daher habe der Wunsch eines einzelnen Elternpaares
nach Abschaffung des Gebets in einem demokratischen Staat hinter dem Willen
der weit überwiegenden Mehrheit zurückzustehen.
Der mit Rechtsmittelbelehrung versehene Widerspruchsbescheid wurde den
Eheleuten … am 17. Oktober 1963 zugestellt.
Mit der am 15. November 1963 eingegangenen Eingabe vom 13. November 1963
rief der Antragsteller den Staatsgerichtshof an. In der Klageschrift und den
folgenden Schriftsätzen ergänzte er sein Vorbringen und machte im wesentlichen
geltend:
Das Beten unter Anrufung Gottes sei eine religiöse Übung. Nach Art. 48 II der
Verfassung des Landes Hessen - HV - dürfe niemand gezwungen werden, an einer
solchen Übung teilzunehmen. Ein Zwang bestehe schon dann, wenn in einer
Klasse überhaupt gebetet werde. Denn auch wenn die Schule dem Schüler
freistelle, die Klasse nach dem Gebet zu betreten, so zwinge sie ihn dennoch, am
Gebet teilzunehmen; verantwortungsbewusste Eltern könnten von der
angebotenen Möglichkeit keinen Gebrauch, da sie in diesem Falle zulassen
müssten, dass ihr Kind als einziges jeden Morgen später in das Klassenzimmer
gerufen werde. Dies habe zur Folge, dass alle Mitschüler nach ihm sehen und zu
dem Urteil kommen würden: Der ist anders als wir. Sie würden sich deshalb
diesem Kinde gegenüber entsprechend verhalten und es isolieren. Eine solche
Absonderung, die nicht zu vergleichen sei mit der Trennung der Schüler aus Anlass
des Religionsunterrichts, bedeute für das Kind eine nicht zu verantwortende
seelische Belastung. Da die Eltern eine derartige Diskriminierung ihres Kindes nicht
zulassen könnten und diese auch für das Kind unzumutbar sei, sei die Möglichkeit,
das Klassenzimmer erst nach dem Gebet zu betreten, bei der
verfassungsrechtlichen Würdigung außer acht zu lassen. Denn entscheidend sei
nicht, ob die Befürchtung der Eltern, ihr Kind werde diskriminiert, begründet sei; es
genüge, dass diese Befürchtung für den Entschluss der Eltern durchaus
verständlich sei. Auch mit dem Toleranzgebot sei der vorliegende Konflikt nicht zu
lösen. Denn die Übung der Toleranz könne nur das Ergebnis einer langen
Erziehungsarbeit sein. Das Kind werde, wenn es während des Gebets anwesend
sei, tatsächlich zum Beten gezwungen. Eine „passive“ Anwesenheit eines Kindes
in diesem Alter bei dem Gebet seiner Lehrerin und seiner Mitschüler sei nicht
vorstellbar. Das Kind werde also gar nicht umhinkönnen, am Beten teilzunehmen.
Durch einen solchen Zwang - ob er beabsichtigt sei der nicht - werde auch Art. 9
HV verletzt. Es sei das Wesen der Grundrechte, Minderheiten, insbesondere auch
den Einzelnen gegen die Mehrheit zu schützen.
Angesichts des klaren Wortlauts des Art. 48 II HV könne nicht auf die
Entstehungsgeschichte dieser Verfassungsbestimmung, auf die Tradition im Lande
Hessen und die Verfassungswirklichkeit verwiesen werden. Brauchtum könne nicht
stärker sein als die Verfassung. Auch der Vertrag des Landes Hessen mit den
Evangelischen Landeskirchen vom 18. Februar 1960 sei für die Beurteilung der hier
zu entscheidenden Frage ohne Bedeutung, da er als einfaches Gesetz die
Verfassungsbestimmungen nicht außer Kraft setzen könne. Das Beten zu Beginn
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Verfassungsbestimmungen nicht außer Kraft setzen könne. Das Beten zu Beginn
des Unterrichts in einer öffentlichen Schule des Landes Hessen verstoße als eine
vom Antragsgegner geduldete religiöse Übung auch gegen das in der Hessischen
Verfassung verankerte Prinzip der Trennung von Staat und Kirche, das der
Verwirklichung eines Grundrechts diene, und widerspreche außerdem dem
Charakter der hessischen Schule als einer Gemeinschaftsschule, wie sie in der
Hessischen Verfassung normiert sei. Hierzu machte der Antragsteller eingehende
Ausführungen darüber, wie scharf die Trennung von Staat und Kirche im
Grundgesetz und in der Hessischen Verfassung ausgeprägt und dass dieses
Prinzip bei der Entscheidung seiner Grundrechtsklage zu berücksichtigen sei.
Ferner legte er des näheren die Gründe dar, aus denen sich ergebe, dass die
Schule in Hessen keine christliche Gemeinschaftsschule, sondern eine echte
Gemeinschaftsschule sei, die keinen Erziehungsauftrag in transzendenten Dingen
und in ihrem Unterricht nicht die Gesinnung einer oder mehrerer
Religionsgemeinschaften zu vermitteln habe.
In der Hauptverhandlung hat der Antragsteller beantragt,
die Bescheide des Regierungspräsidenten in Wiesbaden vom 27. Juni 1963 und
vom 24. September 1963 wegen Verletzung der Grundrechte aus Art. 9 und 48 II
HV aufzuheben.
Der Antragsgegner beantragt,
die Zurückweisung dieses Antrags.
Er erhebt keine Bedenken gegen dessen Zulässigkeit, da die hier zu
entscheidende Frage allgemeine Bedeutung habe und in grundsätzlicher Weise die
Gestaltung des Schullebens im ganzen Lande Hessen berühre. Es erscheine daher
gerechtfertigt, dass der Staatsgerichtshof vor Erschöpfung des Rechtsweges
entscheide.
Zur Sache selbst trägt er vor, die Lehrerin des Antragstellers, die das Gebet mit
den Kindern eingeübt habe, leite das gemeinsame Gebete durch das Aussprechen
des Anfangswortes ein. Damit werde sie im Rahmen der öffentlichen Gewalt der
Schule gegenüber den Schülern tätig. Das tägliche Gebet vor Beginn und nach
Beendigung des Unterrichts sei seit langem in den meisten hessischen Schulen,
insbesondere in den Volksschulen Brauch. Eine gesetzliche Regelung fehle. Auch
aus dem Volksstaat Hessen und aus Preußen seien keine Vorschriften bekannt.
Der Hessische Kultusminister habe durch Erlass vom 8. Mai 1947 den Schulen
lediglich empfohlen, den Unterricht mit einem Gebet oder einem geistlichen Lied
zu beginnen und zu beenden. Weitere Verwaltungsvorschriften über das
Schulgebet seien nach 1945 nicht ergangen. Ein Erlass des Hessischen
Kultusministers über die Formen des Schullebens vom 15. September 1948 setze
das tägliche Schulgebet als selbstverständlich voraus. Selbst in der Zeit des
Nationalsozialismus sei das Schulgebet niemals ausdrücklich verboten worden.
Außer in Bremen und Hamburg sei das Schulgebet in den meisten Volksschulen
der anderen Länder der Bundesrepublik üblich, obwohl auch dort keine besonderen
Vorschriften hierüber bestünden.
Der Antragsteller berufe sich zu Unrecht auf die Vorschriften der Art. 9 und 48 II
HV. Das Schulgebet sei zwar eine religiöse Übung; der Antragsteller werde aber
nicht gezwungen, an ihr teilzunehmen und das gemeinsame Gebet
mitzusprechen, da allein in seiner passiven Anwesenheit eine Teilnahme nicht
gesehen werden könne und es ihm auch freistehe, sich während des Gebets
außerhalb des Klassenzimmers aufzuhalten. Es sei sicher richtig, dass
insbesondere kleinere Kinder einen natürlichen Drang hätten, sich ihren
Altersgenossen anzupassen. Eine solche Wirkung könne auch ein gemeinsames
Schulgebet haben. Das sei aber nicht bereits als Zwang im Sinne von Art. 48 II HV
anzusehen. Solange diese Wirkung nicht durch die äußere Gestaltung der
religiösen Handlung bewusst oder gewollt als mittelbares psychologisches
Druckmittel verwendet werde, sei sie verfassungsrechtlich irrelevant. Andererseits
bedeute die Tatsache, dass es am Schulgebet nicht teilnehme, für das einzelne
Kind keine unzumutbare psychische Belastung. In dieser Trennung der Kinder für
einen Teilbereich der Erziehung liege keine Diskriminierung der jeweiligen
Minderheit. Überdies seien Kinder, die ein Schulgebet ablehnen, auch bei anderen
Gelegenheiten (Schulgottesdiensten, Schulandachten; Religionsunterricht) von der
Klasse getrennt. Gleichartige Erziehungsprobleme träten in anderen Fällen
ebenfalls auf, z.B. bei der Einschulung von Mischlingskindern, Gastarbeiterkindern
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ebenfalls auf, z.B. bei der Einschulung von Mischlingskindern, Gastarbeiterkindern
usw. Das Gefühl des „Andersseins“ bei Kindern beruhe nur auf einer noch nicht
genügenden Ausbildung der Duldsamkeit. Gerade um den Auftrag zur Erziehung
zu Achtung und Toleranz müsse die Lehrerschaft besonders bemüht sein. Die
herkömmliche Lösung des Konflikts, dass die Teilnahme am Gebet fakultativ
gestaltet sei und die Eltern bestimmen könnten, ob ihr Kind am Schulgebet
teilnehmen solle oder nicht, bringe einen vernünftigen Ausgleich der
widersprechenden Rechte und ermögliche beiden Gruppen, ihrer Überzeugung zu
folgen.
