Urteil des StGH Hessen vom 14.03.2017

StGH Hessen: vorrang des bundesrechts, hessen, grundrecht, prüfungsbefugnis, aussetzung, verfassungsbeschwerde, bewährung, vollstreckung, beweiswürdigung, festgabe

Gericht:
Staatsgerichtshof
des Landes
Hessen
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
P.St. 857
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
Art 31 GG, Art 142 GG, §§ 45
StGHG
Leitsatz
Zur Abgrenzung der Prüfungsbefugnis des Staatsgerichtshofs bei gerichtlichen
Entscheidungen, die in einem bundesgesetzlich geregelten Verfahren ergangen sind
und auf Bundesrecht beruhen.
Tenor
Der Antrag wird auf Kosten des Antragstellers zurückgewiesen.
Die Gebühr wird auf 150,-- DM festgesetzt.
I.
Der Antragsteller verbüßt zur Zeit in der Justizvollzugsanstalt...
Gesamtfreiheitsstrafen von insgesamt 3 Jahren und 6 Monaten, unter anderem
wegen Urkundenfälschung, Betruges und Hehlerei. Strafende ist der .... Als erster
Vorsitzender des beim Amtsgericht ... eingetragenen Vereins "HELP-UNION"
versucht er aus der Strafhaft heraus die Arbeit des Vereins zu aktivieren und gibt
mit anderen eine Zeitschrift "Megaphon" heraus.
Durch Beschluß vom 4. März 1977 - ... (...) - lehnte das Landgericht... die
Aussetzung der Vollstreckung der Restfreiheitsstrafe zur Bewährung ab. Gegen
diesen Beschluß erhob der Antragsteller sofortige Beschwerde, die das
Oberlandesgericht in Frankfurt am Main durch Beschluß vom 27. April 1977 - ... -
als unbegründet verwarf, weil der Antragsteller die Verbindung zur HELP-OTION,
einer Tarnorganisation, nicht abgebrochen habe und daher befürchtet werden
müsse, daß er sich wieder in die frühere, Straftaten fördernde Lebensweise
hineinziehen lasse. Einen weiteren Antrag des Antragstellers auf Aussetzung des
Strafrestes zur Bewährung hat das Oberlandesgericht in Frankfurt am Main durch
Beschluß vom 4. Oktober 1977 - ... - zurückgewiesen.
II.
Mit einer am 21. Juni 1977 bei der Geschäftsstelle des Staatsgerichtshofs
eingegangenen, als "Verfassungsbeschwerde" bezeichneten Eingabe seiner
Verfahrensbevollmächtigten beantragt der Antragsteller, den Beschluß des
Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 27. April 1977 in der
Strafvollstreckungssache gegen.... ... - aufzuheben und die sofortige Beschwerde
des Beschwerdeführers gegen den Beschluß der 1. Strafvollstreckungskammer
des Landgerichts... vom 4. März 1977 an einen anderen Strafsenat des
Oberlandesgerichts in Frankfurt am Main zur Entscheidung zu verweisen.
Er beruft sich auf die Verletzung des Grundrechts aus Art. 15 HV und führt zur
Begründung aus, bislang seien keine Tatsachen festgestellt, die den Schluß
rechtfertigten, bei der HELP-UNION handele es sich um eine kriminelle
Vereinigung. Vielmehr sei dieser Verein ordnungsgemäß im Vereinsregister des
Amtsgerichts in ... eingetragen. Auch sei nicht einmal in dem Urteil der 23. Großen
Strafkammer des Landgerichts in ... vom 9. Februar 1976 - ... - festgestellt worden,
Strafkammer des Landgerichts in ... vom 9. Februar 1976 - ... - festgestellt worden,
daß der Antragsteller auf Grund seiner Verbindung zu der HELP-UNION straffällig
geworden sei.
