Urteil des StGH Hessen vom 15.03.2017

StGH Hessen: beteiligung am verfahren, ermessensspielraum, willkür, hessen, anfechtung, wav, anerkennung, bedürfnis, lwg, berechtigung

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Gericht:
Staatsgerichtshof
des Landes
Hessen
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
P.St. 78
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Norm:
Art 1 Verf HE
Leitsatz
1. Der Prüfungsbefugnis des Staatsgerichtshofs sind bei der Rüge einer Verletzung des
Gleichheitssatzes durch den Gesetzgeber Grenzen gezogen, die sich aus der
Aufgabenverteilung zwischen Gesetzgeber und Verfassungsgericht ergeben.
2. Hiernach gilt, dass nur die Verletzung gewisser äußerster Grenzen vom
Verfassungsrichter gerügt werden kann und darf, wenn im Rahmen der
Wahlrechtsgleichheit dem Gesetzgeber unter Anerkennung besonderer, vom Interesse
der Gemeinschaft getragener Umstände ein Ermessensspielraum gelassen wird, um
insoweit jeglicher Überspannung des Gleichheitsprinzips vorzubeugen.
Tenor
Der Antrag wird vom 31.X.1950 als offenbar unbegründet zurückgewiesen.
Von der Erhebung einer Gebühr wird abgesehen.
Auslagen werden nicht erstattet.
Gründe
I.
Über die Wahlvorschläge zur Hessischen Landtagswahl ist in § 20 des Hessischen
Landtagswahlgesetzes (LWG) vom 18.IX.cr. (GVBl. S. 171 ff.) folgende Regelung
getroffen worden:
„(1) Kreiswahlvorschläge müssen von mindestens dreihundert Wählern des
Wahlkreises eigenhändig unterschrieben sein. Wird der Kreiswahlvorschlag von
einer bereits im Landtag vertretenen Partei eingereicht, so genügt die Unterschrift
von drei Mitgliedern der Landesleitung der Partei.
(2) Landesergänzungsvorschläge könne nur diejenigen Parteien und Gruppen
einreichen, die in allen Wahlkreisen des Landes eigene Kreiswahlvorschläge
aufgestellt haben, die den Voraussetzungen des Absatz 1 entsprechen. Die
Landesergänzungsvorschläge müssen von zehn Wahlberechtigten unterzeichnet
sein.“
Die Antragsteller machen hierzu geltend, hinsichtlich der Wahlbewerbung in den
Wahlkreisen seien die bisher im Hessischen Landtag vertretenen sogen. „alten“
Parteien offensichtlich bevorzugt. Die Bevorzugung wirke sich gegenüber den
neuen Parteien als eine Verletzung des in Art. 1 HV gewährleisteten Grundrechts
der Gleichheit vor dem Gesetz aus.
Wesentlich sei vor allem, dass bei der getroffenen Regelung die neuen Parteien vor
die Notwendigkeit gestellt würden, von einer unverhältnismäßig großen Zahl ihrer
Anhänger ein offenes Bekenntnis zur Partei zu verlangen.
Diese Notwendigkeit bedeute für die BVE, deren „entscheidender“
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Diese Notwendigkeit bedeute für die BVE, deren „entscheidender“
Programmpunkt es sei, die Interessen der Flüchtlinge und Vertriebenen im
Rahmen einer eigenen zu diesem Zweck begründeten Partei wahrzunehmen,
schon deshalb eine besondere Erschwerung, weil sich die Unterzeichner der
Wahlvorschläge hierbei „der Gefahr persönlicher und wirtschaftliche Repressionen
aussetzen“ würden. Demgegenüber sei die Begünstigung der alten Parteien umso
weniger gerechtfertigt, als diese Parteien zum Teil gar nicht in der Lage sein
würden, so viel Unterschriften aufzubringen, wie von einer neuen Partei gefordert
würden.