Der Brauch, den Unterricht mit einem - selbstverständlich überkonfessionellen -
Gebet zu beginnen und zu beschließen, entspreche sowohl dem Herkommen als
auch dem Charakter der hessischen Gemeinschaftsschule im Sinne des Art. 56 II
HV, die keine „weltliche“ Schule sei, sondern, wie der Antragsgegner des näheren
begründet, auf christlicher Grundlage beruhe und den Kindern ohne konfessionelle
Trennung die Welt des Christentums erschließen und den Gesinnungseinfluss des
Christentums wirksam machen solle. Zum Erziehungsauftrag dieser pluralistischen
Schule gehöre auch von jeher das Schulgebet. Der Antragsteller berufe sich
schließlich zu Unrecht auf die Trennung von Staat und Kirche. Dieses Prinzip, mit
dem das Schulgebet durchaus vereinbar sei, sei kein Grundrecht, und die
einschlägigen Vorschriften der Hessischen Verfassung seien weitgehend durch
gleichlautende Bestimmungen des Grundgesetzes ersetzt worden.
Der Landesanwalt, der sich dem Verfahren angeschlossen hat, beantragt,
die Bescheide des Regierungspräsidenten in Wiesbaden vom 27. Juni 1963 und
vom 24. September 1963 - II 2 b - II b 40 z - 02 - 01 - aufzuheben.
Er hält die Grundrechtsklage des Antragstellers vor Erschöpfung des Rechtsweges
ebenfalls für zulässig, da die Entscheidung des Staatsgerichtshofs nicht nur für
den Antragsteller, sondern darüber hinaus für die staatliche Gemeinschaftsschule
schlechthin Bedeutung habe, und zwar sowohl für die Lehrerschaft und die
Schulaufsicht wie auch für die Schulkinder und deren Erziehungsberechtigten; sie
würde für alle gleichliegenden Fälle gelten.
Zur Sache selbst führt er im wesentlichen folgendes aus: Das in der Klasse des
Antragstellers gesprochene Gebet sei eine religiöse Übung im Sinne von Art. 48 II
HV, der im Verhältnis des Grundrechtsträgers zum Staat gelte. Das Gebet werde
unter der Leitung der Lehrerin und somit im Rahmen der öffentlichen Gewalt der
Schule gegenüber den Schülern gesprochen. Die Abhaltung dieser religiösen
Übung gegen den Willen der Eltern des Antragstellers verstoße gegen Art. 9 und
48 II HV. Denn der Antragsteller werde gezwungen, an dem Gebet teilzunehmen.
Allein schon seine Anwesenheit bei dem Gebet der Mitschüler sei Teilnahme, da er
hierdurch im Sinne dieser religiösen Übung unmittelbar beeinflusst werde und das
Zuhören ohnehin unvermeidbar sei. Zu dieser Anwesenheit werde der
Antragsteller gezwungen. Er habe zwar die Möglichkeit, sich während des Gebets
außerhalb des Klassenzimmers aufzuhalten; das bedeute für ihn jedoch eine
Diskriminierung im Verhältnis zu seinen Schulkameraden. Er müsse den Nachteil
der demonstrativen Absonderung des Einzelnen aus der Gemeinschaft der
Schulklasse und damit einen Makel und damit verbundene psychologische
Belastung auf sich nehmen. Zwang sei nicht nur physischer Zwang, sondern auch
die Androhung eines Übels oder eines unzumutbaren Nachteils. Ein Übel oder ein
Nachteil sei auch der seelische Konflikt oder eine psychologische Zwangslage, die
zu einer nicht gewünschten Entscheidung dränge. Der Zwang, sich für das eine
oder das andere zu entscheiden, greife auch in die Freiheit des Glaubens, des
Gewissens und der Überzeugung ein. Art. 9 HV schütze ebenso die innere Freiheit
wie die äußere Bekenntnis. Das Fernbleiben vom Schulgebet enthalte das
Bekenntnis, den Glauben, dem die religiöse Übung der Schulklasse zugehörig sei,
nicht zu teilen. Andererseits bedeute die Teilnahme an der religiösen Übung das
Bekenntnis zu einer der beiden christlichen Religionen; die innere Ablehnung der
religiösen Übung könne nicht verlautbart werden.
Mit Recht weise der Antragsteller darauf hin, dass Tradition oder Brauchtum nicht
stärker sein könnten als die Verfassung. Ob die Gemeinschaftsschule in Hessen
eine „christliche“ Gemeinschaftsschule sei oder sein solle, sei hier unwesentlich.
Denn auch die christliche Gemeinschaftsschule müsse eine Gemeinschaftsschule
im Sinne der Hessischen Verfassung sein, d.h. eine nicht nach Bekenntnissen und
Weltanschauungen getrennte, sondern für alle Bekenntnisse und
Weltanschauungen gemeinsame Schule, die unter dem Gebot der Toleranz stehe
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Weltanschauungen gemeinsame Schule, die unter dem Gebot der Toleranz stehe
(Art. 56 II HV) und in der die Grundrechte aus Art. 9 und 48 II HV beachtet werden
müssten. In der Demokratie sei auch die Mehrheit an die Grundrechte gebunden.
Dem Staatsgerichtshof lagen Auskünfte des Rektors der …-schule im Frankfurt
(Main) vom 4. Dezember 1964 und vom 18. Juni 1965, eine Auskunft des
Hessischen Kultusministers vom 23. Februar 1965 und die „Handreichung zum
rechten Gebrauch des Schulgebets an den öffentlichen allgemeinbildenden
Schulen in Hessen“, herausgegeben von den Arbeitsgemeinschaften für
evangelischen und katholischen Religionsunterricht in Darmstadt, sowie die
einschlägigen Akten des Regierungspräsidenten in Wiesbaden vor.
II.
Der Antrag ist zulässig.
Das hessische Gesetz über den Staatsgerichtshof vom 12. Dezember 1947 (GVBl.
1948 S. 3, 122) - StGHG - enthält ebenso wenig wie das Gesetz über das
Bundesverfassungsgericht vom 12. März 1951 allgemeine Bestimmungen über die
Prozessfähigkeit. Nach § 14 I StGHG sind die Bestimmungen der
Strafprozessordnung sinngemäß anzuwenden. Auch sie enthält keine allgemeinen
Bestimmungen über die Prozessfähigkeit. Für eine sinngemäße Anwendung der
Strafprozessordnung kommt die Bestimmung in § 374 III in Frage, nach der die
Befugnis zur Erhebung der Privatklage, wenn der Verletzte einen gesetzlichen
Vertreter hat, durch diesen wahrgenommen wird. Daraus folgt, dass der
Antragsteller bis zur Volljährigkeit den Antrag nur durch seinen gesetzlichen
Vertreter stellen kann. Auch wenn die Fähigkeit zur Einlegung einer
Verfassungsbeschwerde von der Ausgestaltung der einzelnen Grundrechte
mitbeeinflusst wird (so BVerfGE 1, 87), so dass bei Verletzung des Rechts der
Freiheit des religiösen Bekenntnisses gemäß Art. 4 GG zu berücksichtigen sei,
dass das Gesetz über die religiöse Kindererziehung vom 15. Juli 1921 besondere
Altersstufen für die freie Wahl eines bestimmten religiösen Bekenntnisses vorsieht,
würde die Prozessfähigkeit des Antragstellers im vorliegenden Verfahren
frühestens mit Vollendung des 12. Lebensjahres eintreten (§§ 5, 6 des
vorgenannten Gesetzes). Er wäre also auch danach zur Zeit noch nicht
prozessfähig. Es können mithin nur seine Eltern als gesetzliche Vertreter den
Antrag für ihn stellen (§ 1629 I BGB; vgl. BVerfGE 10, 59).
Der Antrag entspricht den Erfordernissen des § 46 StGHG. Er bezeichnet die
verletzten Grundrechte und legt die Tatsache dar, aus denen sich die Verletzung
ergeben soll. Er ist zutreffend gegen das Land Hessen gerichtet, da die
Grundrechtsverletzung nach dem Vorbringen des Antragstellers durch eine
Behörde des Landes Hessen begangen sein soll (§ 46 III StGHG). Das Land Hessen
wird durch den Hessischen Ministerpräsidenten vertreten (Art. 103 I Satz 1 HV).
Ein Verfahren vor dem Staatsgerichtshof wegen Verletzung eines Grundrechts
findet in der Regel nur statt, wenn der Antragsteller eine Entscheidung des
höchsten in der Sache zuständigen Gerichts herbeigeführt hat und innerhalb eines
Monats seit Zustellung dieser Entscheidung des Staatsgerichtshof anruft (§ 48 III
Satz 1 StGHG). Vor Erschöpfung des Rechtswegs entscheidet der
Staatsgerichtshof nur, wenn die Bedeutung der Sache über den Einzelfall
hinausgeht, insbesondere mit einer Wiederholung zu rechnen ist und daher eine
allgemeine Regelung erforderlich erscheint (§ 48 I Satz 3 StGHG).