Auf die Verfügung des Präsidenten des Staatsgerichtshofs vom 24. Juni 1977, in
der auf Bedenken gegen die Zulässigkeit des Antrages vom 20. Juni 1977
hingewiesen wurde, hat der Antragsteller auf die Stellungnahme seiner
Verfahrensbevollmächtigten in der Parallelsache P.St. 858 verwiesen. Darin haben
sie ausgeführt, Landesverfassungsrecht sei zwar dem Bundesverfassungsrecht
gegenüber subsidiär, doch bedeute ein Verstoß gegen Bundesverfassungsrecht
zugleich auch eine Verletzung von Landesverfassungsrecht. Auch ein
Bundesorgan könne gegen ein landesverfassungsrechtlich garantiertes
Grundrecht verstoßen, seine Verletzung müsse dann von dem
Landesverfassungsgericht geahndet werden können. Im übrigen ständen die
Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht und die Möglichkeit, den
Staatsgerichtshof als Landesverfassungsgericht anzurufen, selbständig
nebeneinander.
III.
Der Landesanwalt weist darauf hin, daß der Staatsgerichtshof aus den im
Belehrungsschreiben des Präsidenten des Staatsgerichtshofs vom 24. Juni 1977
zutreffend genannten Gründen nicht befugt sei, den angefochtenen Beschluß des
Oberlandesgerichts in Frankfurt am Main im Sinne des Antrages zu überprüfen.
IV.
Der Antrag kann keinen Erfolg haben; er ist unzulässig.
1. Wird gegen eine gerichtliche Entscheidung nach Erschöpfung des Rechtsweges
(§ 48 Abs. 3 Satz 1 StGHG) der Antrag zur Verteidigung der Grundrechte nach §
45 Abs. 2 StGHG gestellt, so kann diese vom Staatsgerichtshof nur in engen
Grenzen überprüft werden. Der Staatsgerichtshof ist als
Landesverfassungsgericht, wie er in ständiger Rechtsprechung - zuletzt im
Beschluß vom 10. November 1976 - P.St. 831 - ausgesprochen hat, kein
Rechtsmittelgericht, durch das eine neue, in den Verfahrensordnungen der
allgemeinen Gerichte, u.a. in der Strafprozeßordnung, nicht vorgesehene weitere
Instanz eröffnet wird. Es ist nicht seine Aufgabe, Entscheidungen der Gerichte
allgemein auf die Richtigkeit der getroffenen tatsächlichen Feststellungen, der
Vertretbarkeit der Beweiswürdigung, der Auslegung der Gesetze und deren
Anwendung auf den Einzelfall zu überprüfen. Vielmehr hat der Staatsgerichtshof
im Grundrechtsklageverfahren nur zu prüfen, ob das höchste in der Sache
zuständige Gericht bei seiner Entscheidung subjektive Rechte verbürgende
Normen (Grundrechte oder grundrechtsähnliche Rechte) der Verfassung des
Landes Hessen verletzt hat (ständige Rechtsprechung des StGH, u.a. Beschlüsse
vom 5. November 1975 - P.St. 794 - und vom 10. November 1976 - P.St. 830 -;
ebenso Bayer.VerfGH in VerfGH 26, 118 [121]; vgl. auch BVerfGE 29, 159 [163]).
Ein solcher Verfassungsverstoß liegt nur dann vor, wenn das Gericht bei der
Anwendung und Auslegung von Landesrecht maßgebende Rechtssätze der
Verfassung des Landes Hessen außer acht gelassen und dadurch
verfassungsmäßige Rechte des Antragstellers beeinträchtigt hat (so StGH, Urteil
vom 3. Juli 1968 - P.St. 470 -, ESVGH 19, 7 [9] = StAnz. 1968, 1225 = DÖV 1968,
693 = DVBl. 1969, 34 m.Anm.Heydt = NJW 1968, 1923, und Beschluß vom 6.
Januar 1971 - P.St. 599 -). Gegenüber materiellem Bundesrecht, das als solches -
wie auch seine Anwendung - wegen seines höheren Ranges gemäß Art. 31 GG
nicht am Maßstab der Verfassung des Landes Hessen gemessen werden kann,
beschränkt sich die Prüfungsbefugnis des Staatsgerichtshofs darauf, ob sich das
Gericht bei seiner angegriffenen Entscheidung etwa von willkürlichen, d.h. objektiv
sachfremden Erwägungen hat leiten lassen und sich damit außerhalb Jeder
Rechtsanwendung überhaupt gestellt, also seiner Entscheidung in Wahrheit
überhaupt kein Bundesrecht zugrunde gelegt hat (so StGH in ständiger
Rechtsprechung, u.a. Beschlüsse vom 9. Februar 1972 - P.St 658 - und vom 5.