In der Antragsbegründung wird ferner auch die Partei- oder Gruppenbildung,
welche die Antragstellerin zu 1) als Wahlbewerberin auftreten lässt, ausdrücklich
auf eine durch das angefochtene Unterschriftenquorum geschaffene Zwangslage
zurückgeführt. Ob hierdurch tatsächlich für die zum BVE zusammengeschlossenen
Untergruppen der WAV und des „Blocks der Vertriebenen und Entrechteten“ die
Wahlbewerbung erleichtert worden ist, wird allerdings nicht gesagt. Die
Antragsbegründung nimmt vielmehr von jeder Erörterung Abstand, welchen
Verlauf die Aufstellung der Wahlvorschläge überhaupt genommen hat.
Darauf hingewiesen wird aber, dass wegen der Unterschriftensammlung für die
neuen Parteien sich der Kraftaufwand zu sehr nach formaler Wahlbewerbung hin
verlagern müsse, anstatt auf aktive Wahlpropaganda, insbesondere
Versammlungstätigkeit, beschränkt zu werden. Auch hierdurch veranlasste
finanzielle Benachteiligung wird erwähnt.
Endlich wird nachdrücklich betont, dass im Zusammenschluss einer weite
Flüchtlingskreise umfassenden Organisation mit einer im Bundestag in
Fraktionsstärke vertretenen Partei keine Splitterbildung, deren Zurückdrängung
staatspolitisch gerechtfertigt sei, in Erscheinung trete.
Der Landesanwalt hat sich dem Verfahren angeschlossen. Er beantragt: den
Antrag vom 31.X.50 durch Beschluss gemäß § 21 Abs. 1 StGHG zurückzuweisen.
II.
Die Antragstellerin zu 1) bezeichnet sich im Rubrum der Klageschrift als
„Zusammenschluss“ der WAV und des Blocks der Vertriebenen und Entrechteten.
Über den Rechtscharakter dieses „Zusammenschlusses“ wird in der
Antragsbegründung nichts vorgetragen. Eine rechtsfähige Personenvereinigung
kommt offenbar nicht in Frage. Unter ausführlichem Hinweis auf Art. 19 Abs. 3 GG
hat aber der Staatsgerichtshof in seinem Urteil vom 14.IV.cr - P.St. 41 und 54 -
(abgedruckt in „Verwaltungs-Rechtspr. i. Deutschland“, 2. Band 1950, Heft 3, S.
299 ff.) bereits entschieden, dass von Personenvereinigungen nur juristische
Personen sich im Verfassungsstreit als Kläger auf Verletzung eines Grundrechts
berufen können, soweit Grundrechte ihrem Wesen nach überhaupt auf derartige
Vereinigungen anwendbar sind.
Für die Antragstellerin zu 1) ist mithin eine Beteiligung am Verfahren
ausgeschlossen.
Die Antragsteller zu 2) und 2) werden als Vorstandsmitglieder der Antragstellerin
zu 1) bezeichnet, ersichtlich aber auch als Kläger, die im eigenen Namen ihren
Antrag stellen wollen, aufgeführt. Es fragt sich, ob sie gemäß § 45 Abs. 2 StGHG
geltend machen können, in einem ihnen von der Verfassung gewährten
Grundrecht durch eine Rechtsnorm verletzt worden zu sein, die sich zum Nachteil
der Antragstellerin zu 1) ausgewirkt haben soll.
Diese Frage ist zu bejahen.
Der Staatsgerichtshof hat in ständiger Rechtsprechung anerkannt, dass vom
Hessischen Landtag erlassene Gesetzesbestimmungen mit jener
Grundrechtsklage aus § 45 Abs. 2 StGHG angefochten werden können (vgl.
insbesondere Urteil vom 4.VIII.cr in P.St. 62). Er hat ferner auch eine Klage von
Vereinsmitgliedern zugelassen, die nur mittelbar durch einen gegen die
Vereinsinteressen gerichteten Gesetzgebungsakt in ihrer Grundrechtssphäre
verletzt sein wollten (vgl. Urteil vom 7.X.1949 in P.St. 15).
III.
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Nach den Ausführungen zu I) wird mit Anfechtung des § 20 LWG dem
Wahlgesetzgeber eine dem Gleichheitsprinzip widerstreitende Benachteiligung der
von einer für die bisher im Hessischen Landtag vertretenen Parteien geltenden
Regelung ausgenommenen neuen Parteien zum Vorwurf gemacht. Dieser Vorwurf
ist ersichtlich auf gesetzgeberische Willkür abgestellt.
