Urteil des StGH Hessen vom 14.03.2017

StGH Hessen: besuch, hessen, einschränkung von grundrechten, elternrecht, schüler, ermächtigung, rechtsverordnung, zugang, gymnasium, verfügung

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Gericht:
Staatsgerichtshof
des Landes
Hessen
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
P.St. 608, P.St.
637
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
Art 12 Abs 1 GG, Art 1 Verf HE
vom 01.12.1946, Art 2 Abs 1
Verf HE vom 01.12.1946, Art 9
Verf HE vom 01.12.1946, Art
55 Verf HE vom 01.12.1946
Klage gegen Einführung der obligatorischen Förderstufe
Tenor
Die Anträge werden zurückgewiesen.
Die Entscheidung ergeht gebührenfrei. Auslagen werden nicht erstattet.
Tatbestand
A
(Rn.1) Durch das Gesetz zur Änderung der hessischen Schulgesetze vom 29. März
1969 (GVBl. I S. 44) wurde die Landesregierung ermächtigt, durch
Rechtsverordnung "Förderstufen" einzuführen, deren Besuch für alle
Schulpflichtigen des 5. und 6. Schuljahrgangs, die in dem betreffenden
Schulaufsichtsbereich ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt haben,
obligatorisch ist.
(Rn.2) Die durch dieses Gesetz in das Schulverwaltungsgesetz – SchVG – (vom 28.
Juni 1961 (GVBl. S. 87), geändert durch das Gesetz vom 6. Februar 1962 (GVBl. S.
21), Bekanntmachung vom 30. Mai 1969 (GVBl. I S. 87)), eingefügten Vorschriften
lauten wie folgt:
(Rn.3) § 2 Abs. 2
(Rn.4) Die Wahl des Bildungsweges nach dem Besuch der Grundschule ist Sache
der Erziehungsberechtigten; die Pflicht zum Besuch einer Förderstufe oder einer
Sonderschule bleibt unberührt. Der Besuch einer weiterführenden Schule setzt
Eignung voraus; das Nähere regelt der Kultusminister.
(Rn.5) § 8 Abs. 2
(Rn.6) Förderstufen sind in der Regel Bestandteil der Hauptschulen oder der
Gesamtschulen; die umfassen die Schuljahrgänge 5 und 6 und sollen in der Regel
mindestens dreizügig sein. Förderstufen unterstehen der Aufsicht eines eigenen
pädagogischen Leiters. Auf die räumliche Zuordnung der Förderstufe zur
Hauptschule kann in Ausnahmen verzichtet werden, wenn Schulanlagen anderer
Schulformen genutzt werden.
(Rn.7) § 9 Förderstufen
(Rn.8) Förderstufen sind einzurichten, wenn die persönlichen, sächlichen und
schulorganisatorischen Voraussetzungen vorliegen. Die Landesregierung
bestimmt im Benehmen mit dem Schulträger durch Rechtsverordnung, in welchen
Schulaufsichtsbereichen Förderstufen eingerichtet werden.
(Rn.9) § 5 Abs. 2 Schulpflichtgesetz – SchpflG – (i. d. F. vom 1. Dezember 1965
(GVBl. I S. 324), geändert durch das Gesetz vom 26. April 1968 (GVBl. I S. 121),
Bekanntmachung vom 30. Mai 1969 (GVBl. I S. 104)) lautet nunmehr wie folgt:
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(Rn.10) Nach dem Besuch der Grundschule wird die Vollzeitschulpflicht durch den
Besuch einer Hauptschule erfüllt; sie kann auch durch den Besuch einer
Realschule oder eines Gymnasiums erfüllt werden. Wenn für den Schulbezirk, in
dem der Schulpflichtige seinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt hat, die
Förderstufe durch Rechtsverordnung eingeführt ist, ist in den Schuljahrgängen 5
und 6 die Schule zu besuchen, an der die Förderstufe eingerichtet ist. Nach dem
Besuch der Klasse 8 kann die Vollzeitschulpflicht auch durch den Besuch einer
öffentlichen oder als Ersatzschule genehmigten zweijährigen Berufsfachschule
erfüllt werden.
(Rn.11) Durch die Erste Verordnung zur Ausführung des § 9 des SchVG (1. VO)
vom 24. Juni 1969 (GVBl. I S. 120) wurde die Förderstufe im Landkreis Wetzlar,
durch die Zweite Verordnung vom 8. Juli 1969 (GVBl. I S. 126) im Landkreis
Usingen, durch die Dritte Verordnung vom 27. Februar 1970 (GVBl. I S. 216) in der
Stadt Hanau, im Landkreis Hanau und den Gemeinden Heldenbergen, Kaichen
und Büdesheim und durch die Vierte Verordnung vom 17. März 1970 (GVBl. I S.
264) in den Landkreisen Dieburg, Kassel, Offenbach, Witzenhausen, Gießen und in
der Stadt Gießen eingerichtet.
Entscheidungsgründe
B
I.
(Rn.12) 1. Die Kläger 1 bis 18 haben mit einer Eingabe vom 23. März 1970,
eingegangen am 26. März 1970, den Staatsgerichtshof angerufen und beantragt,
der Staatsgerichtshof möge erkennen:
(Rn.13) 1. Die Verordnung der Hessischen Landesregierung vom 27. Februar 1970
(GVBl. Nr. 12 S. 216) in Verbindung mit §§ 2, Abs. 2, Satz 1, HS 2, 8 Abs. 2, 9 des
Hessischen Schulverwaltungsgesetzes in der Fassung vom 30. Mai 1969 (GVBl. Nr.
12 S. 88) und § 5 Abs. 2 Satz 2 des Hessischen Schulpflichtgesetzes in der
Fassung vom 30. Mai 1969 (GVBl. Nr. 12 S. 104) verletzen die Hessische
Verfassung, soweit sie den Besuch der Förderstufe in den Klassen 5 und 6 zur
ausschließlichen Pflicht machen.
(Rn.14) 2. Die Schließung der Eingangsklassen (5. Klasse) an den Realschulen und
Gymnasien in den Schulaufsichtsbereichen ... verletzt die Hessische Verfassung.
(Rn.15) 3. Das Land Hessen hat die Kosten des Verfahrens einschließlich der
außergerichtlichen Kosten der Antragsteller zu tragen.
(Rn.16) Die Kläger 19 bis 88 haben mit einer am 29. März 1971 datierten, am 25.
März 1971 eingegangenen Eingabe den Staatsgerichtshof angerufen und
beantragt:
(Rn.17) 1. Die Vierte Verordnung der Hessischen Landesregierung zur Ausführung
des § 9 des Schulverwaltungsgesetzes vom 17. März 1970 (GVBl. S. 264) in
Verbindung mit § 2 Abs. 2 Satz 1 HS 2, § 8 Abs. 2, § 9 des Hessischen
Schulverwaltungsgesetzes in der Fassung vom 30. Mai 1969 (GVBl. S. 88) und § 5
Abs. 2 Satz 2 des Hessischen Schulpflichtgesetzes in der Fassung vom 30. Mai
1969 (GVBl. S. 104) verletzen die Hessische Verfassung, soweit sie den Besuch
der Förderstufe in den Klassen 5 und 6 zur ausschließlichen Pflicht machen.
(Rn.18) 2. Die Schließung der Eingangsklassen (5. und 6. Klasse) an den
Realschulen und Gymnasien in den Schulaufsichtsbereichen ..., ... verletzt die
Hessische Verfassung.
(Rn.19) 3. Das Land Hessen hat die Kosten des Verfahrens einschließlich der
außergerichtlichen Kosten der Antragsteller zu tragen.
(Rn.20) Die beiden Verfahren wurden zur gemeinsamen Verhandlung und
Entscheidung verbunden.