Der Antragsteller hat den Rechtsweg nicht erschöpft. Ihm stand gegen die
Bescheide des Regierungspräsidenten in Wiesbaden vom 27. Juni und 24.
September 1963 die Klage bei dem Verwaltungsgericht zu. Indessen geht die
Bedeutung der vorliegenden Sache über den Einzelfall hinaus. Zwar hat der
Staatsgerichtshof nur über die Frage zu entscheiden, ob durch die Bescheide des
Regierungspräsidenten in Wiesbaden vom 27. Juni und 24. September 1963
Grundrechte des Antragstellers verletzt worden sind. Nicht aber unterliegt seiner
Entscheidung, ob und unter welchen Voraussetzungen das Beten vor dem
Unterricht in Hessens Schulen allgemein zulässig ist oder nicht. Ebenso kann die
Frage der Bindungswirkung seiner Entscheidung nach § 49 I StGHG außer Betracht
zu bleiben. Es kommt vielmehr lediglich darauf an, ob die hierzu treffende
Entscheidung und ihre Gründe sich über den Einzelfall hinaus auf gleich oder
ähnlich gelagerte Sachverhalte in allen Schulen Hessens auswirken können. Dies
ist zu bejahen.
Da der Antrag innerhalb eines Monats seit Zustellung des Widerspruchsbescheids
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Da der Antrag innerhalb eines Monats seit Zustellung des Widerspruchsbescheids
des Regierungspräsidenten beim Staatsgerichtshof eingegangen ist, bedarf die
Frage keiner Entscheidung, ob die in § 48 III Satz 1 StGHG vorgeschriebene
Monatsfrist auch bei unmittelbarer Anrufung des Staatsgerichtshofs eingehalten
werden muss.
Das Recht des Landesanwalts, sich diesem Verfahren anzuschließen, folgt aus §
18 II StGHG.
III.
Der Antrag ist auch begründet.
1. Das im Schuljahr 1962/63 in der Klasse … der …-schule in Frankfurt (Main)
gesprochene Gebet hatte folgenden Wortlaut:
„Wie fröhlich bin ich aufgewacht
wie habe ich geschlafen so sanft die Nacht!
Hab´ Dank im Himmel, o Vater mein,
dass Du hast wollen bei mir sein.
Behüte mich auch diesen Tag,
dass mir kein Leids geschehen mag. Amen.
Lieber Gott,
bewahre uns vor dem Krieg
und schenke uns den Frieden.“
Das Gebet wurde weder auf Anordnung des Schulleiters noch der Klassenlehrerin
gesprochen. Die Kinder beteten an ihren Plätzen stehend gemeinsam ohne
besondere Aufforderung der Lehrerin, die das Gebet, das sie mit den Kindern
eingeübt hatte, mit dem Aussprechen des Anfangswortes einleitete.
Im Lande Hessen fehlt eine gesetzliche Regelung, ebenso eine interne
Verwaltungsanordnung über das Schulgebet, insbesondere eine solche, die ein
Gebet anordnet.
Es ist den Kindern, die nicht beten wollen, von der Lehrerin freigestellt, sich
während des Gebets im Klassenzimmer aufzuhalten, ohne das Gebet
mitzusprechen, oder das Zimmer erst nach dem Gebet zu betreten; eine andere
Wahl haben diese Kinder nicht. Obwohl der Antragsteller im Klassenzimmer das
Gebet mitspricht, um, wie er vorträgt, einer Diskriminierung zu entgehen, sieht er
in jener Alternative eine Verletzung seiner Grundrechte.
2. Nach Art. 9 HV sind Glaube, Gewissen und Überzeugung frei. Diese
Verfassungsbestimmung gewährt unbestritten ein Grundrecht (so auch Zinn-
Stein, Die Verfassung des Hessen, 1954, Anm. 2 zu Art. 9 und Anm. 1 zu Art. 48;
Hamel in Bettermann-Nipperdey-Scheuner, Die Grundrechte, Bd. IV/1, S. 37). Dies
folgt schon daraus, dass Art. 9 HV inhaltlich mit Art. 4 I GG, der im Abschnitt „Die
Grundrechte“ enthalten ist, übereinstimmt. Infolge dieser Übereinstimmung gilt
Art. 9 HV gemäß Art. 142 GG fort (so auch Zinn-Stein, a.a.O., An. 2 zu Art. 9;
Hamel, a.a.O., S. 98).
Nach Art. 48 II HV darf niemand gezwungen werden, an einer religiösen Übung
teilzunehmen. Diese Verfassungsbestimmung, für die Art. 136 IV der Weimarer
Verfassung - WRV - ein Vorbild war und die mit ihm inhaltlich übereinstimmt, ist
eine selbstverständliche Konsequenz der Glaubens- und Bekenntnisfreiheit (so
auch Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reiches, 13. Auf. 1930, An. 4 zu
Art. 136). Aus der Unantastbarkeit der Glaubens- und Gewissenssphäre folgt das
im Abs. 2 des Art. 48 HV enthaltene Verbot. Auch die Freiheit vom Zwang in
Glaubensfragen gehört zum Wesensgehalt des Grundrechts aus Art. 9 HV. Da Art.
48 II HV nur die Anwendung der Glaubens- und Gewissensfreiheit auf einen
besonderen konkreten Sachverhalt regelt, hat auch diese
Verfassungsbestimmung Grundrechtscharakter. Sie normiert in Ergänzung des
Art. 9 HV ein Religion und Weltanschauung betreffendes Grundrecht (so auch Zinn-
Stein, a.a.O., S. 241 unter II 1, Anm. 1 zu Art. 9 und Anm. 1 - 5 zu Art. 48; Hamel,
a.a.O., S. 37 und 59 f.). Da Art. 48 II HV als besonderer Anwendungsfall des Art. 9
HV in Übereinstimmung mit Art. 4 GG und ebenso als besonderer Anwendungsfall
der allgemeinen Handlungsfreiheit des Art. 2 I HV in Übereinstimmung mit Art. 2 I
GG ein Grundrecht gewährleistet, gilt er gemäß Art. 142 GG ebenfalls fort (so auch
Zinn-Stein, a.a.O., Anm. 1 zu Art. 48; Hamel, a.a.O., S. 98).
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Art. 9 und 48 HV werden ihrerseits wieder ergänzt durch Art. 136 III WRV, der
gemäß Art. 140 GG Bestandteil des Grundgesetzes ist (so auch Zinn-Stein, a.a.O.,
Anm. 1 zu Art. 9 und Anm. 6 zu Art. 48).
3. Das Grundgesetz unterscheidet zwar zwischen Grundrechten, die allen
Menschen (Menschenrechten), und solchen, die nur Deutschen zustehen. Es
nennt aber keine Grundrechte, deren Träger nur Volljährige, nicht aber
Minderjährige sein können. Als Kind, Jugendlicher und Heranwachsender besitzt der
junge Mensch - gleichgültig in welchem Alter er steht - in Familie, Schule und Beruf
bereits alle verfassungsmäßigen Grundrechte (Grundrechtsfähigkeit). Dass er sie
vielleicht noch nicht selbst wahrnehmen kann, ändert nichts daran, dass sie ihm
zustehen. Der junge Mensch ist nicht rechtloses Objekt in der Hand seiner
Erziehungsberechtigten, sondern er steht ihnen als Persönlichkeit mit eigenen, von
ihrem Zutun unabhängigen Rechten gegenüber (siehe Heckel-Seipp,
Schulrechtskunde, S. 198; Perschel, RWS 1963, 129 [130]). Insbesondere stehen
die Grundrechte der Glaubensfreiheit (Art. 9 HV, 4 GG) und des Verbots des
Zwangs zur Teilnahme an einer religiösen Übung (Art. 48 II HV, 140 GG, 136 IV
WRV) auch Minderjährigen zu.
Weder im Grundgesetz noch in der Hessischen Verfassung befindet sich eine
Bestimmung darüber, von welchem Alter an eine natürliche Person das ihm
zustehende Grundrecht selbst ausüben darf (Grundrechtsmündigkeit). Die
Ansichten hierüber gehen auseinander. Nach der einen Auffassung gelten für die
Ausübung der Grundrechte die bürgerlich-rechtlichen Vorschriften über die
Geschäftsfähigkeit (so z.B. Maunz-Dürig, GG, Rdnr. 20 ff. zu Art. 19 III und Rdnr. 27
zu Art. 17). Hildegard Krüger (Grundrechtsausübung durch Jugendliche und
elterliche Gewalt, FamRZ 1956, 329 ff.) geht in Anlehnung an bestehende
Vorschriften, denen sie ein allgemeines Prinzip entnimmt, von festen
Altersgrenzen aus und kommt zu dem Ergebnis, spätestens mit dem 18.