Zur Frage, wann mit Erfolg einem Gesetzgeber wegen seiner Wahlrechtsregelung
Willkür, mithin Verletzung des in die Wahlrechtsgleichheit ausstrahlenden
Gleichheitsprinzips vorgeworfen werden kann, ist mit eingehender Begründung im
vorerwähnten Urteil des Staatsgerichtshofs vom 14.IV.cr. Stellung genommen
worden.
Aus dieser Begründung ist auch zu entnehmen, welche Grenzen dem
Verfassungsrichter gezogen sind, will er nicht die gegebene Ordnung, die zwischen
Gesetzgeber und Richter obwaltet, umstoßen, nicht spezifisch gesetzgeberische
Aufgaben an sich reißen.
Hiernach gilt, dass nur die Verletzung gewisser äußerster Grenzen vom
Verfassungsrichter gerügt werden kann und darf, wenn im Rahmen der
Wahlrechtsgleichheit dem Gesetzgeber unter Anerkennung besonderer, vom
Interesse der Gemeinschaft getragener Umstände ein Ermessensspielraum
gelassen wird, um insoweit jeglicher Überspannung des Gleichheitsprinzips
vorzubeugen. Rein formaler Durchführung dieses Prinzips steht mithin als
Voraussetzung seiner justitiablen Anwendung überhaupt entgegen, dass jener
Ermessensspielraum vom Verfassungsrichter nicht nur anerkannt, vielmehr auch
unter Einhaltung eines nach dem Interesse der Gemeinschaft orientierten
Werturteils abgegrenzt wird.
Im vorliegenden Fall muss, wenn hier an die seitens der Antragsteller gerügte
Einschränkung der Wahlrechtsgleichheit Wertmaßstäbe anzulegen sind, von
ähnlichen Erwägungen auszugehen, wie sie in jenem früheren Urteil des
Staatsgerichtshof niedergelegt sind. Dort ist ausgeführt, dass „auf dem unseligen
deutschen Bedürfnis beruhend, immer neue Interessentengruppen zu bilden … die
Aufsplitterung des politischen Lebens … nur allzu leicht eine
Auflösungserscheinung der repräsentativen Demokratie schlechthin werden kann,
wie es vor dem Übergang zur nationalsozialistischen Gewaltherrschaft der Fall
gewesen ist.“
Wenn der Wahlgesetzgeber deshalb, um gleichem Zerfall entgegenzuwirken, auf
der Landesebene dem Bedürfnis nach neuen Parteibildungen nicht schrankenlos
nachgeben wollte, so hat ihn jedenfalls ein durchaus anerkennenswertes Motiv
geleitet, das ohne weiteres vor dem Werturteil des Verfassungsrichters bestehen
kann. Dass von den Einschränkungen, die hierbei jenen Neubildungen auferlegt
sind, auch Parteien betroffen werden können, welche auf Bundesebene schon
wirksam an der politischen Willensbildung teilnehmen, schwächt in keiner Weise die
grundsätzliche Berechtigung der gesetzgeberischen Maßnahme ab. Nur dieser
Berechtigung ist aber vom Verfassungsrichter, wenn er seine Befugnisse nicht
überschreiten will, Gewicht beizumessen.
Auch für den Umfang der Einschränkungen, hier also vornehmlich für die Höhe des
neuen Parteien auferlegten Unterschriftenquorums ist die Bewertungsgrundlage
nicht wesentlich anders geartet. Unbedenklich kann der Staatsgerichtshof
unterstellen, dass vom Gesetzgeber ohne Willkür dieses Quorum so bemessen
worden ist, wie es zur Erfüllung des hiermit verfolgten Zweck für notwendig
befunden wurde.
IV.
Die von den Antragstellern unternommene Anfechtung der für das
Unterschriftenquorum maßgeblichen Gesetzesbestimmungen musste hiernach als
offenbar unbegründet gemäß § 21 Abs. 1 StGHG zurückgewiesen werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 24 StGHG.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.
die obersten Bundesgerichte erfolgt.