(Rn.21) 2. Die Kläger machen geltend, die bezeichneten Kinder, die zur Zeit die
Grundschule besuchten, sollten nach dem Wunsch ihrer Eltern im Anschluss an die
vierjährige Grundschulzeit ein Gymnasium oder eine Realschule besuchen. Einige
der Kinder, die im Landkreis ... wohnen, hätten bereits freiwillig in der 5. Klasse die
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der Kinder, die im Landkreis ... wohnen, hätten bereits freiwillig in der 5. Klasse die
Förderstufe besucht. Da die Eltern dabei schlechte Erfahrungen gemacht hätten,
sollten ihre Kinder von der 6. Klasse an ein Gymnasium besuchen. Durch die
Einführung der obligatorischen Förderstufe in den Schulaufsichtsbereichen, in
denen sie wohnen, seien diese Pläne zunichte gemacht worden.
(Rn.22) a) Die Zulässigkeit der Grundrechtsklagen folge aus §§ 45 Abs. 2, 46, 48
StGHG. Durch die Verordnungen vom 27. Februar 1970 und 17. März 1970 seien
die Eltern in ihren Grundrechten aus Art. 1, 2, 9, 55, 56 Abs. 6 der Hessischen
Verfassung (HV), die Kinder in ihren Grundrechten aus Art. 1, 2, 59 Abs. 2 HV
verletzt worden. Einer vorherigen Erschöpfung des Rechtsweges bedürfe es nicht,
da die Grundrechte unmittelbar durch die angegriffenen Rechtsnormen, nicht
durch einen besonderen Verwaltungsakt verletzt worden seien.
(Rn.23) Auch die unter Ziffer 2 gestellten Anträge seien zulässig. Auf die
Grundrechtsklage hin könne der Staatsgerichtshof auch prüfen, ob die konkrete
Durchführung einer möglicherweise verfassungskonformen Norm die Antragsteller
in ihren Grundrechten verletze. Liege die Grundrechtsverletzung in einem
sonstigen Akt der öffentlichen Hand im Rang unter der Norm, so sei der direkte
Weg zum Staatsgerichtshof vor Ausschöpfung des Rechtsweges nur gegeben,
wenn die Voraussetzungen des § 48 Abs. 1 Satz 2 StGHG erfüllt seien. Das sei hier
der Fall, weil es das erklärte Ziel der Hessischen Landesregierung sei, die
Förderstufe im gesamten Land einzurichten und hierbei auch an den übrigen
öffentlichen Gymnasien und Realschulen die 5. und 6. Klasse zu schließen.
(Rn.24) Der Hilfsantrag sei für den Fall gestellt, dass der Staatsgerichtshof die
Überprüfung des einen oder anderen gerügten Mangels der Förderstufe deshalb
ablehne, weil es sich hierbei um eine Frage der Gesetzmäßigkeit handele und der
Rechtsweg zu den Verwaltungsgerichten eröffnet sei.
(Rn.25) b) Ihr Vorbringen, sie seien in Grundrechten der Hessischen Verfassung
verletzt worden, begründen die Antragsteller mit folgenden Darlegungen:
(Rn.26) Nach Art. 55 HV sei die Erziehung der Kinder Recht und Pflicht der Eltern.
Zu diesem Erziehungsrecht gehöre die Auswahl unter den vom Staat
eingerichteten oder zugelassenen Schulen. Die Eltern könnten zwar nicht
verlangen, dass der Staat eine bestimmte Schule errichte; sie könnten aber
zumindest bestimmen, ob ihr Kind eine bestimmte Schule, die der Staat
bereitstelle, besuche. Die obligatorische Förderstufe schneide den Eltern die
Möglichkeit ab, ihre Kinder in den Klassen 5 und 6 auf die vorhandenen und vom
Staat zur Verfügung gestellten Gymnasien und Realschulen zu schicken. Das in
dem Grundrecht des Art. 55 HV enthaltene Bestimmungsrecht der Eltern werde
durch die Ausgestaltung der Förderstufe verletzt, weil sie keinen Einfluß auf die
Einschulung der Schüler in die einzelnen Kurse der Förderstufe (A, B C) nehmen
könnten. Es werde damit eine sogenannte positive Auslese vom Staat getroffen,
die keine Rücksicht auf den Willen der Erziehungsberechtigten nehme. Die
Hessische Landesregierung betone zwar, daß auch der Elternwunsch bei der
Ersteinstufung der Kinder Berücksichtigung finde und daß bei Abstufungen gegen
den Willen der Eltern zeitliche Barrieren vorgeschoben seien. Diese Möglichkeiten
seien aber weder in den hessischen Schulgesetzen noch in den angegriffenen
Verordnungen niedergelegt. Nach den Grundsätzen der Förderstufe solle über die
Fächerwahl allein der Lehrer nach Eignung und Neigung des Kindes entscheiden.
Die zwangsweise Einführung der Förderstufe verstoße auch insoweit gegen das
Grundrecht der Eltern aus Art. 55 HV, als Hand in Hand damit die Unterhaltung
von Sexten und Quinten an den Gymnasien und Realschulen in den
Schulaufsichtsbereichen ... bzw. ... unterbleibe. Darin liege zusätzlich zu dem
ausdrücklich gesetzlich angeordneten Zwang noch ein faktischer Zwang für die
Eltern, ihre Kinder auf die Förderstufe zu schicken. Die Errichtung und Schließung
von Schulen sei zwar eine organisatorische Maßnahme, die in den
Zuständigkeitsbereich des Staates gemäß Art. 56 Abs. 1 Satz 2 HV falle. Es
bedeute aber eine Aushöhlung des Elternrechts auf Auswahl zwischen den
grundsätzlich möglichen Schulen, wenn der Staat nur eine Schulart zur Verfügung
stelle. Der Staat müsse seine organisatorischen Maßnahmen so einrichten, daß
das Recht der Eltern nicht in unzumutbarer Weise beeinträchtigt werde.
Unzumutbar sei es jedoch für die Eltern, ihre Kinder in einen Schultyp zu schicken,
der so außerordentlich fragwürdig sei wie die Förderstufe. Allenfalls lasse sich
dieses Experiment durch die Einrichtung freiwilliger Förderstufen (Versuchsschulen)
rechtfertigen.
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(Rn.27) Die obligatorische Förderstufe verletze die Eltern auch in ihrem Grundrecht
aus Art. 56 Abs. 6 HV, dem sogenannten pädagogischen Elternrecht. Weder in den
angegriffenen Verordnungen noch in den hessischen Schulgesetzen sei über die
Praxis und die Unterrichtsform der Förderstufe etwas enthalten. Alle Förderstufen
orientierten sich vielmehr nach Richtlinien und Handreichungen des
Kultusministers. Weder bei Erlass des Gesetzes zur Änderung der hessischen
Schulgesetze, noch bei Erlass der angegriffenen Verordnungen, noch im
gegenwärtigen Zeitpunkt werde in den Förderstufen Unterricht erteilt, bei dessen
Gestaltung die Eltern Gelegenheit zur Mitbestimmung gemäß Art. 56 Abs. 6 HV
gehabt hätten. Zwar treffe es zu, dass sich dieses Mitbestimmungsgrundrecht
lediglich auf das Unterrichtswesen als Teil des Schulwesens und nicht auch auf die
Eröffnung und Schließung von Schulen und Unterrichtsstätten erstrecke. Eine
Schulform könne aber nicht als Leerform, sondern zur zusammen mit einem
spezifischen Unterrichtswesen eingeführt werden. Die Hessische Landesregierung
sei selbst der Auffassung, dass der Gesetzgeber mit der Aufnahme der
obligatorischen Förderstufe in das Gesetz auch die inneren Voraussetzungen für
die Aufnahme dieses Unterrichts als erfüllt ansehe. Diese inneren
Schulangelegenheiten – Bildungspläne, Stundentafeln, Regelung des Kurssystems
– aber seien das Unterrichtswesen der Förderstufe, bei deren Gestaltung die Eltern
nicht mitgewirkt hätten. Die Einführung der Förderstufe sei deshalb nicht
verfassungsmäßig.
(Rn.28) Die obligatorische Förderstufe verletze die antragstellenden Eltern des
Weiteren in ihrem Grundrecht der Gewissensfreiheit nach Art. 9 HV.