Lebensjahr, teilweise schon mit dem 14. Lebensjahr (so bei der Glaubensfreiheit
des Art. 4 GG), solle der Jugendliche grundrechtsmündig sein. Eine dritte Ansicht
vermeidet klare Altersstufen und nimmt jeweils die geistige Reife des
Minderjährigen als Kriterium seiner Grundrechtsmündigkeit (so z.B. OLG München,
NJW 1958, 633; ähnlich BGHZ 29, 33 ff.). Perschel (RWS 1963, 129 [133 ff.]) endlich
lehnt ebenfalls feste Altersgrenzen ab und vertritt die Auffassung, dass eine
Lösung des Problems nur unmittelbar aus dem geltenden Verfassungsrecht
heraus möglich sei und dass alle anderen Rechtsregeln beiseite bleiben müssten.
Die Grundrechte seien einzeln darauf zu untersuchen, welche Einschränkungen sie
sich vom Elternrecht her gefallen lassen müssten. Von dem Ergebnis der
Abwägung des Elternrechts gegen das jeweilige Grundrecht des Jugendlichen
hänge es ab, wer dieses Grundrecht ausüben könne.
Im vorliegenden Falle bedarf es keiner Erörterung, welcher Auffassung der Vorzug
zu geben ist. Denn keine würde ein Recht des Antragstellers, der bei Erhebung der
Grundrechtsklage das …. Lebensjahr vollendet hatte und zur Zeit … Jahre alt ist,
anerkennen, seine Grundrechte aus Art. 9 und 48 II HV selbst auszuüben. Sie
werden mit Recht von seinen Eltern und gesetzlichen Vertretern wahrgenommen.
4. Für die Grundrechte des Art. 9 und Art. 48 II HV ergeben sich aus dem
besonderen Gewaltverhältnis der Schule keine Schranken. Die öffentliche Gewalt
tritt dem Kinde und dessen Eltern hier in der Person der Lehrerin gegenüber. Einen
allgemeinen Satz des Inhalts, dass Grundrechte innerhalb besonderer
Gewaltverhältnisse nicht gelten oder eingeschränkt werden dürfen, enthält das
hierfür nach Art. 31, 142 allein maßgebende Grundgesetz nicht. Es gestattet auch
nicht - ebenso nicht die Hessische Verfassung - eine Einschränkung der beiden
hier in Frage stehenden Grundrechte, weder bei allen noch bei einzelnen
besonderen Gewaltverhältnissen, insbesondere bei dem hier vorliegenden, wie z.B.
hinsichtlich anderer Grundrechte bei anderen besonderen Gewaltverhältnissen in
Art. 12 IV, 17a und 33 V GG. Von denjenigen allgemeinen Einschränkungen
gewisser Grundrechte, die das Grundgesetz und die Hessische Verfassung
generell vorsehen, also auch für das besondere Gewaltverhältnis, wie z.B. Art. 2 I
und II Satz 3 und Art. 5 II GG und in Art. 2 und II HV, werden die beiden
Grundrechte im vorliegenden Falle ebenfalls nicht betroffen. Dies festzustellen ist
notwendig, da die Kultusfreiheit auch ein besonderer Anwendungsfall der
allgemeinen Handlungsfreiheit ist. Eine Beschränkung dieser beiden Grundrechte
ist auch nicht notwendigerweise mit der Natur des hier vorliegenden besonderen
Gewaltverhältnisses verbunden. Denn weder die Erfüllung der sich aus diesem
Gewaltverhältnis ergebenden Pflichten noch die Aufgaben und
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Gewaltverhältnis ergebenden Pflichten noch die Aufgaben und
Ordnungsbedürfnisse der Schule erfordern eine Beschränkung (so auch Hamel,
a.a.O., S. 91 f.; Hamann, Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 2.
Auf. 1960, S. 62 unter Nr. 6, An. 2 zu Art. 4 und Art. B 3 zu Art. 140; Zinn-Stein,
a.a.O., Vorbemerkung IV 1 Abs. 6 vor Art. 1 [S. 94], Anm. 1 zu Art. 9 und Anm. 5
zu Art. 48; Anschütz-Thoma, Handbuch des Deutschen Staatsrechts, 2. Bd. 1932,
S. 684; v. Mangoldt-Klein, Das Bonner Grundgesetz, 2. Aufl. 1957, Anm. II 5 zu Art.
4; Holtkotten in Bonner Kommentar, Anm. 2 d zu Art. 4 und Anm. II 4 zu Art. 140;
Heckel-Seipp, a.a.O., S. 270).
5. Das Prinzip der Trennung von Staat und Kirche, auf das sich der Antragsteller
und der Antragsgegner zur Unterstützung ihrer gegensätzlichen Auffassungen
berufen, gibt nicht schon die Antwort auf die hier zu entscheidende Frage. Die
Trennung von Staat und Kirche ist im Grundgesetz und in der Hessischen
Verfassung nicht mit letzter Konsequenz durchgeführt. So ist z.B. der
Religionsunterricht ordentliches Lehrfach und nicht Angelegenheit der Kirchen und
Religionsgemeinschaften; diese sind überwiegend Körperschaften des öffentlichen
Rechts, nicht Vereine des privaten Rechts. Aber selbst eine Verfassung, die die
Trennung von Staat und Kirche weniger streng durchführte als die Hessische
Verfassung, müsste als eine Verfassung des 20. Jahrhunderts die Glaubens- und
Gewissensfreiheit als Menschenrecht anerkennen und das Verbot des Zwangs zur
Teilnahme an einer religiösen Übung in gleicher Weise und mit gleichem Gehalt
aussprechen. Denn dieses Verbot ist eine notwendige Folge der Glaubens- und
Gewissensfreiheit. Aus dem Prinzip der Trennung von Staat und Kirche kann für die
Beantwortung der hier zu entscheidenden Frage, nichts gewonnen werden, da es
sich hier allein um das Verhältnis des Staatsbürgers zum Staate handelt, nicht um
das Verhältnis des Staates zu den Religionsgemeinschaften.
Es kann im übrigen auch dahinstehen, ob das in Frage stehende Gebet mit dem
Prinzip der Trennung von Staat und Kirche, so wie es in der Hessischen Verfassung
anerkannt und durchgeführt ist, nicht vereinbar ist. Ebenso kann die Frage offen
bleiben, ob ungeachtet der Übernahme des weitaus größten Teils der
Bestimmungen der Weimarer Verfassung über die Religionsgesellschaften in das
Grundgesetz das Verhältnis zwischen Staat und Kirche nach dem Grundgesetz ein
anderes ist als das bisher zwischen Staat und Kirche nach der Weimarer
Verfassung geltende, da es sich hier um das Verhältnis des Staatsbürgers zum
Staat handelt. Das Bundesverfassungsgericht hat in dem sog. Konkordatsurteil
vom 26. März 1957 (BVerfGE 6, 309 [343]) ausdrücklich unerörtert gelassen, ob
sich heute infolge der Neugestaltung des Verhältnisses von Staat und Kirche eine
ganz andere staatskirchenrechtliche Lage darbietet (dafür Smend, ZevKR 1951,
Bd. 1 S. 4 … und Staatsrechtslehrertagung in Marburg, VVDStRL, Bd. 11, S. 153
ff.; dagegen BVerwG, Urteil vom 1. August 1958, BVerwGE 7, 189 [193]; BGH,
Urteil vom 28. Oktober 1955 - NJW 1956, 232; Scheffler, Die Stellung der Kirche im
Staat nach Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 WRV, S. 105 f., 121 und 138).
6. Für ihre gegensätzlichen Auffassungen haben sich sowohl der Antragsteller als
auch der Hessische Ministerpräsident schließlich auf das Urteil des United States
Supreme Court vom 25. Juni 1962 in Sachen Engel v. Vitale bezogen. Dort erklärte
es das Gericht für unvereinbar mit dem verfassungsrechtlichen Verbot des
establishment of religion (gesetzliche Erhebung einer Konfession zur Staatsreligion
bzw. Staatskirche), dass die Schüler öffentlicher Schulen des Bundesstaates New
York - vorbehaltlich ihrer ausdrücklichen Befreiung von der Teilnahme - dazu
angehalten wurden, zur Eröffnung des täglichen Unterrichts und in Anwesenheit
eines Lehrers ein von der Schulbehörde des Bundesstaates New York verfasstes,
konfessionell neutrales Gebet zu sprechen. Zugrunde lag eine auf dem Gesetz
fußende Anweisung einer amtlichen Dienststelle, zu Beginn jedes Schultages im
Beisein eines Lehrers das Gebet von jeder Schulklasse laut aufzusagen. Zur
Begründung führte das Gericht u.a. aus, dass dem verfassungsrechtlichen Verbot
das Ziel zugrunde liege, den ureigensten Bereich des menschlichen Gewissens vor
allen Reglementierungen von hoher Hand zu bewahren. Der Supreme Court setzt
sich auch mit dem Einwand auseinander, das dort in Frage stehende Gebet sei
seinem Inhalt nach überkonfessionell und die Beteiligung an ihm sei in das
Belieben des Schülers gestellt. Das Gericht lässt diesen Einwand nicht gelten, da
er wohl gegenüber der free exercise clause, nicht aber gegenüber der
establishment clause erhoben werden könne, die anders als jene keinen
unmittelbaren staatlichen Zwang voraussetze. In einer späteren Entscheidung hat
der Supreme Court das Beten des Vater Unser in öffentlichen Schulen ebenfalls
für unvereinbar mit der establishment clause gehalten, die dem Staat nicht nur
verbiete, eine Religion vor einer anderen zu bevorzugen, sondern vielmehr jede
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verbiete, eine Religion vor einer anderen zu bevorzugen, sondern vielmehr jede
Förderung der Religion durch den Staat untersage. Ein derart allgemeines Verbot
enthält die Hessische Verfassung nicht, die in Art. 57 I Satz 1 (Art. 7 III GG) den
Religionsunterricht als ordentliches Lehrdach bestimmt, vorbehaltlich dessen, dass
über die Teilnahme des Kindes am Religionsunterricht der Erziehungsberechtigte
entscheidet (Art. 58 Satz 1 HV; Art. 7 II GG). Bemerkenswert ist die Feststellung
des Supreme Court, dass die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika auf
einer religionsfreundlichen Grundeinstellung beruhe; dennoch sei nach der
establishment clause jede Unterstützung der Religion, nicht nur die - wenn auch
mittelbare - sachliche oder finanzielle, sondern auch eine rein geistig-moralische
Unterstützung durch den Staat schlechthin unzulässig; ihm sei jeden Hineinwirken
in den religiösen Bereich verboten.