Dezember 1975 - P.St. 772 -; ebenso Bayer.VerfGH in VerfGH 20, 87 [91] mit
weiteren Nachweisen). Willkürlich ist eine Entscheidung allerdings nicht schon
dann, wenn sie nach Ansicht des Antragstellers fehlerhaft ist. Hinzukommen muß
vielmehr, daß sie bei Würdigung der die Verfassung beherrschenden Gedanken
nicht mehr verständlich ist und sich der Schluß aufdrängt, sie beruhe auf
sachfremden Erwägungen (so StGH, Beschluß vom 28. Juli 1976 - P.St. 793 -).
2. Das Nebeneinander der beiden Rechtsinstitute der Verfassungsbeschwerde
2. Das Nebeneinander der beiden Rechtsinstitute der Verfassungsbeschwerde
zum Bundesverfassungsgericht und der Grundrechtsklage zum Staatsgerichtshof
(vgl. § 90 Abs. 3 BVerfGG), auf die der Antragsteller besonders hinweist, steht
dieser Rechtsprechung des Staatsgerichtshofs zur eingeschränkten
Prüfungsbefugnis von Gerichtsentscheidungen nicht entgegen. Die
Grundrechtsbereiche von Bund und Ländern stehen zwar selbständig
nebeneinander (Art. 142 GG); doch gewähren und schützen sie jeweils nur ein und
dasselbe Grundrecht. Allerdings kann hieraus nicht gefolgert werden, daß der
Staatsgerichtshof als Landesverfassungsgericht Gerichtentscheidungen, die allein
auf der Auslegung und Anwendung von Bundesrecht beruhen, inhaltlich überprüfen
dürfte, wenn ein Antragsteller behauptet, ein ihm von der Landesverfassung
gewährtes Grundrecht sei verletzt, das mit einem Bundesgrundrecht inhaltsgleich
sei (vgl. Friesenhahn, Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz (Festgabe,
Band I, 1976, S. 748 [767]). Vielmehr kann Art. 142 GG nur so verstanden werden,
daß die mit dem Grundgesetz übereinstimmenden Grundrechte entgegen Art. 31
GG zwar als Landes(-verfassungs-)recht in Kraft geblieben sind, daß sich dadurch
aber am Vorrang des Bundesrechts selbst nichts geändert hat (so StGH, Beschluß
vom 10. September 1975 - P.St. 761 -; vgl. auch BVerfGE 36, 342 [362/363]). Der
höhere Rang einer Grundrechtsnorm gegenüber der von einem Gericht
angewandten Bundesrechtsnorm wirkt sich im Verhältnis der Prüfungsbefugnis von
Bundes- und Landesverfassungsgericht nur auf die bundesverfassungsrechtliche
Grundrechtsnorm aus, weil die in Art. 142 GG ausgesprochene Weitergeltung
gewisser Grundrechte der Landesverfassung nicht ihrer Erhöhung über den Status
des Landesrechts hinaus zur Folge hat. Die Beachtung der inhaltsgleichen
Bundesgrundrechte durch eine Gerichtsentscheidung, die auf der Anwendung und
Auslegung von Bundesrecht beruht, ist daher allein der Kontrolle durch das
Bundesverfassungsgericht vorbehalten (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, § 90 Abs. 1
BVerfGG), während für die Prüfung der Frage, ob eine gerichtliche Entscheidung,
die auf Landesrecht beruht, Landesgrundrechte verletzt, allein die
Landesverfassungsgerichte zuständig sind (§ 90 Abs. 3 BVerfGG). Der Umstand,
daß das Gericht seine Entscheidung in einem bundesrechtlich geregelten
Verfahren getroffen hat, ist für die Frage der Verletzung materieller
Landesgrundrechte nicht entscheidend. Er könnte allenfalls Bedeutung erlangen,
wenn ein Verstoß gegen verfahrensrechtliche Grundrechte der Landesverfassung
gerügt wird. Der Antragsteller rügt aber ausdrücklich nur die Verletzung des
Grundrechts der Meinungsfreiheit aus Art. 11 HV und die Vereinsfreiheit aus Art.