Gewissensfreiheit sei die Freiheit, der Entscheidung des Gewissens auch
gegenüber staatlichen Ansprüchen und Zwängen folgen zu können. Gerade weil
die Eltern davon überzeugt seien, dass die Kinder an der Förderstufe nur
mangelhaft ausgebildet würden, seien sie in ihrem Gewissen ihren Kindern
gegenüber verpflichtet, sie auf die nach ihrer Meinung bessere Schule zu schicken.
(Rn.29) Art. 59 Abs. 2 HV räume den Kindern ein echtes Grundrecht ein und stelle
nicht lediglich eine Anweisung an die Verwaltung dar. Die negative Formulierung,
dass der Zugang zu den genannten Ausbildungsstätten nur von der Eignung
abhängig gemacht werden dürfe, spreche nicht dagegen, dass die Schüler ein
Grundrecht darauf hätten, aufgenommen zu werden, wenn sie geeignet seien. Wie
schon Art. 12 GG zeige, sei ein Grundrecht auf freie Wahl der Ausbildungsstätte
dem Verfassungsrecht nicht unbekannt. Obwohl die antragstellenden Kinder
sämtlich für den Besuch der von ihnen gewünschten Schule geeignet seien, werde
ihnen dies verwehrt, und sie würden gezwungen, für zwei weitere Jahre die
Hauptschule zu besuchen, die keine höhere Schule oder Mittelschule im Sinne von
Art. 59 Abs. 2 HV sei. Als höhere Schule im Sinne von Art. 59 Abs. 2 HV sei
eindeutig eine gegenüber der allgemeinen Schule weiterführende Schule zu
verstehen. Die allgemeine Schule, früher Volksschule, sei heute die Hauptschule.
Die Förderstufe sei Bestandteil der Hauptschule (§ 8 Abs. 2 SchVG). Durch die
Pflicht zum Besuch dieser Förderstufe werde den geeigneten Schülern der Zugang
zu den in Art. 59 Abs. 2 HV genannten Ausbildungsstätten für die 5. und 6. Klasse
verwehrt.
(Rn.30) Das Grundrecht der Kinder aus Art. 59 Abs. 2 HV werde durch die
obligatorische Förderstufe auch dadurch verletzt, dass sie gezwungen seien, einen
Schultyp mit einer bestimmten Fächerkombination zu besuchen. Sie hätten keine
Wahlmöglichkeiten, sondern müssten die Sprache als erste erlernen, die in ihrer
Schule gelehrt werde. In der Regel sei das Englisch. Damit würden sie auf eine
bestimmte weiterführende Schule festgelegt. Das in Art. 59 Abs. 2 HV
grundrechtlich garantierte Wahlrecht der Ausbildungsstätte werde damit auch für
die Zeit nach der 6. Förderstufenklasse illusorisch.
(Rn.31) Die Eltern und Kinder würden durch die Einführung der obligatorischen
Förderstufe in ihrem Grundrecht aus Art. 2 HV, ihrer allgemeinen Freiheit und ihrer
Handlungsfreiheit, verletzt. Ein wesentlicher Inhalt des allgemeinen Freiheitsrechts
des Menschen sei das Selbstbestimmungsrecht hinsichtlich seines beruflichen und
sonstigen Werdeganges, die Freiheit davor, vom Staat verplant, vorprogrammiert
und in eine bestimmte Richtung gezwungen zu werden. Die Hessische Verfassung
kenne zwar als spezielles Grundrecht nicht das umfassende Recht auf freie Wahl
des Berufs und der Ausbildungsstätte wie Art. 12 GG. Art. 59 Abs. 2 HV stelle aber
als Grundrecht nur einen Ausschnitt von Art. 12 GG dar. Das allgemeine
Selbstbestimmungsrecht bezüglich allgemeiner und spezieller Bildung sei in Art. 2
Abs. 1 HV normiert. Gerade diese Freiheit werde durch die Förderstufe
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Abs. 1 HV normiert. Gerade diese Freiheit werde durch die Förderstufe
beschnitten, weil sie die Ausbildung der Kinder in bestimmten Fächern oder in
Kursen von bestimmten Schwierigkeitsgraden bezwecke, so wie es der Lehrer –
also der Staat – für den jeweiligen Schüler als das Beste ansehe. Das B-Kurs-Kind
habe zwar nach Durchlaufen der obligatorischen Förderstufe einen theoretischen
Anspruch, nach § 2 Abs. 2 SchVG in ein Gymnasium aufgenommen zu werden. Da
es aber bisher im Prinzip nach dem Lehrstoff der Realschule unterrichtet worden
sei, müsse es den Ausbildungsrückstand zu den A-Kurs-Kindern aufholen. Das sei
ein Unterfangen, das dem durchschnittlich oder weniger begabten Kind nicht
gelingen könne und das ihm seine Eltern nicht zumuten könnten. Die Beseitigung
einer klassenabhängigen Bildungsbarriere rechtfertige nicht die Aufrichtung einer
staatlich verordneten Ausbildungsbarriere. Insoweit verweisen die Kläger auf ein
Referat von Professor Dr. Geiger vom 26. Mai 1968 vor dem Hessischen
Philologenverband.
(Rn.32) Die durch Ordnungsstrafe sanktionierte Verpflichtung der Eltern, ihre
Kinder in der 5. und 6. Klasse die Förderstufe besuchen zu lassen, beruhe zwar auf
dem Schulverwaltungs- und dem Schulpflichtgesetz. Die dadurch bewirkte
Einschränkung der Handlungsfreiheit sei jedoch durch den Gesetzesvorbehalt des
Art. 2 Abs. 2 HV nicht gedeckt. Es sei selbstverständlich, dass zu einem
verfassungsmäßigen Gesetzesvorbehalt nur Gesetze rechneten, die selbst formell
und materiell mit der Verfassung in Einklang ständen.
(Rn.33) Die Pflicht, in der 5. und 6. Klasse die Förderstufe und nicht die gewünschte
weiterbildende Schule zu besuchen, stehe jedoch gerade mit Art. 59 Abs. 2 HV
nicht in Einklang. Nur wegen mangelnder Eignung und nicht etwa, weil am Wohnsitz
die obligatorische Förderstufe eingerichtet sei, dürfe einem Schüler der Zugang zu
der von ihm oder seinen Eltern ausgesuchten höheren Schule verwehrt werden.
Eine andere rechtliche oder faktische Schranke sei in Art. 59 Abs. 2 HV verboten
und könne somit auch nicht über ein Gesetz die Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs.
2 HV einschränken.
(Rn.34) Man müsse sich auch von dem traditionellen und bequemen Gedanken
losmachen, dass der Gesetzgeber befugt sei, alles zu regeln, was er für
zweckmäßig halte. Rechtsstaatliche Grundsätze verlangten vielmehr, dass der
Gesetzgeber das Übermaßverbot beachte, d. h. nicht über erforderliche und
verhältnismäßige Gesetzgebungsakte hinausgehe. Dem Verfassungsgericht
obliege es daher auch zu prüfen, ob mit der zwangsweisen Förderstufe nicht ein
Verstoß gegen das Übermaßverbot begangen worden sei.
(Rn.35) Durch die Einführung der obligatorischen Förderstufe werde für Eltern und
Kinder auch der Gleichheitsgrundsatz aus Art. 1 HV verletzt. Das Land Hessen
habe 39 Landkreise und 9 kreisfreie Städte. Davon sei bisher in 8 Landkreisen und
in 2 Städten die obligatorische Förderstufe durch Rechtsverordnung eingeführt
worden. In allen übrigen Teilen Hessens hätten die Schulpflichtigen dagegen nach
wie vor das Recht, nach dem Besuch der vierjährigen Grundschule frei zwischen
Hauptschule, Realschule, Gymnasium und Förderstufe, soweit diese auf freiwilliger
Basis eingeführt worden sei, zu wählen. Das gleiche gelte für die Kinder im übrigen
Bundesgebiet. Es sei kein Grund dafür ersichtlich, warum gerade den
Antragstellern diese Wahlmöglichkeit verwehrt sein sollte. Die Differenzierung
zwischen den antragstellenden und den übrigen hessischen und deutschen
Kindern sei auch nicht etwa deshalb geboten, weil das Land Hessen die
obligatorische Förderstufe allgemein einführen wolle. Es liege nicht im Schultyp
"Förderstufe" begründet, dass er alle Kinder eines Schulbezirks umfassen müsse.