Der Sachverhalt, den der Supreme Court in der Sache Engel v. Vitale zu beurteilen
hatte, ist nun zwar nahezu der gleiche wie der vorliegende: Zu Unterrichtsbeginn
wurde ein konfessionell neutrales Gebete gesprochen, und die Schüler konnten
sich während des Gebets schweigend verhalten oder sich außerhalb des
Klassenzimmers aufhalten. Die Entscheidung des Supreme Court beruht jedoch
auf einer anderen rechtlichen Grundlage, der establishment clause, bei der es im
Gegensatz zur Klausel über die freie Religionsausübung nicht des Nachweises
bedarf, dass unmittelbar Zwang ausgeübt wird. Seine Entscheidung hielt der
Supreme Court auch mit jenem Grundrecht der Unionsverfassung für vereinbar,
den er selbst mit den Worten umschrieben hat: „We are religious people, whose
institutions presuppose a Supreme Beeing“.
Die Vereinigten Staaten nehmen in ihrer Rechtsordnung auf die Religion
besondere Rücksicht, auch auf die nichtchristliche. Die Unionsverfassung sieht im
Glauben eine der Grundlagen des Staates. Für die Auslegung der Establishment
clause jedoch waren alle diese Umstände nicht entscheidend (siehe hierzu Bayer,
Das Prinzip der Trennung von Staat und Kirche als Problem der neueren
Rechtsprechung des United States Supreme Court, in der Zeitschrift für
ausländischen öffentliches Recht und Völkerrecht, Bd. 24 Nr. 2, April 1964).
7. Die Entscheidung dieses Rechtsstreits kann nur aus den
Grundrechtsbestimmungen der Art. 9 und 48 II HV, aus deren Auslegung und
Subsumtion auf den vorliegenden Sachverhalt gewonnen werden.
Das seinem Wesen nach vorstaatliche und überpositive Grundrecht der
Glaubensfreiheit (Art. 9 HV) ist eines der ältesten Grundrechte. Es gehört zu den
Menschenrechten, die im natürlichen Recht wurzeln und daher vom positiven
Recht nicht geschaffen werden, sondern ihm vorgegeben sind. Ihm wohnt nicht ein
spezifisches antikirchliches, gar antichristliches Element inne. Die Glaubensfreiheit
kann auch darin bestehen, keinen oder einen religionsfeindlichen Glauben zu
haben. Sie betrifft also nicht nur Religionen, sondern auch Weltanschauungen, und
zwar sowohl areligiöse und religionsfeindliche, z.B. Atheismus, Materialismus,
Monismus, als auch religionsfreie, z.B. Skeptizismus, Pantheismus (siehe Zinn-
Stein, a.a.O., Anm. 2 und 3 zu Art. 9; Hamann, a.a.O., Anm. A 2 zu Art. 4; v.
Mangoldt-Klein, a.a.O., Anm. II 3 zu Art. 4; Wernicke in Bonner Kommentar, Anm. II
1 b zu Art. 4).
Wäre das Grundrecht der Glaubensfreiheit nur das Recht, zu glauben oder nicht zu
glauben, was man will, oder eine beliebige Weltanschauung zu haben oder nicht zu
haben, so hätte es nur ideologischen Wert. Denn es schützte dann lediglich einen
nicht erfassbaren und nicht erkennbaren inneren Vorgang der menschlichen
Vorstellungswelt, der zum forum internum gehört und einer rechtlichen Regelung
nicht zugänglich ist. Seinen wesentlichen Gehalt gewinnt das Grundrecht der
Glaubensfreiheit erst durch das Recht zur Manifestation des Glaubens, d.h. durch
die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses, die Freiheit,
sagen zu dürfen, was man glaubt oder nicht glaubt, eine Freiheit, die in Art. 4 I GG
ausdrücklich normiert und in Art. 9 HV als Ausfluss der Glaubens- und
Gewissensfreiheit inbegriffen ist.
Die Bekenntnisfreiheit ist kein eigenes Grundrecht mit besonderem Wesensgehalt,
sondern Teil des einheitlichen Grundrechts aus Art. 9 HV. Sie vollendet die
Glaubens- und Gewissensfreiheit (Hamel, a.a.O., S. 60). Das Bekenntnis ist
begrifflich die in den verschiedenartigsten Formen mögliche Manifestation des
Glaubens oder Unglaubens, der weltanschaulichen Überzeugung oder der
Gewissensentscheidung. Hamel (a.a.O., S. 60) nennt das Bekennen die praktische
Vollziehung der Erkenntnisse des Glaubens und Gewissens.
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Die Garantie der Bekenntnisfreiheit erstreckt sich auf alle denkbaren Formen
religiöser oder weltanschaulicher, auch antireligiöser Anschauungen und ebenso
auf die religiöse und weltanschauliche Indifferenz (siehe auch Hamann, a.a.O.,
Anm. B 1 und 3 zu Art. 4; Anschütz, a.a.O., Anm. 4 zu Art. 135; v. Mangoldt-Klein,
a.a.O., Anm. III 1 zu Art. 4; Wernicke in Bonner Kommentar, Anm. II 1 b und c zu
Art. 4; BVerwG, Urteil vom 1. August 1958, BVerwGE 7, 189 [195]; Hamel, a.a.O.,
S. 64). Freiheit des Bekenntnisses bedeutet auch, dass es nicht erzwungen werden
darf.
Die Freiheit des Bekenntnisses schließt das Recht ein, eine Offenbarung jeglicher
religiöser oder weltanschaulicher Überzeugung oder Gewissensentscheidung zu
verweigern, diese also zu verschweigen (sogenannte negative Bekenntnisfreiheit,
Freiheit des Schweigens, Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 136 III Satz 1 WRV).
Sie erlaubt nicht nur auszusprechen, sondern auch zu verschweigen, dass und was
man glaubt oder nicht glaubt (BVerfG in NJW 1961, 211 = DÖV 1960, 28). Das
Recht zum Schweigen ist ein begrifflich notwendiger Bestandteil der
Bekenntnisfreiheit. Es gehört zum Wesensgehalts dieses Grundrechts (Zinn-Stein,
a.a.O., Anm. 2 zu Art. 9; Hamann, a.a.O., Anm. B 2 und 3 zu Art. 4; Hamel, a.a.O.,
S. 58, 60; Anschütz, a.a.O., Anm. 3 zu Art. 136 und Anm. 4 zu Art. 135; Anschütz-
Thoma, a.a.O., S. 684; v. Mangoldt-Klein, a.a.O., Anm. III 1 zu Art. 4; Wernicke in
Bonner Kommentar Anm. II 1 c zu Art. 4).
Dieses Recht zum Schweigen gilt unbedingt und ausnahmslos. Da es nicht in
fremde Rechtskreise eingreift, ist es weder eingeschränkt noch einschränkbar.
Dem Staat ist es grundsätzlich untersagt, in den durch die Religionsfreiheit
umschriebenen Freiheitsbereich einzugreifen. Jeder Versuch, durch andere als rein
geistige Mittel die Offenbarung einer religiösen oder weltanschaulichen
Überzeugung herbeizuführen, ist unbedingt und ohne jeden Vorbehalt einer
Beschränkung verboten. Jede Ausübung von Zwang zum Zwecke solcher
Offenbarung ist ausgeschlossen. Die garantierte Freiheit des Schweigens besteht
nicht nur gegenüber dem Staat, sondern auch gegenüber den anderen
Rechtsgenossen (siehe hierzu Zinn-Stein, a.a.O., Anm. 5 zu Art. 48; Hamann,
a.a.O., Anm. B 2 und 3 zu Art. 140; Hamel, a.a.O., S. 58 ff., Anschütz, a.a.O., Anm.
3 zu Art. 136; Fischer, Die Trennung von Staat und Kirche, S. 94).