15 HV.
3. Zu Unrecht beruft sich der Antragsteller auch auf die Entscheidung des
Bayerischen Verfassungsgerichtshofs in DVBl. 1967, 453. Darin wird vielmehr
ausgeführt, daß der Verfassungsgerichtshof als Landesverfassungsgericht nicht
darüber zu befinden habe, ob in den angegriffenen gerichtlichen Entscheidungen
jene Vorschriften der Bayerischen Verfassung bei der Anwendung des
einschlägigen Bundesrechts (§§ 377, 383 f. ZPO) außer acht gelassen worden
seien und ob deshalb die Rechtswidrigkeit der Ladungen zu den Beweisterminen
und die Berechtigung der Weigerung, als Zeuge auszusagen, zu Unrecht verneint
worden sei. Der Verfassungsgerichtshof habe vielmehr nur zu prüfen, ob sich die
Gerichte von sachfremden Erwägungen hätten leiten lassen, ob ihre
Entscheidungen also auf Willkür beruhten (Bayer.VerfGH, aaO., S.454). Damit
nimmt auch der Bayerische Verfassungsgerichtshof sein Prüfungsrecht nur
beschränkt auf das Willkürverbot in Anspruch, soweit gerichtliche Entscheidungen
auf der Anwendung und Auslegung von Bundesrecht beruhen.
4. Schließlich führt auch der von dem Antragsteller aufgeworfene Gesichtspunkt,
ein Verstoß gegen ein landesverfassungsrechtlich garantiertes Grundrecht könne
auch von einem Organ des Bundes begangen werden und müsse dann von dem
Landesverfassungsgericht geahndet werden können, nicht zu einer anderen
Beurteilung der Zulässigkeit des Antrages. Einmal handelt es sich bei dem
Oberlandesgericht Frankfurt am Main nicht um ein Bundesorgan, sondern um ein
Rechtsprechungsorgan des Landes Hessen. Zum anderen hängt die Entscheidung
der Frage, ob eine Zuständigkeit eines Landesverfassungsgerichts bzw. des
Bundesverfassungsgerichts gegeben ist, grundsätzlich nicht davon ab, ob der
beanstandete Eingriff in die Grundrechtssphäre sich als ein Akt der
Bundesstaatsgewalt oder ein solcher der Landesstaatsgewalt darstellt (so
Kommentar zum Bonner Grundgesetz, Art. 142, Erl. II, 3 d). Entscheidend ist
vielmehr - wie ausgeführt -, ob die Maßnahme des jeweiligen Organs auf Bundes-
oder Landesrecht beruht.
5. Der angegriffene Beschluß des Oberlandesgerichts in Frankfurt am Main vom
5. Der angegriffene Beschluß des Oberlandesgerichts in Frankfurt am Main vom
27. April 1977 stützt sich zur Rechtfertigung für die Ablehnung des Antrages auf
Aussetzung der Reststrafe zur Bewährung auf § 57 Abs. 1 StGB. Damit hat das
Oberlandesgericht seinem Beschluß ausdrücklich Bundesrecht zugrunde gelegt.
Irgendwelche Anhaltspunkte für eine willkürliche Entscheidung, die in diesem Falle
nach dem Gesagten allein zu einem vom Staatsgerichtshof zu ahndenden
Grundrechtsverstoß hätten führen können, sind nicht ersichtlich. Es kommt hinzu,
daß die Entscheidung im wesentlichen von einer ungünstigen Sozialprognose für
den Antragsteller abhängt. Die hierzu getroffenen tatsächlichen Feststellungen
kann der Staatsgerichtshof als Landesverfassungsgericht ohnehin nicht
überprüfen.
6. Die Kostenentscheidung beruht auf § 24 StGHG.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert.