Urteil des StGH Hessen vom 15.03.2017

StGH Hessen: stadt, örtliche zuständigkeit, verwaltungsakt, höchstpersönliche rechte, öffentliches recht, eingliederung, hessen, grundrecht, allgemeininteresse, versorgung

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Gericht:
Staatsgerichtshof
des Landes
Hessen
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
P.St. 721
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Norm:
§ 46 Abs 1 StGHG HE
(Gebietsänderung - Grundrechtsklage in Hessen)
Leitsatz
1. Voraussetzung für die Zulässigkeit der Grundrechtsklage gegen ein Gesetz ist, dass
die Antragsteller tatsächlich selbst, gegenwärtig und unmittelbar durch das
angegriffene Gesetz in ihren Grundrechten betroffen werden.
2. Rechtlich betroffen ist ein Bürger nur dann, wenn seine rechtlich geschützten
Interessen geschmälert werden. Rechtlich geschützt ist ein Interesse, wenn eine
Rechtsnorm nicht lediglich dem öffentlichen Interesse (Allgemeininteresse), sondern
allein oder auch dem beeinträchtigten Individualinteresse dienen will.
Damit scheiden insbesondere die sogenannten Rechtsreflexe als Rechtsverletzung aus,
soweit sie auf Normen beruhen, die ausschließlich dem öffentlichen Interesse dienen
und lediglich rein tatsächlich in der Nebenwirkung auch das Individualinteresse
berühren, ohne dass die Norm in ihrer Zwecksetzung diese Nebenwirkung mit umfasst.
3. Organisationsmaßnahmen des Staates sind als solche grundsätzlich nicht geeignet,
Dritte in ihrer rechtlich geschützten Sphäre, geschweige denn in ihrem
Grundrechtsbereich zu berühren, und zwar auch dann nicht, wenn diese Personen
Nachteile erleiden, die von der organisatorischen Maßnahme nicht zu trennen sind, weil
sie allein in dieser Maßnahme als solcher ihre rechtliche Grundlage haben.
Organisationsmaßnahmen beruhen auf der Organisationsgewalt des Staates; sie regeln
seinen Aufbau im allgemeinen Interesse.
4. Für den Bereich der gebietlichen Neugliederung innerhalb eines Landes gilt nichts
anderes. Auch diese können als organisatorische Maßnahmen des Staates nicht von
einzelnen Bürgern angefochten werden.
Tenor
Die Anträge werden auf Kosten der Antragsteller zurückgewiesen.
Die Gebühr wird auf DM 1.000,– festgesetzt.
Gründe
I. Die Antragsteller sind Einwohner der Stadtteile ..., ... und ... der Stadt Schotten.
Diese Stadtteile waren selbständige Gemeinden. Auf Grund des Beschlusses der
Hessischen Landesregierung vom 21. Dezember 1971 wurden sie gemäß § 17
Abs. 2 in Verbindung mit § 16 Abs. 1 der Hessischen Gemeindeordnung (HGO)
i.d.F. vom 1. Juli 1960 (GVBl. I S. 103) mit Wirkung vom 31. Dezember 1971 mit
den Gemeinden Mittel-Seemen, Nieder-Seemen und Wenings in die Stadt Gedern
im Landkreis Büdingen eingegliedert (StAnz.197 S. 84, 86 Nr. 34). Das Gesetz zur
Neugliederung der Landkreise Alsfeld und Lauterbach vom 11. Juli 1972 (GVBl. I S.
215) – kurz: Neugliederungsgesetz –, das am 1. August 1972 in Kraft getreten ist
(§ 20 Neugliederungsgesetz), bildete den Vogelsbergkreis durch Zusammenlegen
der Landkreise Alsfeld und Lauterbach mit einigen Gemeinden neu (§ 12 Abs. 1
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der Landkreise Alsfeld und Lauterbach mit einigen Gemeinden neu (§ 12 Abs. 1
Neugliederungsgesetz) und sprach überdies Änderungen der Gemeindegrenzen
aus. § 11 Neugliederungsgesetz gliederte die Stadtteile ..., ... und ... der Stadt ... in
die Stadt Schotten ein. Gleichzeitig gliederte § 12 Abs. 2 Neugliederungsgesetz die
Stadt Schotten aus dem ehemaligen Landkreis Büdingen in den Vogelsbergkreis
ein. Neuer Sitz der Kreisverwaltung wurde die Stadt Lauterbach (§ 12 Abs. 1
Neugliederungsgesetz).
Gegen die Ausgliederung ihrer Stadtteile ..., ... und ... hat die Stadt ...
Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht erhoben und mit ihr
geltend gemacht, daß § 11 Neugliederungsgesetz die Vorschrift des Art. 28
Grundgesetz verletze. Das Bundesverfassungsgericht hat durch Beschluß vom 23.
Oktober 1972 – 2 BvR 711/72 – die Verfassungsbeschwerde mangels hinreichender
Aussicht auf Erfolg nicht zur Entscheidung angenommen.
II. Die Antragsteller wenden sich mit ihrer Grundrechtsklage vom 11. Juli 1973
gegen die gesetzliche Gebietsänderung und rügen, § 11 Neugliederungsgesetz
verletze ihre Grundrechte aus Art. 1, 2, 4, 45 Hessische Verfassung (HV). Sie
beantragen, § 11 des Gesetzes zur Neugliederung der Landkreise Alsfeld und
Lauterbach vom 11. Juli 1972 (GVBl. I S. 215) für verfassungswidrig und damit für
nichtig zu erklären.