Der Auffassung, dass das Recht zum Schweigen nicht eingeschränkt ist, steht die
Vorschrift in Art. 136 III Satz 2 WRV (Art. 140 GG) nicht entgegen. Selbst wenn die
Beantwortung der Frage nach der Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft
nicht verweigert werden darf, so bezieht sich diese Frage nur auf die äußere
mitgliedsmäßige Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft, nicht aber auf die
innere religiöse oder weltanschauliche Überzeugung, die sich mit der äußeren
Zugehörigkeit durchaus nicht zu decken braucht. Ein Bekenntnis dieser
Überzeugung wird nicht mit der Beantwortung der Frage herbeigeführt; denn für
die Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft können z.B. auch berufliche oder
gesellschaftliche Gründe bestimmend sein.
Auch die Vorschriften, die es einem Schwurpflichtigen gestatten, den Eid mit oder
ohne religiöse Beteuerung oder Beteuerungsformel zu leisen, berühren das
ausnahmslose Recht zum Schweigen nicht, denn der Schwurpflichtige offenbart
mit seiner Entscheidung nicht zwangsläufig seine religiöse oder weltanschauliche
Überzeugung. Für seine Entscheidung können ganz andere Umstände maßgebend
sein. Selbst religiöse Mensche ja ganze Religionsgemeinschaften (Sekten) lehnen
es nicht selten ab, bei der Eidesleistung Gott anzurufen.
8. Der in Art. 48 I HV gewährleisteten Kultusfreiheit, einem Anwendungsfall der
allgemeinen Handlungsfreiheit, sind zwar die durch Art. 2 I GG und Art. 2 I Satz 2
HV normierten Schranken gesetzt. Das in Art. 48 II HV enthaltene Verbot des
Zwangs dagegen kann keinen gesetzlichen oder überpositiven Einschränkungen
unterworfen sein. Das Grundrecht der Glaubens- und Gewissensfreiheit würde
sonst in seinem Wesensgehalt angetastet (Art. 19 II GG). Das Verbot des Zwangs
gilt unbedingt und ohne jeden Vorbehalt einer Beschränkung. Unter keinen
Umständen und aus keinem Grunde darf von der öffentlichen Hand Zwang
ausgeübt werden (Hamel, a.a.O., S. 59, 61).
a) Der Begriff der Teilnahme in Art. 48 II HV ist kein absoluter. Er findet sich noch
nicht in dem „Aufruf des Rates der Volksbeauftragten“ vom 12. November 1918
(RGBl. S. 1303). Unter Nr. 5 dieses Aufrufes heißt es: „Die Freiheit der
Religionsausübung wird gewährleistet. Niemand darf zu einer religiösen Handlung
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Religionsausübung wird gewährleistet. Niemand darf zu einer religiösen Handlung
gezwungen werden“. Dagegen ist er in Art. 136 I WRV enthalten und, da diese
Vorschrift gemäß Art. 140 GG Bestandteil des Grundgesetzes geworden ist, auch
in diesem.
Dem Begriff der Teilnahme in Art. 48 II GV wird man nur gerecht, wenn man für
seine Auslegung entscheidend ansieht, welchen Schutz dieses Grundrecht
gewährleisten will, also die ratio legis. Den gleichen Grundsatz haben Reichsgericht
und Bundesgerichtshof bei der Auslegung des Tatbestandsmerkmals der
Teilnahme in den §§ 115, 125 StGB angewendet. Dieser Begriff der Teilnahme ist in
Rechtsprechung und Schrifttum sehr weit ausgelegt worden (siehe hierzu Schwarz-
Dreher, StGB, Anm. 2 zu § 115 und II 5 zu § 125; Leipziger Kommentar, Anm. IV zu
§ 115 und Anm. II 5 zu § 125; Dalcke-Fuhrmann-Schäfer, StGB, Anm. 4 zu § 115
und Anm. 5 zu § 125). Bei einer der ratio legis folgenden Auslegung besteht die
Teilnahme im Sinne des Art. 48 II HV in der körperlichen und räumlichen
Anwesenheit während einer religiösen Übung, auch wenn der Betroffene sich nicht
an ihr beteiligt oder sie sogar innerlich ablehnt. Denn auch eine solche
Anwesenheit, wenn sie nicht gewollt ist, verträgt sich nicht mit der Glaubens- und
Gewissensfreiheit. Der Betroffene wird wider seinen Willen einer unmittelbaren
Beeinflussung im Sinne dieser religiösen Übung ausgesetzt.
b) Dass das hier in Frage stehende Gebet trotz seiner konfessionellen Neutralität
eine religiöse Übung ist, ist offenkundig. Der Antragsteller wird gezwungen, an
dieser religiösen Übung teilzunehmen. Unter Zwang im Sinne des Art. 48 II HV
(Art. 136 IV WRV) ist nicht nur (so Hamel, a.a.O., S. 59) die Androhung oder
Zufügung materieller Nachteile zu verstehen. Diese Begrenzung ist zu eng und
wird dem Sinn und Zweck des Verbots nicht gerecht. Denn Zwang ist hier nicht
identisch mit der Nötigung im Sinne des § 240 StGB, sondern ist Beugung eines
fremden Willens. Der Betroffene handelt infolge dieser Beugung nicht seinem
wahren Willen gemäß. Das gilt hier für den Antragsteller. Auch der Antragsgegner
behauptet nicht, dass die Teilnahme des Antragstellers am Gebet dessen freiem
Willen entspreche; er bestreitet aber, dass dieser Wille gebeugt werde, da der
Betroffene sich dem Zwang in zumutbarer Weise entziehen könne.
Obwohl die Teilnahme des Antragstellers am Gebet nicht seinem wahren Willen
entspricht, würde in der Tat nicht anerkannt werden können, dass er zur Teilnahme
gezwungen werde, wenn er die Möglichkeit hätte, dem Gebet in zumutbarer Weise
fernzubleiben. Der Antragsteller sieht sich zur Teilnahme am Schulgebet dadurch
gezwungen, dass ihm, um der Teilnahme zu entgehen, lediglich die Möglichkeit
offen steht, erst nach dem Gebet das Klassenzimmer zu betreten, dass ihm dies
aber wegen der damit verbundenen Diskriminierung und psychischen Belastung
nicht angesonnen werden könne.
Der Staatsgerichtshof könnte mangels eigener ausreichender Sachkunde diese
Frage nicht ohne Hinzuziehung pädagogischer und psychologischer
Sachverständiger beantworten. Er sieht sich hierzu aber nicht gehalten, weil er der
Auffassung ist, dass dem Antragsteller aus einem anderen Grunde nicht
zugemutet werden kann, sich während des Gebets außerhalb des Klassenzimmers
aufzuhalten. Das würde ihn nämlich dazu zwingen, seine abweichende
Überzeugung Tag für Tag offen zu bekunden. Dieser Zwang verletzt ihn in seinem
Grundrecht der negativen Bekenntnisfreiheit. Da das Gebet im Rahmen des
besonderen Gewaltverhältnisses der Schule gesprochen wird und Art. 48 II HV den
Bürger in seinem Verhältnis zum Staat schützen will, wird der Antragsteller durch
die hier in Frage stehende religiöse Übung in dem ihm durch Art. 48 II HV
gewährten Grundrecht verletzt. Damit ist zwangsläufig eine Verletzung des dem
Antragsteller zustehenden Grundrechts aus Art. 9 HV verbunden, da das Verbot
des Zwangs zur Teilnahme an einer religiösen Übung nur ein Ausfluss und eine
notwendige Folge der Glaubens- und Gewissensfreiheit ist. Überdies liegt auch in
der nicht gewollten Teilnahme am Gebet eine Verletzung dieser Freiheit.
9. Dem Grundrecht des Antragstellers, seine religiöse oder weltanschauliche
Überzeugung zu verschweigen und nicht zur Teilnahme an einer religiösen Übung
gezwungen zu werden, kann das im selben Art. 48 I HV gewährte Grundrecht auf
ungestörte Religionsausübung nicht entgegengehalten werden. Auch dieses
Grundrecht stimmt mit dem des Art. 4 II GG überein und ist gemäß Art. 142 GG in
Kraft (so auch Zinn-Stein, a.a.O., Anm. 1 zu Art. 48). Doch ist das Grundrecht der
freien Religionsausübung nicht nur ein Ausfluss der Glaubens- und damit der
Bekenntnisfreiheit, sondern auch ein Anwendungsfall der allgemeinen
Handlungsfreiheit, die den durch Art. 2 I GG und Art. 2 I HV normierten
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Handlungsfreiheit, die den durch Art. 2 I GG und Art. 2 I HV normierten
Beschränkungen unterliegt. Die ungestörte Religionsausübung ist nur insoweit
gewährleistet, als durch sie die Rechte anderer nicht verletzt und die
verfassungsmäßige Ordnung des Gemeinwesens nicht beeinträchtigt wird. Zu
dieser Ordnung gehört, wie allgemein anerkannt ist (siehe u.a. Zinn-Stein, a.a.O.,
Anm. 3 a und b zu Art. 2, Anm. 5 zu Art. 48; v. Mangoldt-Klein, a.a.O., Anm. III 5 zu
Art. 4, ferner Anm. zu Art. 140 GG, 136 WRV), auch die Verbürgung der Menschen-
und Grundrechte. Die Kinder, die zu beten, also ihre Religion auszuüben wünschen,
können das überall da und zu jeder Zeit tun, sei es zu Hause, sei es im
Gotteshaus, sei es wo und wann sonst immer, wenn Rechte anderer dadurch nicht
verletzt werden. Diese Beschränkung ist also nur lokaler oder temporärer Natur.
Das Grundrecht des Antragstellers auf Verschweigen seiner Überzeugung aber
wird, wenn er Zwang erleiden muss, in seinem Wesensgehalt verletzt: Für ihn gibt
es kein zumutbares Ausweichen. Darum können die anderen Kinder der Klasse, die
der Antragsteller besucht, auf dem Beten vor dem Unterricht nicht bestehen.
10. Auch der Umstand, dass die hessische Volksschule etwa eine christliche
Gemeinschaftsschule sei, steht der getroffenen Entscheidung nicht entgegen. Der
Antragsgegner hat die hessische Volksschule zwar nicht als christliche
Gemeinschaftsschule bezeichnet, aber behauptet, sie beruhe auf christlicher
Grundlage. Das folge aus der Entstehungsgeschichte der Vorschrift des Art. 56 II
HV sowie daraus, dass diese Schulform die christliche Simultanschule fortsetze,
die vor 1945 im größten Teil des Landesgebietes bestanden habe. Die dem
Verfassungsentwurf zustimmende Mehrheit der Verfassungberatenden
Landesverfassung sei darüber einig gewesen, dass die als Regel gewählte
Schulform den Kindern ohne konfessionelle Trennung die Welt des Christentums
erschließen und den Gewinnungseinfluss des Christentums wirksam machen solle.
Es kann freilich nicht übersehen werden, dass die Kultur des Abendlandes im
wesentlichem im Christentum wurzelt und durch dieses geformt wurde und auch
noch in der Gegenwart der Unterricht an den öffentlichen Schulen diese Herkunft
erkennen lässt und bei der sittlichen Erziehung der Jugend Werte zum Leitbild
nimmt, die dem Christentum im besonderen Maße eigen sind. Das macht eine
Schule aber noch nicht zur christlichen Gemeinschaftsschule. Auch der Umstand,
dass der Religionsunterricht ordentliches Lehrfach ist (Art. 57 I Satz 1 HV),
rechtfertigt nicht, in den hessischen Schulen christliche Gemeinschaftsschulen zu
sehen. Denn diese Verfassungsbestimmung beschränkt den Religionsunterricht
nicht auf die christlichen Religionen, sondern gilt auch für nichtchristliche
Religionen und ist sinngemäß auf Weltanschauungsgemeinschaften anzuwenden
(Art. 57 II HV), und der Religionsunterricht ist fakultativ (Art. 58 Satz 1 HV). Für die
Annahme, dass die hessische Schule eine christliche Gemeinschaftsschule sei,
bietet die Hessische Verfassung keinen Anhalt.
Aus den Materialien zur Hessischen Verfassung ergibt sich, dass in der
Verfassungberatenden Landesversammlung zwar über den Begriff der
Bekenntnisschule Einhelligkeit bestand, dass aber über die Begriffe der
Gemeinschaftsschule, der christlichen Gemeinschaftsschule und der weltlichen
Schule die Ansichten zum Teil erheblich auseinandergingen. Dennoch stellt die
Ablehnung eines Antrages der LDP eindeutig klar, dass die hessische Schule nach
dem Willen der Mehrheit der Verfassungberatenden Landesversammlung keine
christliche Gemeinschaftsschule sein sollte. Die LDP hatte nämlich im
Verfassungsausschuss der Verfassungberatenden Landesversammlung
beantragt, dem damaligen Art. 38 II folgenden Nachsatz anzufügen:
„Dabei ist in allen Unterrichtsfächern auf die Darlegung des religiösen und geistig-
sittlichen Gehalts des Christentums und seiner Bedeutung für die Entwicklung der
abendländischen Menschheit besonders Bedacht zu nehmen (Christliche
Simultanschule)“.
Dieser Antrag wurde abgelehnt. Das veranlasste den Abg. Euler (LDP), in der
Schlusserklärung der 2. Lesung folgendes zu betonen: „
„Im Schulwesen ist uns wesentlich, dass der neue Artikel 56 Absatz 2 zwar die
Gemeinschaftsschule bringt, aber nicht die christliche Gemeinschaftsschule, und
es ist das die christliche Gemeinschaftsschule Auszeichnende, dass neben dem
obligatorischen Religionsunterricht der gesamte übrige Unterricht in den
geeigneten Fächern derart ausgestaltet ist, dass der geistig-sittliche Gehalt des
Christentums in einer der Entwicklung der abendländischen Menschheit
angemessenen Weise zur Darstellung gelangt. Wir glauben, es ist richtig, in den
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angemessenen Weise zur Darstellung gelangt. Wir glauben, es ist richtig, in den
hierfür geeigneten Fächern den christlichen Charakter des Abendlandes, seiner
Geschichte zur Darstellung zu bringen, weil andernfalls die ganze historische
Entwicklung Europas, wie sie heute gegeben ist, unverständlich wäre. Es ist
bezeichnend, dass sich in dieser Frage die CDU der SPD angeschlossen und es für
richtig gehalten hat, prinzipiell die Gemeinschaftsschule, nicht aber die christliche
Gemeinschaftsschule in der Verfassung zu verankern“.
Daher bezeichnet die Hessische Verfassung die hessische Schule auch nicht als
christliche Gemeinschaftsschule, sondern als Gemeinschaftsschule schlechthin
(Art. 56 II) im Gegensatz zu anderen Landesverfassungen. In Art. 16 I Satz 1 der
Verfassung des Landes Baden-Württemberg heißt es:
„In christlichen Gemeinschaftsschulen werden die Kinder auf der Grundlage
christlicher und abendländischer Bildungs- und Kulturwerte erzogen.“
Art. 32 I der Bremer Verfassung lautet:
„Die allgemein bildenden öffentlichen Schulen sind Gemeinschaftsschulen mit
bekenntnismäßig nicht gebundenem Unterricht in Biblischer Geschichte auf
allgemein christlicher Grundlage“.
Was die Hessische Verfassung unter der Gemeinschaftsschule versteht, sagt sie
klar und eindeutig. An allen hessischen Schulen werden die Kinder aller religiösen -
also nicht nur der christlichen - Bekenntnisse und Weltanschauungen in der Regel
gemeinsam erzogen (Art. 56 II HV). Der Lehrer hat in jedem Fach auf die religiösen
und weltanschaulichen Empfindungen aller Schüler Rücksicht zu nehmen und die
religiösen - also nicht nur die christlichen - und weltanschaulichen Auffassungen
sachlich darzulegen (Art. 56 III Satz 2). Nach der Hessischen Verfassung hat er
somit nicht nur die Welt des Christentums zu erschließen und nicht den
Gesinnungseinfluss des Christentums, sondern z.B. auch den Einfluss des
Humanismus und der Aufklärung wirksam zu machen. Auch andere Religionen und
Weltanschauungen haben zur Schaffung und Vertiefung der sittlichen Werte
beigetragen, die das Christentum vertritt, oder haben schon vor ihm diese Werte
anerkannt. Von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang auch, dass bei der
Umschreibung des Ziels der schulischen Erziehung (Art. 56 IV HV) jede
Bezugnahme auf ein religiöses Bekenntnis und eine Weltanschauung fehlt. Es trifft
also nicht zu, dass der Aufbau des Schulwesens, der Unterricht und die Erziehung
auf dem Christentum beruhten, womit Stein (NJW 1950, 658) u.a. seine Auffassung
begründet, die hessische Verfassung sei eine christliche Simultanschule. Es
widerspricht daher durchaus nicht dem Sinn und Geist der Hessischen Verfassung,
es mit den sich aus Art. 9 und 48 II HV ergebenden Grundrechten für unvereinbar
zu halten, den Unterricht, mit einem - wenn auch konfessionell neutralen, so doch
theistischen - Gebet zu beginnen. Das bedeutet keineswegs, dass in diesem Fall in
dem Bereich der Schule alle denkbaren, sich aus dem Unterschied der
Bekenntnisse und Weltanschauungen ergebenden Besonderheiten berücksichtigt
würden. Es handelt sich im vorliegenden Falle nicht nur um eine Besonderheit,
sondern um die grundsätzlichen Fragen der negativen Bekenntnisfreiheit und des
Zwangs zur Teilnahme an einer religiösen Übung. Auf die Wahrung dieser
Grundrechte haben auch die Eltern Rücksicht zu nehmen, die das Schulgebet
wünschen (Art. 2 I Satz 2 HV). Diese Eltern haben anderweit die mannigfaltigsten
Möglichkeiten, ihre Kinder in ihrem religiösen Bekenntnis und im Gottesglauben zu
erziehen. Das Gebet könnte, ohne das Grundrecht eines Schülers zu verletzen, auf
den Religionsunterricht beschränkt werden. Es wäre verfassungsrechtlich auch
unbedenklich, den Unterricht mit einem Lied, Gedicht oder Spruch zu beginnen,
die Ehrfurcht und Nächstenliebe, Achtung und Duldsamkeit, Rechtlichkeit und
Wahrhaftigkeit siehe Art. 56 IV HV), Tugenden edlen Menschentums, preisen.
Zinn-Stein bezeichnen die hessische Schule deshalb als eine christliche
Simultanschule, weil sie den Kindern den Zugang zur Welt des Christentum
erschließe und den Gesinnungseinfluss des Christentums wirksam mache (Anm. 8
zu Art. 56 HV; Stein in NJW 1950, 658). So eng begrenzt ist die Aufgabe der
hessischen Schule aber nach der Hessischen Verfassung nicht. Wenn sie in Art. 56
II erklärt, dass an allen hessischen Schulen die Kinder „aller religiösen
Bekenntnisse und Weltanschauungen“ in der Regel gemeinsam erzogen werden,
dann ergibt sich eben daraus, dass den Kindern durch eine sachliche Darlegung
der religiösen und weltanschaulichen Auffassungen (Art. 56 III HV) der Zugang zu
allen religiösen Bekenntnissen und Weltanschauungen erschlossen und deren
Gesinnungseinfluss dargelegt - nicht wirksam gemacht - werden soll. Der Ansicht
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Gesinnungseinfluss dargelegt - nicht wirksam gemacht - werden soll. Der Ansicht
von Zinn-Stein kann daher nicht gefolgt werden. Warlo (Neues Hessisches
Schulrecht, S. 19) begnügt sich mit der Behauptung, dass die
Gemeinschaftsschule als christliche Gemeinschaftsschule zu führen sei, werde
allgemein anerkannt, wenn es auch in der Verfassung nicht wörtlich gesagt sei;
denn es bestehe bisher tatsächlich nur die christliche Gemeinschaftsschule. Dieser
Meinung steht aber der klare Wortlaut der Hessischen Verfassung entgegen.
Heckel-Seipp (a.a.O., S. 46) begründen ihre Ansicht, dass in Hessen eine
christliche Gemeinschaftsschule bestehe, lediglich mit dem Hinweis auf
Verfassung und Kirchenvertrag.
Art. 15 I des Vertrages des Landes Hessen mit den Evangelischen Landeskirchen
in Hessen vom 18. Februar 1960, dem der Landtag durch das Gesetz vom 10. Juni
1960 (GVBl S. 54) zugestimmt hat, lautet:
„Die öffentlichen Schulen sind Gemeinschaftsschulen auf christlicher Grundlage. In
ihnen werden die Schüler ohne Unterschied des Bekenntnisses und der
Weltanschauung zusammengefasst. In Erziehung und Unterricht sollen auch die
geistigen und sittlichen Werte der Humanität zur Geltung kommen. Auf die
Empfindungen Andersdenkender ist Rücksicht zu nehmen“.
Der Antragsgegner sieht in der Zustimmung des hessischen Gesetzgebers zu Art.
15 I des Kirchenvertrages eine authentische Interpretation des Begriffs der
Gemeinschaftsschule in Art. 56 II HV. Folgte man dieser Ansicht, so würde diese
Interpretation besagen, dass schon die Verfassungsnorm des Art. 56 II und III HV
gewandelt sei und dass der Kirchenvertrag, da der Verfassungstext unverändert
geblieben ist, die bisher verborgende wahre Rechtslage jetzt richtig formuliert
habe. Es sind aber keinerlei Anhaltspunkte dafür erkennbar, dass die
Verfassungsnorm des Art. 56 II und III HV eine Wandlung erfahren hätte. Sollte es
sich jedoch darum handeln, dass der Kirchenvertrag selbst Bestandteil der
gewandelten Verfassungswirklichkeit sei, so würde sich die Frage nach der
Möglichkeit einer Änderung der Verfassung durch die Wirklichkeit erheben.
Indessen kann von einer gewandelten Verfassungswirklichkeit im Lande Hessen
nicht die Rede sein. Allein schon die in der Auskunft des Hessischen
Kultusministers vom 23. Februar 1965 mitgeteilten Tatsachen beweisen, dass die
Verfassungswirklichkeit seit dem Inkrafttreten der Verfassung sich nicht verändert
hat (siehe zu allem Scheffler, Die Stellung der Kirche im Staat nach Art. 140 GG in
Verbindung mit Art. 137 WRV, S. 91/92; v. Brünneck in DÖV 1964, 701 hält es
ebenfalls für nicht unbedenklich anzunehmen, dass die hessische
Gemeinschaftsschule auf christlicher Grundlage beruhe).
Da also die hessischen öffentlichen Schulen nicht als christliche
Gemeinschaftsschulen bezeichnet werden können, kann auch nicht mit Erfolg
geltend gemacht werden, dass das Schulgebet ein notwendiger Bestandteil des
Schulunterrichts und daher schon deshalb mit der Hessischen Verfassung
vereinbar sei. Auch der Hinweis auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom
26. März 1957 (BVerfGE 6, 309 [339]), soweit darin die Auffassung vertreten wird,
dass unter bestimmten Voraussetzungen der Zwang zum Besuch der
Bekenntnisschule eines anderen Bekenntnisses die Glaubens- und
Gewissensfreiheit nicht beeinträchtigt, ist damit gegenstandslos.
11. Brauchtum und Herkommen können die Grundrechte nicht brechen. Überdies
kann nach der erwähnten Auskunft des Hessischen Kultusministers von einem das
hessische Schulwesen beherrschenden Brauchtum oder einer allgemeinen
Tradition, wie sie der Antragsgegner meint, nicht gesprochen werden. Nach dieser
Auskunft wird in „fast“ allen hessischen Volksschulen ein Anfangsgebet zumeist
regelmäßig, gelegentlich auch unregelmäßig, gesprochen. Aber schon innerhalb
der gleichen Schule ist die Praxis „durchaus unterschiedlich; in einzelnen Klassen
wird gebetet, in anderen nicht“. In einigen Schulen aller Schulformen wird der
Unterricht mit einem Lied begonnen, wobei Kirchenlieder oder Lieder allgemeinen
Inhalts gesungen werden; in wenigen Schulen werden auch Sprüche allgemeinen
Inhalts, Verse und dergleichen zu Beginn des Unterrichts gesprochen.
Zusammenfassend heißt es in dieser Auskunft, ob in der Schule und in der
einzelnen Klasse gebetet werde, hänge von den Umständen ab, die in jeder Schule
von unterschiedlicher Bedeutung seien. In erster Linie spielten Tradition und
Brauchtum eine entscheidende Rolle. Darüber hinaus seien die Auffassungen des
jeweiligen Schulleiters, des einzelnen Lehrers, insbesondere aber auch der Schüler
und Eltern nicht ohne Bedeutung.
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Auch der sich mit den „Formen des Schullebens“ befassende Erlass des
Hessischen Kultusministers vom 15. Februar 1948, auf den der Antragsgegner sich
beruft, setzt keineswegs das Gebet als selbstverständlich voraus; er erwähnt das
Schulgebet lediglich in dem Zusammenhang, dass das zur Begrüßung des Lehrers
vorgeschriebene Aufstehen der Schüler sich von selbst verstehe, wenn die erste
Unterrichtsstunde mit einem Gebet, Lied oder Spruch beginne.
12. Schließlich kann auch das Toleranzgebot nicht so ausgelegt werden, dass es
den Antragsteller verpflichtet, sich den Wünschen der Mehrheit zu beugen. Wenn
Duldsamkeit der Grundsatz eines jedes Unterrichts sein, der Lehrer in jedem Fach
auf die religiösen und weltanschaulichen Empfindungen aller Schüler Rücksicht
nehmen und die religiösen und weltanschaulichen Auffassungen sachlich darlegen
soll (Art. 56 III HV), so ist damit keineswegs ausgesprochen, dass der Einzelne sich
dem Willen der Mehrheit beugen müsse. Vielmehr muss die Mehrheit auf die
Durchsetzung ihres Willens dann verzichten, wenn dem uneinschränkbare
Grundrechte des Einzelnen entgegenstehen.
IV.
Weder die Hessische Verfassung noch das Gesetz über den Staatsgerichtshof
enthalten eine Bestimmung darüber, welche Entscheidung der Staatsgerichtshof
zu treffen hat, wenn der Antragsteller in einem ihm von der Hessischen
Verfassung gewährten Grundrecht verletzt und diese Verletzung nicht durch ein
gerichtliches Urteil erfolgt ist (§ 49 II StGHG).
Im vorliegenden Fall ist der Antragsteller in seinen Grundrechten durch ein Organ
des Landes Hessen verletzt worden, durch den Regierungspräsidenten in
Wiesbaden nämlich, der in seinen Bescheiden vom 27. Juni und 24. September
1963 das Begehren des Antragstellers abgelehnt hat, das Beten vor Beginn des
Unterrichts in der Klasse, die der Antragsteller besucht, zu untersagen. Indem der
Regierungspräsident in Wiesbaden sich geweigert hat, den Antragsteller mit Mitteln
der Schulaufsicht gegen die Verletzung seiner Grundrechte zu schützen, hat er
selbst diese Grundrechte verletzt. Dies war festzustellen, und die Bescheide des
Regierungspräsidenten in Wiesbaden waren aufzuheben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 24 StGHG.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.