Es widerspreche dem Verfassungsbild vom freien Menschen, der Unverletzlichkeit
seiner Würde und seiner Persönlichkeit, wenn man die begabten und
leistungsfähigen Kinder deshalb für die Förderstufe reklamiere, weil man ihre
Impulse brauche, um den Unterricht in der Förderstufe verwirklichen zu können. Im
Übrigen sei seit März 1970 in keinem weiteren Schulaufsichtsbereich mehr die
obligatorische Förderstufe eingerichtet worden. Der Hessische Kultusminister habe
am 23. Februar 1971 gegenüber dem Vorsitzenden des Landeselternbeirats
erklärt, Gesamtschulen und nicht das auf Förderstufen weiter aufbauende
dreigliedrige Schulwesen seien das Ziel der hessischen Schulpolitik. Vor der
Landespressekonferenz in Wiesbaden habe er am 28. Juni 1971 ausgeführt,
Förderstufen in obligatorischer Form gäbe es keine mehr, um die gewünschte und
notwendige Flexibilität beim Ausbau der Gesamtschulen zu erreichen. Anlässlich
eines Besuchs in Hanau am 2. September 1971 habe der Kultusminister geäußert,
es sei vorerst nicht daran gedacht, weitere Förderstufen obligatorisch einzurichten.
Für diese Erklärungen des Kultusministers haben die Antragsteller Zeugen
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Für diese Erklärungen des Kultusministers haben die Antragsteller Zeugen
benannt. Sei schon die mit der bisherigen stufenweisen Einführungspraxis
verbundene Benachteiligung der antragstellenden Kinder gegenüber anderen
hessischen schulpflichtigen Kindern ein Verstoß gegen das Gleichheitsgrundrecht,
so füge der Stop der Einführung der obligatorischen Förderstufe in den restlichen
Schulaufsichtsbereichen eine weitere Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes
hinzu.
(Rn.36) Weder ständen die angegriffenen Verordnungen vom 27. Februar 1970 und
vom 17. März 1970 mit der Ermächtigung in § 9 SchVG, noch stehe diese
Ermächtigung selbst mit Art. 118 HV in Einklang. Da sich der Verstoß gegen Art.
118 HV und das Überschreiten der Ermächtigung in § 9 SchVG als Eingriff in die
Grundrechte aus Art. 1, 2, 9, 55 und 59 Abs. 2 HV auswirkten, könne der
Staatsgerichtshof die Verletzung im Rahmen der Grundrechtsklage prüfen. Aus
einer verfassungskonformen Auslegung des § 9 Satz 1 SchVG folge, dass die
Förderstufen erst bei Vorliegen der persönlichen, sächlichen und
schulorganisatorischen Voraussetzungen einzurichten seien. Diese Erfordernisse
hätten jedoch beim Erlass der 3. und 4. DVO gefehlt. § 9 SchVG seinerseits
verstoße insofern gegen Art. 118 HV, als der Gesetzgeber sich darüber
ausschweige, wann die persönlichen, sächlichen und schulorganisatorischen
Voraussetzungen vorlägen. Der Gesetzgeber stelle es also praktisch in das
Belieben der Exekutive, wann sie die Voraussetzungen für die Einführung der
Förderstufe für gegeben halte.
(Rn.37) Durch die Einführung der obligatorischen Förderstufe verstoße das Land
Hessen schließlich gegen seine Verpflichtung zur Rücksichtnahme auf die anderen
Bundesländer. In einem Bundesstaat seien alle beteiligten Gliedstaaten
verpflichtet, zur Wahrung der wohlverstandenen Belange der anderen Gliedstaaten
beizutragen, mit ihnen zusammenzuarbeiten und sich mit ihnen zu verständigen.
Das beziehe sich auch auf den Bereich der ausschließlichen Landeszuständigkeit.
(Rn.38) c) Die Antragsteller haben zwei Rechtsgutachten des Professors Dr. Maunz
in München vom 11. März 1969 und 30. März 1971 vorgelegt.
II.
(Rn.39) Den Mitgliedern der Landesregierung, dem Landtag sowie dem
Vorsitzenden und dem Berichterstatter des Landtagsausschusses, die mit den
Vorarbeiten für die Neufassungen des hessischen Schulverwaltungsgesetzes und
des hessischen Schulpflichtgesetzes befasst waren, ist gemäß Art. 131 HV, § 42
Abs. 1 StGHG Gelegenheit zur Äußerung gegeben worden. Der Landtag sowie der
Vorsitzende und der Berichterstatter des genannten Ausschusses haben sich nicht
geäußert.
(Rn.40) Der Hessische Ministerpräsident hat – zugleich für die übrigen Mitglieder
der Landesregierung – vorgetragen:
(Rn.41) 1. Die Zulässigkeit der Grundrechtsklagen sei nur gegeben, wenn die
Antragsteller selbst unmittelbar und gegenwärtig durch die beanstandeten
Maßnahmen betroffen seien. Diese Voraussetzung könne nur für die Kinder und
ihre Eltern bejaht werden, die zur Zeit der Antragstellung die 5. Klasse in der
Förderstufe oder die 4. Klasse in der Grundschule besuchten. Die Antragsteller, für
die das nicht zutreffe, seien nicht beschwert. Einige Kinder seien während des
Verfahrens aus ihren bisherigen Schulaufsichtsbereichen verzogen. Ihre und ihrer
Eltern Klagen seien daher unzulässig.
(Rn.42) Dem Antrag zu 2. komme keine selbständige Bedeutung zu; er sei
vielmehr eine zwingende Folge der gesetzlichen Vorschriften, die alle ab 1. August
1970 für den Übergang in eine dieser Klassen in Betracht kommenden Kinder zum
Besuch der Förderstufe verpflichteten. Das Ziel des Antrags werde daher vom
Antrag 1. mitumfasst.
(Rn.43) 2. Die Grundrechtsklagen seien, soweit sie zulässig seien, nicht begründet.
(Rn.44) Es sei eine Verkennung des in Art. 55 HV verbürgten Elternrechts, das
Recht der Eltern zur Auswahl unter verschiedenen Schultypen zwinge sie in
unzumutbarer Weise dazu, ihre Kinder in eine Schule fragwürdigen Typs zu
schicken und versage ihnen die Mitwirkung bei der Einstufung in die Kurse der
Förderstufe. Aus dem Elternrecht könne keine Verpflichtung des Staates
abgeleitet werden, bestimmte Schulformen oder Schultypen einzurichten oder
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abgeleitet werden, bestimmte Schulformen oder Schultypen einzurichten oder
aufrechtzuerhalten. Elterliches und staatliches Erziehungsrecht stünden
selbständig und gleichrangig nebeneinander. Die staatliche Verpflichtung zur
Gestaltung des Schulwesens im Sinne einer "Schulhoheit", zu der in erster Linie die
Schulgesetzgebung gehöre, begrenze zugleich den Umfang des Wirkungskreises
des Elternrechts allgemein. Das Spannungsverhältnis zwischen elterlichem und
staatlichem Erziehungsrecht müsse im Wege einer Interessenabwägung aufgelöst
werden. Für das Elternrecht ergäben sich daraus drei Auswirkungen. Einmal sei die
Entscheidung der Eltern über die konfessionelle Erziehung zu beachten; diese
Frage könne im vorliegenden Verfahren außer Betracht bleiben. Weiter sei den
Eltern ein Mitwirkungsrecht innerhalb der Schule einzuräumen; das sei in Hessen
durch die Sondervorschrift des Art. 56 Abs. 6 HV verbürgt. Ferner sichere das
Elternrecht auf Bestimmung des Lebensweges des Kindes den Eltern bestimmte
Abwehrpositionen gegenüber der Schule und der Schulgewalt zu. Nur dieses Recht
sei in Art. 55 HV geregelt. Es werde durch die Einführung der obligatorischen
Förderstufe nicht beeinträchtigt. Das Abwehrrecht umfasse nicht das Recht,
Einwendungen gegen vom Gesetzgeber zur Verfügung gestellte Schulformen
geltend zu machen. Aber selbst wenn der Staat verpflichtet sei, eine ausreichende
Anzahl verschiedener Schulformen zur Auswahl zu stellen, wäre einer solchen
Pflicht auch nach Einführung der Förderstufe genügt, weil diese in sich differenziert
sei.