Zur Begründung ihrer Anträge tragen die Antragsteller vor, die früher
selbständigen Gemeinden ..., ... und ... hätten seit jeher engste wirtschaftliche,
soziale, gesellschaftliche, kulturelle und sonstige Beziehungen zu der Stadt
Gedern gehabt. Deshalb sei auch der freiwillige Zusammenschluß mit der Stadt ...
sinnvoll gewesen. Die Eingliederung der Stadtteile ..., ... und ... in die Stadt
Schotten und damit in den Vogelsbergkreis sei ein Willkürakt des Gesetzgebers, da
zu Schotten nicht die geringsten Verbindungen und Verpflichtungen beständen. In
ihren Grundrechten aus Art. 1, 2, 45 HV sehen sich die Antragsteller – nach ihrer
Auffassung stellvertretend für alle Einwohner der Stadtteile ..., ... und ... – vor allem
durch die längeren Wege zur Stadtverwaltung Schotten, den damit verbundenen
zeitlichen und finanziellen Mehraufwand bei Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel,
die bei Telefongesprächen mit der Stadtverwaltung Schotten höheren
Telefongebühren und den durch die zeitraubenden Vorsprachen bei der
Stadtverwaltung Schotten entstehenden Verdienstausfall beeinträchtigt.
Darüber hinaus machen die Antragsteller zu 1., 4., 5., 11., 13. und 15. Nachteile in
der Versorgung durch Infrastruktureinrichtungen geltend. So seien Postzustellung,
Verschönerung des Ortsbildes, Fremdenverkehrsförderung, Sprechstunden der
Stadtverwaltung, Brandschutz und Schneeräumung nicht mehr so gut wie früher
gewährleistet. Auch sei nicht mehr die Allgemeine Ortskrankenkasse Büdingen für
ihre drei Stadtteile zuständig, sondern die des Vogelsbergkreises. Es seien daher
weite und umständliche Fahrten erforderlich, wie die Antragsteller zu 11. und 18.
im einzelnen darlegen. Einen weiteren Eingriff in ihre verfassungsrechtlich
geschützte Rechtssphäre sehen die Antragsteller zu 4., 5., 11. und 15. darin, daß
nunmehr für sie die – höheren – Grundsteuerhebesätze sowie Kanal- und
Wassergebühren der Stadt Schotten gälten und die Besamungskosten nicht mehr
erstattet würden, der Antragsteller zu 5. auch darin, daß er nicht mehr die TÜV-
Prüfung bei der bisherigen Stelle durchführen lassen könne. Die Antragsteller zu
2.a) und 2.b), 8.a) und 8.b), 12.a) und 12.b), 14., 15. und 17. fühlen sich in ihren
Grundrechten aus Art. 2 und 4 HV verletzt, weil sie damit rechnen müßten, zum
Schulbesuch in Schotten, Alsfeld oder Lauterbach statt in Gedern, Nidda oder
Büdingen gezwungen zu sein.
Der Antragsteller zu 3., Posthalter im Stadtteil ..., fühlt sich in seinen Grundrechten
verletzt, weil er nach der Organisation der Deutschen Bundespost nunmehr zum
Postamt Schotten gehöre und nicht mehr mit seinen Kollegen im Kegelklub Post-
SV Büdingen, Abteilung Gedern, kegeln könne.
Von dem Antragsteller zu 7., der Pächter einer ... in ... ist, werden schließlich
wirtschaftliche Wettbewerbsnachteile geltend gemacht, weil er durch die
Eingliederung des Stadtteils Burkhards in die Stadt Schotten in eine andere der
von der Ölgesellschaft festgesetzten Preiszonen gelangt sei und deshalb den Liter
Benzin zu einem um 1 Pfennig höheren Preis abgeben müsse als bisher.
III. Der Präsident des Staatsgerichtshofs hat gemäß Art. 131 HV in Verbindung mit
§ 42 StGHG sämtlichen Mitgliedern der Landesregierung, dem Präsidenten des
Hessischen Landtags sowie dem Vorsitzenden und dem Berichterstatter des
Landtagsausschusses, der mit den Vorarbeiten für das angegriffene Gesetz befaßt
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Landtagsausschusses, der mit den Vorarbeiten für das angegriffene Gesetz befaßt
gewesen ist, Gelegenheit zur Äußerung gegeben. Außer dem Hessischen
Ministerpräsidenten haben die Mitglieder der Landesregierung keine
Stellungnahme abgegeben. Der Präsident des Hessischen Landtags hat dem
Staatsgerichtshof mitgeteilt, daß der Hessische Landtag nicht beabsichtige, sich
zu dem Verfahren zu äußern.
1. Der Hessische Ministerpräsident hält die Anträge für unzulässig und für
unbegründet.
Die von den Antragstellern behaupteten nachteiligen Auswirkungen der
gesetzlichen Gebietsneugliederung bedeuteten keine Verletzung von
Grundrechten der Antragsteller; ihre Anträge seien daher unzulässig.
Nach der ständigen Rechtsprechung des Staatsgerichtshofs setze die Zulässigkeit
der Grundrechtsklage gegen ein Gesetz voraus, daß die Antragsteller in ihren
Grundrechten selbst, unmittelbar und gegenwärtig rechtlich betroffen seien. Rein
faktische Beeinträchtigungen oder Rechtsreflexe, die von einer im
Allgemeininteresse erlassenen Vorschrift ausgingen und als Nebenwirkungen auch
Individualinteressen berührten, führten noch nicht zu einer Grundrechtsverletzung.
Das gelte vor allem für Organisationsnormen. Sie griffen in der Regel nicht in
geschützte Rechtspositionen des Bürgers ein, wenn sie auch faktisch zu Vor- und
Nachteilen für ihn führen könnten. Die Frage nach den Auswirkungen
organisatorischer Maßnahmen auf den Rechtskreis des Einzelnen sei nur an Hand
einer Abgrenzung zwischen staatlicher Organisation und der Grundrechtssphäre
für den jeweiligen Rechtsbereich zu beantworten. Für den Bereich der territorialen
Neugliederung innerhalb eines Landes (Gebietsänderungsakte) ergebe eine solche
Prüfung jedoch keine Abweichung von dem Grundsatz, daß organisatorische
Maßnahmen in aller Regel nicht die Rechtssphäre der Bürger berührten. Sie
veränderten zwar unmittelbar die örtliche Zuständigkeit von Behörden und den
Einzugs- und Tätigkeitsbereich anderer öffentlicher Einrichtungen; der Bürger habe
aber keinen Anspruch darauf, daß bestimmte öffentliche Aufgaben von einer
bestimmten Behörde wahrgenommen würden. Zweck der Gebietsänderungsakte
sei es, im Interesse einer wirksameren Aufgabenerfüllung durch die kommunalen
Selbstverwaltungskörperschaften eine sachgerechte Organisation zu schaffen. Ihre
Auswirkungen auf die persönliche Sphäre des Einzelnen seien lediglich Reflexe des
Organisationsaktes. Eine Grundrechtsverletzung könne daraus nicht hergeleitet
werden.
Die von den Antragstellern dargelegten Tatsachen, aus denen sich die Verletzung
von Grundrechten ergeben solle, erforderten keine andere rechtliche Beurteilung.
Ein Recht des Bürgers, nicht durch eine Änderung der Verwaltungsorganisation mit
längeren Wegen und daraus folgenden höheren Kosten belastet zu werden,
bestehe nicht. Auf eine nach Leistungsort und Qualität unverändert bleibende
Versorgung mit Infrastruktureinrichtungen habe der Bürger keinen grundrechtlich
geschützten Anspruch. Die Schaffung und Veränderung derartiger Einrichtungen
sei allein Sache der staatlichen Organisation. Auch die räumliche Ausdehnung des
Geltungsbereiches von – ihrer Art und Höhe nach verfassungskonformen –
Gebühren- und Steuersatzungen könne die Grundrechtssphäre des Bürgers nicht
berühren.
Die Schulorganisation werde nicht durch das angegriffene Gesetz geregelt,
insoweit fehle es am unmittelbaren Betroffensein der Antragsteller.
Zwar seien Veränderungen in diesem Bereich nicht in jedem Falle unerheblich, weil
dem Recht des Staates zur schulischen Erziehung das Elternrecht gleichgeordnet
gegenüberstehe. Das Schulverwaltungsgesetz gebe aber genügend Möglichkeiten,
um etwaige Härten zu vermeiden (vgl. § 2 Abs. 3 Schulverwaltungsgesetz in der
Fassung des Änderungsgesetzes vom 4.April.1973, GVBl. I S. 125).
Auch soweit wirtschaftliche Wettbewerbsnachteile geltend gemacht würden, lasse
das Vorbringen keine Verletzung von Grundrechten möglich erscheinen. Es
bestehe keine Verpflichtung des Staates, bei seinen organisatorischen
Maßnahmen auf die Preisgestaltung privatwirtschaftlicher Betriebe Rücksicht zu
nehmen. So sei es allein Sache der Ölgesellschaften, etwaige Nachteile ihrer
Kunden durch eine sachgerechte Neuabgrenzung ihrer Preiszonen auszugleichen.
Für den Fall ihrer Zulässigkeit hält der Ministerpräsident die Anträge jedenfalls für
unbegründet. Hierzu führt er aus:
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Die Eingliederung der drei Stadtteile ..., ... und ... in die Stadt Schotten verletze
ihre Einwohner nicht in ihrem Grundrecht auf Gleichbehandlung. Das könne
allenfalls dann angenommen werden, wenn für die Eingliederung kein sachlich
vertretbarer Grund mehr erkennbar sei und der Gesetzgeber willkürlich gehandelt
habe. Dabei sei zu beachten, daß eine Nachprüfung unter dem Gesichtspunkt, ob
der Gesetzgeber eine möglichst gerechte und zweckmäßige Regelung getroffen
habe, nicht stattfinde. Weder Inhalt noch Entstehungsgeschichte der angegriffenen
Vorschrift ließen jedoch Willkür des Gesetzgebers erkennen. Vielmehr seien für die
Gebietsänderung sachlich vertretbare Gründe ausschlaggebend gewesen, wie
auch das Bundesverfassungsgericht durch seinen Beschluß vom 23. Oktober 1972
– 2 BvR 711/72 – bestätigt habe.
Auch in der freien Entfaltung ihrer Persönlichkeit seien die Antragsteller durch die
Eingliederung ihrer Wohnorte in die Stadt Schotten nicht beeinträchtigt. Weitere
Wege zu Verwaltungsbehörden, zu Schulen, Krankenhäusern und sonstigen
öffentlichen Einrichtungen sowie die Zugehörigkeit zu bestimmten örtlichen
Untergliederungen von Vereinen berührten den verfassungsrechtlich geschützten
Rechtskreis des einzelnen Bürgers nicht. – Desgleichen seien etwaige
Auswirkungen des angegriffenen Gesetzes auf die Wettbewerbssituation im
Hinblick auf das Grundrecht der freien Entfaltung der Persönlichkeit unbeachtlich.
