Urteil des StGH Hessen vom 15.03.2017

StGH Hessen: europäische konvention, wiederaufnahme des verfahrens, grundrecht, rechtsbeistand, hessen, menschenrechte, datum, nichtigkeit, unterliegen, ausnahme

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Gericht:
Staatsgerichtshof
des Landes
Hessen
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
P.St. 438
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
Art 31 GG, Art 142 GG, § 137
StPO, Art 20 Abs 2 Verf HE
Leitsatz
1. Art. 20 Abs. 2 Satz 2 HV ist von der inhaltlich übereinstimmenden Vorschrift des §
137 Abs. 1 StPO verdrängt worden.
2. Art. 129 HV gewährt kein Grundrecht.
Tenor
Der Antrag wird auf Kosten des Antragstellers zurückgewiesen.
Die Gebühr wird auf DM 50.- festgesetzt.
Gründe
Der Antragsteller verbüßt eine Zuchthausstrafe aus einem Urteil der 2.
Strafkammer des Landgerichts ... ... - vom 2. Oktober 1962. Ein Gesuch des
Antragstellers um Wiederaufnahme des Verfahrens verwarf die 1. Strafkammer
des Landgerichts ... als unzulässig durch einen Beschluß, der zunächst weder ein
Datum noch die Bezeichnung des Gerichts enthält. Gegen diesen Beschluß erhob
der Antragsteller sofortige Beschwerde und bat, ihm eine Frist von 2 Wochen zu
näherer Begründung einzuräumen. Drei Tage später reichte er eine umfangreiche
Begründung nach und erbat in einer weiteren Eingabe die Beiordnung seines
früheren Pflichtverteidigers als Rechtsbeistand. Nunmehr ergänzte die
Strafkammer den angefochtenen Beschluß durch die Anfügung "..., den 31. Mai
1965, Landgericht, 1. Strafkammer". Eine Zustellung dieser Ergänzung ist aus den
Akten nicht ersichtlich. Durch Beschluß ... vom 14. Juli 1965 lehnte der 1.
Strafsenat des Oberlandesgerichts in Frankfurt/Main die Beiordnung eines
Pflichtverteidigers ab und wies die sofortige Beschwerde aus sachlichen Gründen
zurück. Dieser Beschluß wurde dem Antragsteller am 10. August 1965 zugesandt.
Mit einer Eingabe vom 18. August 1965, eingegangen am 24. August 1965, hat
der Antragsteller den Staatsgerichtshof angerufen. Er beantragt die Aufhebung
des Beschlusses des Oberlandesgerichts Frankfurt/Main und trägt zur Begründung
vor: Der Beschluß verletze die Art 20, 129 der Hessischen Verfassung (HV) sowie
die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und
Grundfreiheiten, insbesondere deren Art 6, 3 c. Die Versagung eines
Pflichtverteidigers sei verfassungswidrig. Auf jeden Fall habe die gleichzeitige
Entscheidung hierüber und über seine Beschwerde ihm die Möglichkeit
genommen, sich innerhalb angemessener Frist um einen Rechtsbeistand zu
bemühen oder eingehender zu äußern. Die im Beschluß vertretene Auffassung, er
sei hinreichend rechtskundig, sei zudem falsch, da er seinen Antrag nur
mangelhaft und nur mit Unterstützung anderer Strafgefangener habe begründen.
können. Schließlich sei der Beschluß auch deshalb verfassungswidrig, weil er sich
über die Form- und Zustellungserfordernisse hinwegsetze, aus denen gesetzlich
zwingend die Nichtigkeit oder mindestens Unwirksamkeit der beiden
Strafkammerbeschlüsse folge.
Der Landesanwalt hält den Antrag für unzulässig. Auf eine Verletzung des
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Der Landesanwalt hält den Antrag für unzulässig. Auf eine Verletzung des
Grundrechts aus Art 20 II Satz 2 HV könne er nicht gestützt werden, weil diese
Bestimmung für das Gebiet des Strafverfahrensrechts durch § 137 I StPO
verdrängt sei (Art 31 GG). Auch sei der Antragsteller zu keiner Zeit gehindert
gewesen, sich eines Rechtsbeistandes zu bedienen. Die Beiordnung eines solchen
auf Staatskosten für alle Fälle der Wahrnehmung von Rechten und Ansprüchen sei
verfassungsrechtlich nicht gewährleistet. Art 129 enthalte kein Grundrecht. Im
übrigen sei nach der ständigen Rechtsprechung des Staatsgerichtshofes jede im
bundesgesetzlichen Verfahren ergangene Entscheidung in Anbetracht des
Vorranges, den das Bundesrecht auch gegenüber der Hessischen Verfassung
genieße, nur dann angreifbar, wenn unter offensichtlicher Außerachtlassung allen
Bundesrechts die Entscheidung willkürlich sei. Die Konvention der Menschenrechte
räume dem Staatsgerichtshof keine Zuständigkeit ein, darüber zu wachen, ob
gegen sie verstoßen worden sei. Der Antrag ist fristgemäß gestellt (§ 48 III StGHG),
kann jedoch keinen Erfolg haben.
Nach Art 131 HV, §§ 45 ff. StGHG kann der Staatsgerichtshof von jedermann nur
angerufen werden, wenn die Verletzung eines von der Hessischen Verfassung
gewährten Grundrechts geltend gemacht wird. Behauptete Verstöße gegen die
Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten
unterliegen nicht der Nachprüfung durch das Landesverfassungsgericht.
Nach Art 20 II Satz 2 HV darf das Recht, sich jederzeit durch einen Rechtsbeistand
verteidigen zu lassen, nicht beschränkt werden. Die Vorschriften der
Landesverfassung werden jedoch, wie jedes Landesrecht, vom Grundgesetz für die
Bundesrepublik Deutschland (GG) und von jedem Bundesrecht mit der Wirkung
überlagert, daß Bundesrecht nicht nur abweichendes, sondern auch
übereinstimmendes Landesrecht bricht (Art 31 GG; so die ständige
Rechtsprechung des Staatsgerichtshofs). Nur für diejenigen Bestimmungen der
Landesverfassungen, welche Grundrechte in Übereinstimmung mit den Art 1 bis
18 GG gewähren, macht Art 142 GG eine Ausnahme. Das in Art 20 II Satz 2 HV
gewährte Grundrecht stimmt mit keinem der in Art 1 bis 18 GG gewährten
Grundrechte, wohl aber, wenn auch nur für das Gebiet des Strafverfahrensrechts,
mit dem § 137 I StPO überein, welcher lautet: "Der Beschuldigte kann sich in jeder
Lage des Verfahrens des Beistandes eines Verteidigers bedienen".
Dies hat zur Folge, daß Art 20 II Satz 2 HV vom inhaltlich übereinstimmenden §
137 I StPO verdrängt ist.
Die Verletzung einer bundesrechtlichen Torschrift kann aber beim
Staatsgerichtshof nicht geltend gemacht werden.
Art 129 HV, wonach niemand wegen Unzulänglichkeit seiner Mittel an der
Verfolgung seiner Rechtsansprüche gehindert werden darf, gewährt kein
Grundrecht. Auch ist der Antragsteller an der Verfolgung seiner Rechte nicht
gehindert worden. Endlich ist dadurch, daß die Strafkammer den Beschluß vom 31.
Mai 1966 erst später mit dem Datum und der Bezeichnung des Gerichts versah,
kein Grundrecht des Antragstellers verletzt worden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 24 StGHG.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.