(Rn.45) Die Verpflichtung, die Schulpflicht im 5. und 6. Schuljahr in der Förderstufe
zu erfüllen, verlange nichts Unzumutbares. Die Eltern könnten sich zwar unter
bestimmten Voraussetzungen gegen unsachliche organisatorische
Entscheidungen der Schulverwaltung zur Wehr setzen; sie könnten jedoch die
Entscheidung des Gesetzgebers nicht mit der Behauptung umstoßen, die
Regelung sei so schlecht, daß ihren Kindern der Besuch solcher Schulen nicht
zugemutet werden könne. Die Förderstufe werde seit langem erprobt.
(Rn.46) Die Antragsteller könnten mit der Berufung auf angeblich unzureichende
Mitwirkungsmöglichkeiten bei der Einstufung in die Kurse weder das Gesetz noch
die Durchführungsverordnung unmittelbar angreifen. Für eine solche Prüfung fehle
es am gegenwärtigen und unmittelbaren Betroffensein. Auch müsse in einem
solchen Falle zunächst der Rechtsweg erschöpft werden. Eine derartige
Entscheidung könne nur anhand der tatsächlichen Verhältnisse getroffen werden;
auf dieses Vorbringen komme es demnach bei der Prüfung der
Verfassungsmäßigkeit von Gesetz und Verordnung nicht an.
(Rn.47) Es treffe auch nicht zu, dass Art. 59 Abs. 2 HV der Verpflichtung zum
Besuch der Förderstufe entgegenstehe. Insoweit handele es sich um kein
Grundrecht, sondern um eine allgemeine Anweisung an den Gesetzgeber, die der
Staatsgerichtshof überprüfen könne, weil bei einem Verstoß die
verfassungsmäßige Ordnung gestört wäre. Die Vorschrift gewähre weder den
Erziehungsberechtigten noch den Kindern ein Recht auf Unterhaltung und
Eröffnung bestimmter Schulen. Der in ihr enthaltene Befehl könne sich nur an den
Gesetzgeber wenden, der über die Zugangsvoraussetzungen zu den Schulen zu
befinden habe.
(Rn.48) Die Antragsteller rügten auch zu Unrecht, dass die Einführung der
obligatorischen Förderstufe ihr Grundrecht der Gewissensfreiheit aus Art. 9 HV
beeinträchtige. Eine Gewissensentscheidung werde den Antragstellern nicht
abverlangt. Diese könne sich immer nur auf den Einzelfall beziehen. Der Einzelne
könne aber nicht verlangen, dass das Gesetz wegen seiner ganz persönlichen
Gewissensbelastung geändert werde. Die Antragsteller könnten daher allenfalls
eine Freistellung der Kinder vom Besuch der Förderstufe verlangen. Für die
Entscheidung dieser Frage sei der Staatsgerichtshof jedoch nicht zuständig.
(Rn.49) Es treffe auch nicht zu, dass mit der Einführung der obligatorischen
Förderstufe der Gleichheitssatz aus Art. 1 HV verletzt werde. Auf die Regelung in
anderen Ländern komme es insoweit nicht an; der Landesgesetzgeber könne bei
der Ausübung seiner Kompetenz nicht mit Hilfe der Grundrechte auf
Gleichbehandlung zur Anpassung an die Gesetze anderer Länder gezwungen
werden. Da die Voraussetzungen für die Einführung der Förderstufe nach und nach
geschaffen werden müssten, sei es nicht willkürlich, wenn der Auftrag des
Gesetzes abschnittsweise ausgeführt werde. Zur Vermeidung örtlicher
Schwierigkeiten sei es am zweckmäßigsten, jeweils mindestens einen
geschlossenen Schulaufsichtsbereich auf die obligatorische Förderstufe
umzustellen, sobald die personellen und sächlichen Vorbereitungen hierfür
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umzustellen, sobald die personellen und sächlichen Vorbereitungen hierfür
ausreichten.
(Rn.50) Dass das Land Hessen nicht beabsichtige, in weiteren Landesteilen die
Förderstufe obligatorisch einzuführen, treffe nicht zu. Sie sei weiterhin als das
Bindeglied zwischen Grundschule und weiterführender Schule anzusehen und
werde demnach durch Rechtsverordnung überall dort eingeführt, wo die
Voraussetzungen hierfür gegeben seien. Im Schuljahr 1971/72 allerdings werde
keine weitere obligatorische Förderstufe eingeführt werden. Der Staat brauche zur
Verwirklichung seines Vorhabens Zeit.
(Rn.51) Zu Unrecht machten die Antragsteller eine Verletzung des allgemeinen
Freiheitsrechtes aus Art. 2 Abs. 1 HV geltend. Die Anwendung des Art. 2 Abs. 1 HV
komme nur in Betracht, soweit der berührte Freiheitsraum nicht bereits durch ein
spezielles Grundrecht geschützt sei. Soweit die Antragsteller den Verstoß gegen
ihre Handlungsfreiheit in der Verschlechterung der Bildungschancen ihrer Kinder
als Folge des Kurssystems der Förderstufe sähen, greife die spezielle Garantie des
Elternrechts ein. Ein Rückgriff auf Art. 2 Abs. 1 HV sei im Rahmen der
Grundrechtsklage jedoch möglich, wenn der Freiheitsraum eines Antragstellers
durch Normen eingeschränkt werde, die wegen Verstoßes gegen eine sonstige
Verfassungsnorm ohne Grundrechtscharakter nichtig seien und deshalb nicht zur
verfassungsmäßigen Ordnung zählten. Unter diesem Gesichtspunkt sei der
Vorwurf zu prüfen, die Regelung verletze den Grundsatz der Bundestreue. Hierfür
sei der Staatsgerichtshof jedoch nicht kompetent, weil die Pflicht zu
bundesfreundlichem Verhalten nicht Bestandteil der Landesverfassung sei,
sondern zu den dem Grundgesetz immanenten Verfassungsnormen zähle und
damit dem Bundesverfassungsrecht angehöre. Auch könne die Bundestreue
schon deshalb nicht verletzt sein, weil der Bund keine Kompetenz auf dem Gebiete
des Schulwesens habe.
(Rn.52) Die Bedenken der Antragsteller gegen die Gültigkeit des § 9 Satz 2 SchVG
griffen nicht durch. Die Vorschrift ermächtige zum Erlass einer
Ausführungsverordnung. Die Einrichtung der Förderstufe sei Ausführung des in § 9
Satz 2 SchVG enthaltenen gesetzlichen Auftrags, diesen Schultyp einzurichten,
wenn die persönlichen, sächlichen und schulorganisatorischen Voraussetzungen
vorlägen. Es beständen keine Bedenken dagegen, dass bei Erfüllung dieser
gesetzlichen Erfordernisse in einem Schulaufsichtsbereich die Förderstufe im Wege
einer Rechtsverordnung eingerichtet werde. Die Ermächtigung sei ausreichend
bestimmt. Der Wortlaut der Ermächtigung in § 9 Satz 2 SchVG müsse zusammen
mit dem Wortlaut des gesetzlichen Auftrags in § 9 Satz 1 SchVG betrachtet
werden. Der Begriff "Förderstufe" sei für den Bereich der Organisation festgelegt.
Nach § 8 Abs. 2 SchVG erfassten Förderstufen die Schuljahrgänge 5 und 6 und
seien in der Regel Bestandteil der Hauptschulen oder der Gesamtschulen. Der
organisatorische Begriff werde inhaltlich ausgefüllt durch die allgemeine
Übereinstimmung, die sich zu allen wesentlichen Fragen der Aufgabe und der
pädagogischen Ausgestaltung der Förderstufe gebildet habe. Diese
Begriffserklärung habe vor allem mit den Empfehlungen des Deutschen
Ausschusses für das Erziehungs- und Bildungswesen zum Aufbau der Förderstufe
vom 16. Mai 1962 einen vorläufigen Abschluss gefunden. Damit sei der Begriff
dieser Schulform genau so deutlich umschrieben wie andere Schulformen mit der
Bezeichnung "Grundschule, Hauptschule, Gymnasium, Gesamtschule,
Berufsschule, Berufsfachschule, Berufsaufbauschule, Fachoberschule,
Sonderschule" usw. Alle diese Schulformen seien nicht im Einzelnen gesetzlich
definiert. Die einzelnen Schulen im Rahmen einer Schulform könnten
unterschiedlich ausgestaltet sein. Der Gesetzgeber wäre auch überfordert, wenn
er diese Variationsmöglichkeiten normativ festlegen sollte.
(Rn.53) Der Inhalt der Bedingung für die Einrichtung der Förderstufe lasse sich
ebenfalls aus dem Wortlaut in Verbindung mit der Zielrichtung des Gesetzes
ermitteln. Mit persönlichen Voraussetzungen sei die Ausstattung mit Lehrkräften
gemeint. Unter sächlichen Voraussetzungen seien die Räume mit Einrichtung zu
verstehen. Der Hinweis auf die schulorganisatorischen Voraussetzungen spreche
die Organisation im jeweiligen Schulaufsichtsbereich an. Die Feststellung, ob die
genannten Voraussetzungen erfüllt seien, sei daher folgerichtig unter Mitwirkung
des verantwortlichen Schulträgers zu treffen.
(Rn.54) Der Zweck ergebe sich aus der Zielsetzung des Gesetzes. Die Umstellung
auf die obligatorische Förderstufe solle so erfolgen, dass sie keinen Schaden für
die Kinder und kein Chaos im Schulwesen verursache. Verordnungen über die
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die Kinder und kein Chaos im Schulwesen verursache. Verordnungen über die
Einrichtung der Förderstufe dürften daher nur dann für den Schulaufsichtsbereich
und einen bestimmten Zeitpunkt erlassen werden, wenn die Voraussetzungen des
§ 9 Satz 1 SchVG für eine ordnungsmäßige Aufnahme des Unterrichts in der
Förderstufe erfüllt seien. Es sei Aufgabe der staatlichen Schulverwaltung, im
Benehmen mit dem Schulträger dies im Einzelfall festzustellen.
(Rn.55) Die von den Antragstellern aufgeworfene Frage, ob die Landesregierung
sich beim Erlass der 3. und 4. DVO zur Ausführung des § 9 des
Schulverwaltungsgesetzes im Rahmen der Ermächtigung gehalten habe, betreffe
nicht die Verfassungsmäßigkeit, sondern die Gesetzmäßigkeit der Verordnung. Für
eine Nachprüfung der Vereinbarkeit von untergesetzlichen Normen mit einem
Gesetz sei der Staatsgerichtshof nicht zuständig. Insoweit handele es sich auch
um keine Vorfrage, weil die formale Existenz der Verordnung unbestritten sei.
(Rn.56) Der Ministerpräsident hat ein im Auftrage der Hessischen Landesregierung
erstattetes Rechtsgutachten des Professors Dr. Hans Ullrich Evers in
Braunschweig vom 4. Dezember 1970 vorgelegt.
(Rn.57) Die Antragsteller haben den Darlegungen des Ministerpräsidenten
hinsichtlich des Wegzugs einzelner Eltern und Kinder aus den seitherigen
Schulaufsichtsbereichen nicht widersprochen.
(Rn.58) Der Landesanwalt hat sich den Ausführungen des Hessischen
Ministerpräsidenten angeschlossen und insbesondere ausgeführt: Die Hessische
Verfassung gewähre keine institutionelle Garantie für ein einmal eingeführtes
Schulsystem; sie stehe der Einführung anderer Schulsysteme aufgrund neuerer
pädagogischer Erkenntnisse nicht entgegen; gerade die Einführung der
obligatorischen Förderstufe schaffe die Voraussetzungen für gleiche
Bildungschancen.
C.
(Rn.59) Die Grundrechtsklagen können keinen Erfolg haben; sie sind teilweise nicht
zulässig, im Übrigen aber nicht begründet.
I.
(Rn.60) 1. Die Grundrechtsklagen richten sich unmittelbar gegen Gesetze und
Ausführungsverordnungen. Der Staatsgerichtshof erkennt in ständiger
Rechtsprechung die Zulässigkeit solcher Grundrechtsklagen unter der
Voraussetzung an, dass die angegriffene Rechtsnorm ein Grundrecht des
Antragstellers gegenwärtig und unmittelbar verletzt, ohne dass eine
Ausführungsnorm oder ein Vollziehungsakt hinzutreten müsste (vgl. Urteil des
Staatsgerichtshofs vom 7. Januar 1970 – P. St. 539 –, StAnz. 1970, 342 = ESVGH
20, 206 = DÖV 1970, 243). Er stimmt insoweit im Ergebnis mit der
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts überein (BVerfGE 1, 97, Leitsatz
Nr. 2 (101); zuletzt in BVerfGE 18, 310 (313); 20, 283 (290)). Für die Bejahung der
Zulässigkeit genügt jedoch nicht die Behauptung der angeführten
Voraussetzungen. Im Unterschied zu der im hessischen Verfassungsrecht nicht
vorgesehenen Popularklage und der abstrakten Normenkontrolle ist die
Grundrechtsklage nur dann zulässig, wenn der Antragsteller durch die
angegriffenen Vorschriften tatsächlich selbst, gegenwärtig und unmittelbar
rechtlich betroffen wird (BVerfGE 6, 273 (277); 13, 225 (227); 13, 237 (239); 20,
283 (290)).
(Rn.61) Das Erfordernis der unmittelbaren Selbstbetroffenheit ist, soweit die
Antragsteller Grundrechtsverletzungen durch Gesetze rügen, nicht gegeben; ihre
Anträge sind insoweit unzulässig.
(Rn.62) Der angegriffene § 2 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 2 des Gesetzes über die
Unterhaltung und Verwaltung der öffentlichen Schulen und die Schulaufsicht
(Schulverwaltungsgesetz) – SchVG – in der Fassung vom 30. Mai 1969 (GVBl. I S.
88) bestimmt, dass die Pflicht zum Besuch einer Förderstufe von dem Wahlrecht
des Bildungsweges durch den Erziehungsberechtigten unberührt bleibt. Die hierin
liegende mögliche Einschränkung von Grundrechten der Eltern ist nicht schon mit
dem Inkrafttreten des Gesetzes eingetreten. Diese gesetzliche Bestimmung stellt
insoweit einen Programmsatz auf; eingeführt wurde die Förderstufe in den
Schulaufsichtsbereichen, in denen die Antragsteller wohnen, erst durch die
entsprechenden Rechtsverordnungen der Landesregierung. Daraus folgt auch,
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entsprechenden Rechtsverordnungen der Landesregierung. Daraus folgt auch,
dass die Antragsteller nicht unmittelbar durch die organisatorische Regelung des §
8 Abs. 2 SchVG für Förderstufen betroffen und nicht unmittelbar durch die
Ermächtigungsvorschrift des § 9 SchVG in ihren Rechten eingeengt worden sind.
(Rn.63) Das gilt auch für § 5 Abs. 2 Satz 2 des Hessischen Schulpflichtgesetzes –
SchPflG – in der Fassung vom 30. Mai 1969 (GVBl. I S. 104), wonach der Besuch
der Förderstufe in den Schuljahrgängen 5 und 6 von der Einführung der
Förderstufe durch Rechtsverordnung in dem Schulbezirk, in dem der
Schulpflichtige seinen Wohnsitz hat, abhängig ist.
(Rn.64) Hingegen sind durch die 3. und 4. Ausführungsverordnung Eltern und
Kinder dann unmittelbar und gegenwärtig betroffen, wenn die Kinder im Sinne des
§ 2 Abs. 1 SchPflG schulpflichtig geworden sind, in den aufgeführten
Schulaufsichtsbereichen wohnen und noch nicht in die 7. Klasse eingetreten sind.
Denn bis zu diesem Schulabschnitt sind die Kinder verpflichtet, die Förderstufe zu
besuchen. Es geht nicht an, nur die Kinder als unmittelbar betroffen anzusehen,
die ihrer Schulpflicht im 4. Grundschuljahr genügen. Die Vollzeitschulpflicht beginnt
nämlich nach Vollendung des sechsten Lebensjahres und dauert neun Jahre. In
diesen Zeitraum fällt somit die Pflicht zum Besuch der Förderstufe, und es müssen
daher jedes Kind und seine Eltern mit dem Beginn der Schulpflicht erwarten, dass
das Kind im 5. und 6. Schuljahr die obligatorische Förderstufe seines
Schulaufsichtsbereiches durchlaufen muss.
(Rn.65) An einem unmittelbaren, gegenwärtigen Betroffensein fehlt es
andererseits bei allen Kindern, die im Zeitpunkt der Hauptverhandlung ihren
Wohnsitz nicht mehr in den Schulaufsichtsbereichen ... oder ... hatten. Denn sie
unterliegen hinsichtlich der Erfüllung ihrer Vollzeitschulpflicht nicht mehr den in den
genannten Gebieten geltenden Bestimmungen. Das trifft auch auf ihre Eltern zu,
es sei denn, dass ein anderes ihrer Kinder in den Schulaufsichtsbereichen zur
Schule geht, die in der 3. und 4. DVO aufgezählt sind. Die Anträge der Kinder ...,
..., ..., ..., ..., ... und die der Eltern ... und ..., ... und ..., ... und ..., ... und ..., ... und ...
sind daher unzulässig.
(Rn.66) 2. Nach § 48 Abs. 3 StGHG findet ein Verfahren vor dem Staatsgerichtshof
wegen Verletzung von Grundrechten nur statt, wenn der Antragsteller eine
Entscheidung des höchsten in der Sache zuständigen Gerichts herbeigeführt hat
und innerhalb eines Monats seit der Zustellung dieser Entscheidung den
Staatsgerichtshof anruft. Diese Vorschrift gilt nicht für den Fall, dass die
Grundrechtsklage unmittelbar gegen eine Rechtsnorm gerichtet ist.
(Rn.67) Eine § 93 Abs. 2 BVerfGG entsprechende Bestimmung, wonach die
Verfassungsbeschwerde gegen ein Gesetz nur binnen eines Jahres seit dessen
Inkrafttreten erhoben werden kann, enthält das Gesetz über den Staatsgerichtshof
nicht. Doch hält auch der Staatsgerichtshof eine Grundrechtsklage gegen eine
Rechtsnorm nur innerhalb einer angemessenen Frist nach deren Inkrafttreten für
zulässig (BVerfGE 11, 255 (260); 18, 1 (9); Beschluss vom 6. März 1968, MDR
1968, 642 = NJW 1968, 1371). Insbesondere zwingen Gründe der Rechtssicherheit
und der Tragweite der begehrten Entscheidung dazu, die Frist auf ein Jahr zu
begrenzen. Diese Frist haben die Antragsteller eingehalten. Die Grundrechtsklage
gegen die am 12. März 1970 in Kraft getretene 3. DVO ist am 26. März 1970, die
Grundrechtsklage gegen die am 26. März 1970 in Kraft getretene 4. DVO ist am
25. März 1971 beim Staatsgerichtshof eingegangen.
(Rn.68) 3. Soweit sich die unter Ziffer 2 gestellten Anträge gegen Maßnahmen der
Schulbehörden richten, haben die Antragsteller die Maßnahme nicht näher
bezeichnet. Offenbar handelt es sich insoweit um Verwaltungsakte, gegen die der
Verwaltungsrechtsweg gegeben sein könnte, jedenfalls die Anrufung des
Staatsgerichtshofs nicht zulässig ist. Im Übrigen ist dieses Begehren bereits im
Antrag zu 1) enthalten.
(Rn.69) 4. Der Staatsgerichtshof ist für die Prüfung zuständig, ob die 3. und 4. DVO
Grundrechte der Antragsteller verletzen. Die beiden Durchführungsverordnungen
gehören zu den Rechtsverordnungen, die generelle abstrakte Rechtssätze sind,
nicht im förmlichen Gesetzgebungsverfahren entstanden, aber dennoch
allgemeinverbindlich sind und als Gesetze im materiellen Sinne bezeichnet werden
(Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, 9. Aufl., 1. Bd., 125 ff; Maunz-Dürig,
Komm. z. GG, RdNr. 1 zu Art. 80; Hess. StGH, Urteile vom 3. Dezember 1969 – P.
St. 569 –, StAnz. 1970, 53; vom 7. Januar 1970 – P. St. 539 –, StAnz. 1970, 342;
vom 4. Februar 1970 – P. St. 533 –, StAnz. 1970, 531; vom 15. Juli 1970 – P. St.
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vom 4. Februar 1970 – P. St. 533 –, StAnz. 1970, 531; vom 15. Juli 1970 – P. St.
548/563 –, StAnz. 1970, 1669). Diese gliedern sich ihrem Inhalt entsprechend in
verschiedene Gruppen. Die 3. und 4. DVO sind Ausführungsverordnungen, da sie
die vom Gesetzgeber geschaffene Förderstufe in den bezeichneten
Schulaufsichtsbereichen rechtsverbindlich eingeführt haben.
II.
(Rn.70) Die Antragsteller sind durch die 3. und 4. DVO nicht in ihren Grundrechten
verletzt worden.
(Rn.71) 1. Art. 55 Satz 1 HV, der das Erziehungsrecht und die Erziehungspflicht der
Eltern als Grundrecht statuiert, entspricht inhaltlich Art. 6 Abs. 2 GG und gilt
deshalb gemäß Art. 142 GG fort (so auch Zinn-Stein, Die Verfassung des Landes
Hessen, 1954, Erl. 1 zu Art. 55).
(Rn.72) Art. 55 Satz 1 HV bestimmt, dass die Erziehung der Jugend zu Gemeinsinn
und zu leiblicher, geistiger und seelischer Tüchtigkeit Recht und Pflicht der Eltern
ist. Nach Wortlaut, Sinn und Zweck dieser Vorschrift bezieht sich das Elternrecht
auf die gesamte Pflege und Erziehung innerhalb und außerhalb der Familie
einschließlich des schulischen Bereichs und dient der Bestimmung des
Lebenswegs des jungen Menschen (Maunz-Dürig, aaO, RdNr. 27 zu Art. 6; Heckel-
Seipp, Schulrechtskunde, 4. Aufl., 1969, 345).
(Rn.73) Dieses Auswahlrecht der Eltern ist durch die 3. und 4. DVO nicht verletzt
worden. Denn das Auswahlrecht findet in mehrfacher Hinsicht in der Verfassung
selbst Grenzen, innerhalb deren die angegriffenen Normen liegen.
(Rn.74) Eine Grenze für die Auswirkung des Elternrechts ist im schulischen Bereich
durch Art. 56 Abs. 1 Satz 2 HV gezogen, wonach das Schulwesen Sache des
Staates ist. Das staatliche Erziehungsrecht ist nicht wie das Elternrecht auf die
Gesamterziehung der heranwachsenden Jugend gerichtet, sondern auf den
Teilbereich Schule beschränkt. Im Bereich der Schule stehen die beiden
Erziehungsrechte selbständig nebeneinander und befinden sich nicht in einem
Über-Unterordnungsverhältnis (Mangold-Klein, GG, 2. Aufl., Bd. I, 1957, Anm. IV d
zu Art. 6; Maunz-Dürig, aaO, RdNr. 4 zu Art. 7; Heckel-Seipp, aaO S. 346; Stein, JZ
1957, 11; Wolf, Verwaltungsrecht, II, 2. Aufl., § 101, I c; Evers, VVDStRL, Bd. 23,
142; BVerwGE 5, 153 (156); 18, 40; Beschluß vom 29. Dezember 1958 – VII B
33.58 – DVBl. 1959, 366; Heckel, Schulrecht und Schulpolitik, 1967, 180). Der
Staat kann Eingriffe des Elternhauses in den Bereich der Schule abwehren. Das gilt
vornehmlich in dem rein schulischen Erziehungsbereich, zu dem
Schulgesetzgebung, Schulorganisation und Schulpflicht gehören (BVerwGE 18, 40;
Bay. VGH, Urteil vom 12. Februar 1954, VRspr. Bd. 6, 641; Bonner Kommentar,
Anm. II 1 a zu Art. 7; Wimmer, DVBl. 1967, 809 (811)).