In der freien Wettbewerbswirtschaft gelte der Grundsatz, daß ein subjektives
verfassungskräftiges Recht eines Geschäftsmannes auf die Erhaltung des
Geschäftsumfanges und die Sicherung weiterer Erwerbsmöglichkeiten nicht
bestehe.
Aus dem verfassungsrechtlichen Schutz von Ehe und Familie lasse sich kein
Abwehrrecht der Antragsteller gegen längere Wege zu Verwaltungsbehörden und
gegen längere Schulwege ableiten. Im übrigen sei es auch zweifelhaft, ob Art. 4 HV
ein Grundrecht gewähre oder ob er lediglich eine Institutsgarantie enthalte, die
wegen Übereinstimmung mit Art. 6 Abs. 1 Grundgesetz nach dessen Art. 142 nicht
fortgälte.
Soweit sich die Antragsteller schließlich auf die Verletzung der Eigentumsgarantie
beriefen, könnten allenfalls die den Abgabensatzungen zugrunde liegenden
Rechtsvorschriften dieses Grundrecht verletzen, nicht jedoch die gesetzliche
Eingliederung der drei betroffenen Stadtteile in die Stadt Schotten. Aus der
Eigentumsgarantie lasse sich auch kein Grundrecht auf einen bestimmten
Brandschutz herleiten. Im übrigen bleibe nach § 30
Brandschutzhilfeleistungsgesetz vom 5. Oktober 1970 (GVBl. I S. 585) auch
weiterhin die Feuerwehr der Stadt Gedern zur Hilfeleistung in Brandfällen
verpflichtet.
2. Der Landesanwalt hält die Grundrechtsklagen ebenfalls für unzulässig. Er
bezieht sich insoweit auf die Ausführungen des Hessischen Ministerpräsidenten.
IV. Auf die Stellungnahme des Hessischen Ministerpräsidenten haben die
Antragsteller erwidert:
Soweit ihnen bekannt sei, handele es sich bei der Eingliederung der Stadtteile ...,
... und ... um den einzigen Fall, in dem Maßnahmen der
Gemeindeverwaltungsreform, die auf freiwilliger Grundlage mit Zustimmung der
Hessischen Landesregierung vorgenommen worden seien, eine Korrektur durch
den Gesetzgeber erfahren hätten. Allein dieser Umstand rechtfertige die Annahme
einer Ausnahme von der Regel, daß staatliche Organisationsakte Grundrechte der
Bürger nicht berührten. Die angegriffene Neugliederungsmaßnahme stelle einen
nicht zu überbietenden Willkürakt des Gesetzgebers dar, weil kein sachlich
vertretbarer Grund für die getroffene Regelung erkennbar sei. Die gegenteilige
Ansicht des Hessischen Ministerpräsidenten lasse sich nicht mit dem Beschluß des
Bundesverfassungsgerichts vom 23. Oktober 1972 – 2 BvR 711/72 – begründen,
das lediglich die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen
habe, weil sie keine hinreichende Aussicht auf Erfolg habe. Aus dieser negativen
Formulierung könne unmöglich der Schluß gezogen werden, das
Bundesverfassungsgericht habe die Neugliederung gutgeheißen. Sie sei vielmehr
aus willkürlich parteipolitischen Erwägungen vorgenommen worden.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Antragsteller und der
übrigen am Verfahren Beteiligten, insbesondere der dargelegten
Rechtsausführungen, wird zur Ergänzung des Sachverhalts auf den Inhalt der
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Rechtsausführungen, wird zur Ergänzung des Sachverhalts auf den Inhalt der
Akten Bezug genommen.
V. Die Anträge können keinen Erfolg haben; sie sind unzulässig.
1. Die in Literatur und Rechtsprechung umstrittene Frage, welche Rechtsnatur den
Gebietsänderungsakten von Gemeinden und Gemeindeverbänden zuzumessen
ist, bedarf hier keiner Entscheidung. Es genügt in diesem Zusammenhang die
Feststellung, daß sich fünf verschiedene Ansichten unterscheiden lassen (vgl. im
einzelnen Rasch, Entstehung und Auflösung von Körperschaften des öffentlichen
Rechts, zugleich ein Beitrag zur Rechtsnatur der Gebietsänderungsakte, DVBl.
1970, 765, 766; Ule, Maßnahmen der Verwaltungsreform und ihre gerichtliche
Überprüfung, Festschrift für Gebhard Müller, 1970, S. 529 ff., beide mit Auswertung
der einschlägigen Rechtsprechung und des Schrifttums). Danach wird ein
Gebietsänderungsakt qualifiziert als
– Rechtssatz,
– Verwaltungsakt,
– Verwaltungsakt gegenüber der Gemeinde und Rechtssatz gegenüber der
Bevölkerung,
– Verwaltungsakt gegenüber der Gemeinde und Organisationsakt gegenüber den
Gemeindeangehörigen,
– Verwaltungsakt gegenüber der Gemeinde, Norm gegenüber der Bevölkerung
und Organisationsakt, soweit Wirkungen im Bereich der unmittelbaren Staats- und
Auftragsverwaltung in Betracht kommen (vgl. im einzelnen Hess.StGH, Beschluß
vom 6. Januar 1971 – P.St. 624 – mit Überblick über die einschlägige
Rechtsprechung und Literatur).
Nimmt man an, daß der Gebietsänderungsakt auch gegenüber dem Bürger ein
anfechtbarer Verwaltungsakt sein kann, so wäre der Verwaltungsrechtsweg
eröffnet. Diese Rechtsschutzmöglichkeit scheidet aber dann aus, wenn – wie hier –
die organisatorische Maßnahme als Gesetz im formellen Sinne ergeht (vgl. Ule,
Verwaltungsgerichtsbarkeit, 2. Auflage 1962, § 42 IV, 2 b S. 147). Sieht man
dagegen in dem Gebietsänderungsakt in erster Linie eine Rechtsverordnung oder
einen Rechtsetzungsakt gegenüber dem Bürger, so wäre die Möglichkeit der
Normenkontrolle gegeben. Diese kommt jedoch nicht in Betracht, da nach § 47
VwGO die Oberverwaltungsgerichte (Verwaltungsgerichtshöfe) im Rahmen ihrer
Gerichtsbarkeit nur über die Gültigkeit einer landesrechtlichen Verordnung oder
einer anderen im Range unter dem Landesgesetz stehenden Rechtsvorschrift
entscheiden können, soweit nicht gesetzlich vorgesehen ist, daß die
Rechtsvorschrift durch ein Verwaltungsgericht nachprüfbar ist. Ein abstraktes
Normenkontrollverfahren vor dem Staatsgerichtshof nach Art. 131, 132 HV in
Verbindung mit § 41 ff StGHG können die Antragsteller nicht einleiten, da sie nicht
zu dem Kreis der Antragsberechtigten nach Art. 131 Abs. 2 HV in Verbindung mit §
17 Abs. 2 StGHG zählen.
An diesem Ergebnis wird auch nichts dadurch geändert, daß es sich bei
Gebietsänderungsakten um keinen einheitlichen Hoheitsakt, sondern um zwei
verschiedene, wenngleich miteinander verbundene Teile handelt: um einen
Verwaltungsakt ... gegenüber der betreffenden Gemeinde und um entweder einen
Rechtsetzungsakt, einen Organisationsakt oder aber auch Verwaltungsakt
gegenüber dem Bürger. Die in Betracht kommenden Maßnahmen der
Verwaltungsreform kann man nach verschiedenen Gesichtspunkten untergliedern:
einmal danach, wer sie ergreift, und zum anderen danach, wie sie rechtlich zu
qualifizieren sind. Dabei ist es durchaus möglich, daß das Recht zur Erreichung ein
und desselben Zweckes unterschiedliche Handlungsformen kumulativ oder
alternativ zur Verfügung stellt (vgl. hierzu Ule, Maßnahmen der Verwaltungsreform
und ihre gerichtliche Nachprüfung, aaO., S. 529, 533, 541; Rasch, Entstehung und
Auflösung von Körperschaften des öffentlichen Rechts, DVBl. 1970, 765, 767;
Hess.StGH, Beschluß vom 6. Januar 1971 – P.St. 624 –). Auf die sich hieraus
ergebenden Folgen für den Rechtsschutz braucht der Staatsgerichtshof jedoch
nicht im einzelnen einzugehen, da § 11 Neugliederungsgesetz ein Gesetz im
formellen Sinne ist, über dessen Verfassungsmäßigkeit allein der
Staatsgerichtshof zu entscheiden hat (Art. 131 Abs. 1 HV).
2. Auch daß die Antragsteller sich unmittelbar gegen ein Gesetz wenden, macht
ihr Vorgehen allein noch nicht zulässig (vgl. Hess.StGH in ständiger
Rechtsprechung, ausführlich z.B. im Urteil vom 7. Januar 1970 – P.St. 539 –, unter
Bezug auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, StAnz. 1970, 342
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Bezug auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, StAnz. 1970, 342
= ESVGH 20, 206 = DÖV 1970, 234 = DVBl. 1970, 524 (L); Urteil vom 20.
Dezember 1971 – P.St. 608.637 –, StAnz. 1972, 112 = DÖV 1972, 285; Beschluß
vom 11. April 1973 – P.St. 697 –, StAnz. 1973, 927 = ESVGH 23, 147 = DÖV 1973,
524; Beschluß vom 12. September 1973 – P.St. 723 –; Urteil vom 6. Februar 1974
– P.St. 651 –, StAnz. 1974, 452; zuletzt im Beschluß vom 29. Mai 1974 – P.St. 736
–).
Voraussetzung für die Zulässigkeit der Grundrechtsklage gegen ein Gesetz ist,
daß die Antragsteller tatsächlich selbst, gegenwärtig und unmittelbar durch das
angegriffene Gesetz in ihren Grundrechten betroffen werden.
Die Antragsteller müssen jedoch selbst in einem ihrer Rechte verletzt sein. Darin
unterscheidet sich die Grundrechtsklage der Hessischen Verfassung von der
"Popularklage", wie sie z.B. das bayerische Verfassungsrecht kennt (vgl. Art. 98
Satz. 4 Bayerische Verfassung in Verbindung mit § 54 Bayerisches Gesetz über
den Verfassungsgerichtshof vom 22. Juli 1947). Soweit die Antragsteller die
Grundrechtsklage stellvertretend für alle Einwohner der Stadtteile ..., ... und ...
erhoben haben, ist sie schon wegen des Fehlens der eigenen Betroffenheit
unzulässig. Die Grundrechte sind höchstpersönliche Rechte zum Schutze der
persönlichen Freiheit. Sie sind weder der Substanz noch der Ausübung nach durch
Gesetz oder Rechtsgeschäfte übertragbar. Die Grundrechtsklage ist ein
Rechtsbehelf zur Verteidigung dieser Rechte; in diesem Verfahren kann es keine
Prozeßstandschaft geben (vgl. Hess.StGH, Beschluß vom 11. April 1973 – P.St.
697 –, StAnz. 1973, 927 = DÖV 1973, 524 = ESVGH 23, 147).
Daß die Antragsteller, soweit sie eigene Rechte verfolgen, gegenwärtig und
unmittelbar von dem Gesetz rechtlich betroffen werden, müssen sie in der Weise
substantiiert vortragen, daß ihre tatsächlichen Behauptungen die gerügten
Grundrechtsverletzungen möglich erscheinen lassen (vgl. Leibholz-Rupprecht,
Bundesverfassungsgerichtsgesetz, Kommentar, 1968, § 90 RdNr. 32 S. 321 f. mit
weiteren Nachweisen; Zinn-Stein, Verfassung des Landes Hessen, Kommentar,
1963, Art. 131 - 133 Anm. IV, 19 c S. 37). Nach § 46 Abs. 1 StGHG ist dazu
erforderlich, daß der Antrag zur Verteidigung der Grundrechte das Grundrecht
bezeichnet und mit der Angabe der Beweismittel die Tatsachen darlegt, aus denen
sich die Verletzung des Grundrechts ergeben soll. Die Antragsteller haben zwar die
Verletzung ihrer Grundrechte aus Art. 1, 2, 4 und 45 HV gerügt. Auch haben sie
die vom Staatsgerichtshof aus Gründen der Rechtssicherheit und der Tragweite
der begehrten Entscheidung verlangte Jahresfrist seit Inkrafttreten des Gesetzes
eingehalten (vgl. Urteil vom 20. Dezember 1971 – P.St. 608.637 –, Beschluß vom
12. Juli 1972 – P.St. 640 –, ESVGH 22, 209 (210); Beschluß vom 29. Mai 1974 –
P.St. 730 –; Beschluß vom 29. Mai 1974 – P.St. 736 –). Doch haben die
Antragsteller nicht schlüssig dargelegt, daß § 11 Neugliederungsgesetz diese
Grundrechte tatsächlich verletzt. Die von ihnen vorgetragenen nachteiligen
Auswirkungen des § 11 Neugliederungsgesetz treffen sie nicht in ihrer durch die
Grundrechte geschützten Rechtssphäre.
Rechtlich betroffen ist der Bürger nur dann, wenn seine rechtlich geschützten
Interessen geschmälert werden. Rechtlich geschützt ist ein Interesse, wenn eine
Rechtsnorm nicht lediglich dem öffentlichen Interesse (Allgemeininteresse),
sondern allein oder auch dem beeinträchtigten Individualinteresse dienen will.
Damit scheiden insbesondere die sog. Rechtsreflexe als Rechtsverletzung aus,
soweit sie auf Normen beruhen, die ausschließlich dem öffentlichen Interesse
dienen wollen und lediglich rein tatsächlich in der Nebenwirkung auch das
Individualinteresse berühren, ohne daß die Norm in ihrer Zwecksetzung diese
Nebenwirkung mit umfaßt (vgl. Maunz-Dürig-Herzog, Grundgesetz, Kommentar,
Stand 1971, Art. 19 IV RdNr. 345.23 ff.; Eyermann-Fröhler,
Verwaltungsgerichtsordnung, Kommentar, 5. Auflage 1971, § 42 Erl. 96 S. 244).
Eine derartige Beschränkung auf eine bloße Reflexwirkung des objektiven Rechts
ist insbesondere den Organisationsmaßnahmen des Staates eigen, einerlei, ob sie
als Rechtsnorm (Gesetz oder Rechtsverordnung) oder als Verwaltungsakt erlassen
werden. Sie sind als solche grundsätzlich nicht geeignet, Dritte in ihrer rechtlich
geschützten Sphäre, geschweige denn in ihrem Grundrechtsbereich zu berühren,
und zwar auch dann nicht, wenn diese Personen Nachteile erleiden, die von der
organisatorischen Maßnahme nicht zu trennen sind, weil sie allein in dieser
Maßnahme als solcher ihre rechtliche Grundlage haben (vgl. BVerwG, Urteil vom
23. Februar 1961 – II C 75/58 –, JZ 1962, 62, 63 f. = NJW 1961, 1323 = VerwRspr.
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23. Februar 1961 – II C 75/58 –, JZ 1962, 62, 63 f. = NJW 1961, 1323 = VerwRspr.
Bd. 13, 656). Organisationsmaßnahmen beruhen auf der Organisationsgewalt des
Staates; sie regeln seinen Aufbau im allgemeinen Interesse.
Allerdings gilt der Grundsatz der Nichtanfechtbarkeit von organisatorischen
Maßnahmen nicht uneingeschränkt. Mit der gesetzlichen Regelung der
Organisationsgewalt kann zugleich ein besonderes Recht des Einzelnen auf eine
bestimmte Gestaltung der Organisationsgewalt verbunden sein; dann könnte eine
Organisationsmaßnahme zugleich in die so geschaffene rechtlich geschützte
Sphäre des Einzelnen eingreifen. Deshalb kann die Beurteilung organisatorischer
Maßnahmen nicht allgemein, sondern nur unter Würdigung der jeweils dafür
maßgebenden Rechtsvorschriften vorgenommen werden (vgl. BVerwG, Urteil vom
31. Januar 1964 – VII C 65/62 –, BVerwGE 18, 40, 41 = DVBl. 1964, 819 = DÖV
1964, 635). Für die sachliche Grenzziehung zwischen Rechtsverletzungen und
bloßen Rechtsreflexen gelten folgende Erwägungen: ... Ein praktikables Indiz für
das Vorhandensein eines Abwehrrechtes gegenüber Beeinträchtigungen von
Individualinteressen bildet meist die förmliche "Beteiligung" Dritter im
Normsetzungs- oder im Verwaltungsverfahren. Wo Beteiligter förmliche
"Einwendungen" gesetzlich zugestanden werden, besteht die kaum widerlegbare
Vermutung, daß diese Einwendungen auch klageweise (weiter)verfolgt und
durchgesetzt werden können. Im übrigen ist die Grenze so zuziehen, daß
Rechtssätze, in denen der Einzelne nur aus Gründen des Interesses der
Allgemeinheit begünstigt wird, reine Reflexwirkung haben. Die Struktur der
Rechtssätze unterscheidet sich in diesen beiden Fällen insofern, als zwar immer
die staatlichen Behörden zur Einhaltung und Durchführung der Rechtssätze
verpflichtet sind, der Bürger aber nicht immer Rechte daraus herleiten kann (vgl.
Maunz-Dürig-Herzog, Grundgesetz, Kommentar Stand 1971, Art. 19 IV Anm. 34,
35 S. 24, 25).
Organisationsnormen bestimmen neben Aufgaben der staatlichen Organisation
die dazu erforderlichen Befugnisse sowie deren Inhalt und Umfang. Sodann
können sie die Stiftung, Errichtung und Einrichtung von staatlichen
Verwaltungseinheiten regeln. Darüber hinaus könne sie die den Staatsbürgern
obliegenden Pflichten enthalten, sich in bestimmten Angelegenheiten an ganz
bestimmte Behörden zu wenden sowie die von der staatlichen Organisation
gesetzten allgemeinen und besonderen Weisungen zu befolgen. Schließlich
können sie die den Staatsbürgern zustehenden Ansprüche bestimmen (vgl. dazu
Rasch-Patzig, Verwaltungsorganisation und Verwaltungsverfahren, 1962, S. 4).
Immer nur dann, wenn der Verpflichtung des Staates die Berechtigung des
Bürgers gegenübersteht – etwa ein Leistungsanspruch oder ein Recht auf eine
bestimmte Gestaltung der Organisationsgewalt, das sich aus der
Organisationsnorm selbst ergibt –, hat er ein subjektives öffentliches Recht, das
durch den Organisationsakt beeinträchtigt werden kann. Sofern aber der
Verpflichtung des Staates an der Organisationsnorm nur die Allgemeinheit, die
Gesamtheit der Staatsbürger gegenübersteht, fällt auf den Einzelnen nur ein
(nicht klagbarer) Rechtsreflex.
Für den Bereich der gebietlichen Neugliederung innerhalb eines Landes ergeben
diese Erwägungen keine Abweichung von dem allgemeinen Grundsatz, daß
organisatorische Maßnahmen des Staates nicht von einzelnen Bürgern
angefochten werden können. Irgendwelche Beteiligungsrechte in den jeweiligen
Gebietsänderungsverfahren stehen den betroffenen Bürgern nicht zu. Nach § 16
Abs. 1 Satz 2 HGO sind nur die beteiligten Gemeinden und Landkreise vorher zu
hören. Soweit in solchen Verfahren "Bürgerbefragungen" durchgeführt werden,
haben sie keine rechtliche, sondern nur politische Bedeutung. Sie dienen dazu, die
Bürger zu unterrichten und ihre Meinung über die geplante Neugliederung
festzustellen (vgl. Hess.StGH, Beschluß vom 6. Januar 1971 – P.St. 624 –). § 11
Neugliederungsgesetz wendet sich primär an die betroffenen
Gebietskörperschaften. Er regelt allein die gemeindliche Neugliederung im Sinne
der Errichtung von kommunalen Verwaltungseinheiten. Diese Einrichtungsnorm
enthält gleichzeitig die Verpflichtung der Bürger, sich in ihren Angelegenheiten an
die Organe der neuen Gebietskörperschaften zu wenden und die von ihnen
gesetzten allgemeinen und besonderen Weisungen zu befolgen. Obwohl § 11
Neugliederungsgesetz damit unmittelbar die örtliche Zuständigkeit von Behörden
sowie den Einzugsbereich anderer öffentlicher Einrichtungen verändert, werden
doch die Antragsteller nicht in ihrer grundrechtlich geschützten Rechtssphäre
beeinträchtigt, da sie keinen Anspruch darauf haben, daß bestimmte öffentliche
Aufgaben von bestimmten Behörden wahrgenommen werden (vgl. Hess.StGH,
Beschluß vom 11. April 1973 – P.St. 697 –, StAnz. 1973, 927 = DÖV 1973, 524 =
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Beschluß vom 11. April 1973 – P.St. 697 –, StAnz. 1973, 927 = DÖV 1973, 524 =
ESVGH 23, 147). Über die allgemeinen Berechtigungen und Ansprüche hinaus, die
jedem Einwohner einer Gemeinde zustehen (z.B. Wahlrecht, Teilnahme an
öffentlichen Einrichtungen usw.), bringt § 11 Neugliederungsgesetz den einzelnen
Bürgern keine Berechtigungen, die mit der Verpflichtung der neuen Gemeinden in
dem oben dargelegten Sinne korrespondieren. Insoweit geht hier von der
Organisationsnorm nur ein nicht einklagbarer Rechtsreflex aus. Der Aufbau und die
Neugliederung von kommunalen Verwaltungseinheiten soll nicht dem Schutz von
Rechtspositionen der einzelnen Bürger dienen, sondern im Allgemeininteresse
eine den veränderten Zeitumständen Rechnung tragende sachgerechtere
Organisation schaffen.
Diesen Zweck verfolgt nach seiner Bedeutung und Zielrichtung auch § 11
Neugliederungsgesetz. Somit stellen sich die – überwiegend wirtschaftlichen –
Auswirkungen der Neugliederung auf die persönliche Interessensphäre der
Antragsteller, die sie in erster Linie in den längeren Wegen zur Stadtverwaltung
und dem damit verbundenen zeitlichen und finanziellen Mehraufwand erblicken,
nur als eine faktische Beeinträchtigung, d.h. als Reflex des Organisationsaktes dar.
Eine rechtliche Betroffenheit der Antragsteller kann daraus nicht hergeleitet
werden (vgl. Maunz-Dürig-Herzog, aaO, Art. 19 IV RdNr. 35 S. 25 f.; BVerfG,
Beschluß vom 21. Februar 1957 – 1 BvR 241/56 –, BVerfGE 6, 273, 279 = NJW
1957, 665 = DVBl. 1957, 509).
3. Auch die weitere Begründung der Grundrechtsklagen haben die Antragsteller
nicht in der Weise schlüssig vorgetragen, daß ihre Behauptungen eine
Grundrechtsverletzung möglich erscheinen lassen.
a) Soweit die Antragsteller zu 1., 4., 5., 11., 13. und 15. Nachteile in der
Versorgung mit Infrastruktureinrichtungen geltend machen, handelt es sich
ebenfalls nur um Rechtsreflexe des Gebietsänderungsaktes. Sie sind durch die
staatliche Organisationsgewalt gedeckt; gegen ihre Auswirkungen steht dem
Bürger kein grundrechtlich gesicherter Abwehranspruch zu.
b) Das gleiche gilt für die Antragsteller zu 4., 5., 11. und 15., die in der
Ausdehnung des Geltungsbereiches der höheren Grundsteuerhebesätze und
Gebühren der Stadt Schotten einen Eingriff in ihre verfassungsrechtlich geschützte
Rechtssphäre erblicken. Zwar kann auch die Erhebung von Abgaben Grundrechte
des Bürgers verletzen. Eine mögliche Grundrechtsverletzung kann aber nur in
einem Verfahren festgestellt werden, das den Abgabenbescheid oder die ihm
zugrunde liegende Norm selbst zum Gegenstand hat.
c) Die Antragsteller zu 2.a) und 2.b), 8.a.) und 8.b), 12.a) und 12.b), 14., 15. und
17. sind auch nicht von § 11 Neugliederungsgesetz dadurch rechtlich betroffen,
daß sie damit rechnen müssen, in Zukunft nicht die Schulen in Gedern, Nidda oder
Büdingen, sondern in Schotten, Alsfeld oder Lauterbach besuchen zu müssen.
Einmal fehlt es hier schon an der gegenwärtigen Betroffenheit der Antragsteller.
Zum anderen regelt § 11 Neugliederungsgesetz weder die Schulorganisation noch
entscheidet er darüber, welche Schulen die Antragsteller in Zukunft besuchen
müssen oder können. Im übrigen gibt § 2 Abs. 3 Schulverwaltungsgesetz i.d.F. des
Änderungsgesetzes vom 4. April 1973 (GVBl. I S. 125) die Möglichkeit,
unzumutbare Härten zu vermeiden. Allerdings sind Veränderungen in der
Schulorganisation im Hinblick auf eine mögliche Grundrechtsverletzung nicht in
jedem Falle unerheblich, weil dem Recht des Staates zur schulischen Erziehung
nach Art. 56 Abs. 1 Satz 2 HV (entspricht Art. 7 Abs. 1 GG) gleichgeordnet das
Elternrecht nach Art. 4 HV (entspricht Art. 6 Abs. 1 GG) gegenübersteht (vgl.
BVerfG, Urteil vom 31. Januar 1964 – VII C 65/62 –, BVerwGE 18, 40, 41 f = DVBl.
1964, 820 = DÖV 1964, 635; Hess.StGH, Urteil vom 20. Dezember 1971 – P.St.
608.637 –, StAnz. 1972, 112 = ESVGH 22, 4 = DÖV 1972, 285).
Demnach kann unter Umständen das Elternrecht beeinträchtigt werden, wenn
eine bestimmte Schule geschlossen wird, die die Kinder bisher besucht haben. Die
Situation der Antragsteller ist aber mit diesem Fall nicht vergleichbar. Ihre
Umschulung wird erst in der Zukunft aktuell, zur Zeit können sie weiterhin ihre
bisherige Schule besuchen.
d) Die wirtschaftlichen Wettbewerbsnachteile, die der Antragsteller zu 7. geltend
macht, führen nicht zu einer Verletzung des Grundrechts aus Art. 45 HV, nur
wirtschaftliche Interessen genügen hierzu nicht (vgl. Maunz-Dürig-Herzog, aaO,
Art. 19 IV RdNr. 35 S. 25 f).
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4. Fehlt es somit an jeder schlüssigen Darlegung der rechtlichen Betroffenheit der
Antragsteller, muß ihre Grundrechtsklage gemäß § 21 Abs. 1 StGHG
zurückgewiesen werden. Einer mündlichen Verhandlung und Beweisaufnahme
bedurfte es daher nicht.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 24 StGHG.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.