(Rn.75) Wenn staatliches Erziehungsrecht und Elternrecht aus Art. 55 Satz 1 HV
aufeinandertreffen, bedarf es einer Interessenabwägung, um die beiden
Rechtsbereiche voneinander abzugrenzen.
(Rn.76) Die Einführung der Förderstufe ist eine schulorganisatorische Maßnahme.
Mit dem Besuch der Förderstufe erfüllt der Schulpflichtige einen Teil seiner
Vollzeitschulpflicht. Die Förderstufe dient der Reform des Schulwesens und soll
nach dem Willen des Gesetzgebers drei Ziele der Bildungspolitik verwirklichen:
Schaffung besserer Übergänge von der Grund- zur weiterführenden Schule,
Begabtenlenkung und Förderung der leistungsschwächeren Schüler (vgl.
Ausführungen des Kultusministers zur Novellierung der Schulgesetze vor dem
Hessischen Landtag am 4. Juli 1968, stenografischer Bericht über die 35. Sitzung
des Hessischen Landtags, VI. WP, S. 1779 (1780, 1781, 1782), Begründung des
Gesetzentwurfs der Hessischen Landesregierung, Drucks. des Hessischen
Landtags, VI. WP Nr. 1300, insbesondere S. 25 und S. 37; vgl. sogen. Hamburger
Abkommen der Ministerpräsidenten der Länder vom 28. Oktober 1964, Amtsbl.
des Hess. Kultusministers – ABl. – 1965, 848, Abschnitt II A § 4 Abs. 4 "Ein für alle
Schüler gemeinsames 5. und 6. Schuljahr kann die Bezeichnung "Förder- oder
Beobachtungsstufe" tragen").
(Rn.77) Ob gegen eine Maßnahme der Schulorganisation ein aus dem Elternrecht
abgeleitetes Abwehrrecht mit dem Ziel der Beseitigung Aussicht auf Erfolg haben
könnte, kann dahingestellt bleiben, denn die antragstellenden Eltern wenden sich
nur gegen die mit der Einführung der Förderstufe verbundene Beteiligungspflicht;
gegen eine freiwillige Teilnahmemöglichkeit haben sie keine Bedenken. Sie berufen
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gegen eine freiwillige Teilnahmemöglichkeit haben sie keine Bedenken. Sie berufen
sich insoweit auf ihr Recht, zwischen den vom Staat zur Verfügung gestellten
Schulen frei wählen zu können. Ein solches Wahlrecht der Eltern besteht ohne
Zweifel (vgl. hierzu Maunz-Dürig, aaO, RdNr. 28 zu Art. 6; Maunz, Deutsches
Staatsrecht, 17. Aufl., § 18 I 3 h, S. 147; Heckel-Seipp, aaO S. 387; Fuß, VVDStRL,
Bd. 23, 199 (205); Ekkehart Stein, Das Recht des Kindes auf Selbstentfaltung in
der Schule, 1967, 40, 41; BVerwGE 5, 153 (155); BVerwG, Beschluß vom 29.
Dezember 1958, aaO; OVG Hamburg, Urteil vom 16. April 1953, DVBl. 1953, 506;
vom 12. März 1956, DÖV 1956, 627). Es bedeutet, dass es den Eltern freisteht,
unter den vom Staat zur Verfügung gestellten Schulen, insbesondere also auch
unter den weiterführenden Schulen, eine uneingeschränkte Auswahl zu treffen und
damit das Ausbildungsziel für ihr Kind zu bestimmen, selbst dann, wenn die
gewählte Lösung nicht immer der für das Kind geeignetste Weg ist (Heckel-Seipp,
aaO, S. 387). Dass nunmehr in den Schulbezirken, in denen die Antragsteller
wohnen, die vom Staat angebotene Auswahlmöglichkeit erst nach dem 6.
Schuljahr für die weiterführenden Schulen gegeben ist und nicht wie herkömmlich
schon nach dem 4. Grundschuljahr eingeräumt wird, ist jedoch keine
grundrechtswidrige Einschränkung des elterlichen Auswahlrechts. Wohl darf das
Auswahlrecht der Eltern nicht in unzumutbarer Weise eingeschränkt werden
(Maunz-Dürig, aaO, RdNr. 28 zu Art. 6; Heckel, aaO, S. 181, BVerwGE 18, 40 (43)).
Doch kann der Staatsgerichtshof der Auffassung nicht folgen, der Staat nehme
mit der zwangsweisen Einführung der Förderstufe nicht nur eine unzulässige
negative Auslese nach der Persönlichkeit des Schülers und seiner Eigenschaften,
sondern eine positive Bestimmung auch gegen den Willen der Eltern vor. Eine
derartige Beschränkung hat das Auswahlrecht der Eltern durch die obligatorische
Förderstufe nicht in grundrechtswidriger Weise erfahren. Die Verfassung legt
keinen Zeitpunkt für die Ausübung des Auswahlrechts fest. Sie sieht also davon
ab, ein bestimmtes Schulsystem institutionell zu garantieren.
(Rn.78) Eine weitere Grenze setzt die Hessische Verfassung dem Auswahlrecht
insofern, als sie in Art. 59 Abs. 2 HV das Recht auf Zugang zu den weiterführenden
Schulen und Hochschulen von der Eignung des Schülers abhängig macht. Das
Auswahlrecht der Eltern ist nicht Selbstzweck, sondern nur ein Mittel, das ihnen
eine Einwirkungsmöglichkeit auf die Erziehung in der Schule gibt. Der Staat
seinerseits ist auf Grund der ihm im schulischen Bereich übertragenen
Organisationsgewalt berufen, Bildungswege zu schaffen und zu unterhalten, die
den wachsenden Anforderungen der modernen Gesellschaft entsprechen. Er ist
dabei nicht durch das Elternrecht dahin eingeengt, die überkommene
Organstruktur des Schulwesens beizubehalten. Er muss aber verschiedene
Schulformen zur Verfügung stellen, die den unterschiedlichen
Bildungserfordernissen der Allgemeinheit und der Herstellung gleicher
Bildungschancen gerecht werden. Diese für schulorganisatorische Maßnahmen
geltenden Grenzen sind durch die Einführung der Pflicht-Förderstufe nicht
überschritten worden. Sie fügt sich als Bindeglied zwischen die Grundschule und
die bereits vorhandenen dreiteiligen weiterführenden Schulen; sie soll in der Regel
mindestens ebenfalls dreizügig sein (§§ 2 Abs. 2, 8 Abs. 2 SchVG) und damit
Differenzierungsmöglichkeiten bieten, die dem Anschluss an die weiterführenden
Schulen, Gymnasium, Real- und Hauptschule, entsprechen. Allerdings schiebt die
obligatorische Förderstufe – gemessen an der bisherigen Übung – die Ausübung
des Wahlrechts hinsichtlich der Bestimmung der weiterführenden Schulen hinaus.
(Rn.79) Zwar unterliegt jeder Eingriff in bisherige Rechtspositionen dem
Verfassungsgebot der Verhältnismäßigkeit, d. h. die Beschränkung muss zur
Erreichung des angestrebten Ziels geeignet und notwendig, darf aber nicht
übermäßig belastend und nicht unzumutbar sein (BVerfGE 25, 112 (118); 26, 215
(228); 27, 211 (219)). Diesem Gebot hat der Verordnungsgeber nicht zuwider
gehandelt. Bei der Einstufung in die den dreizügigen weiterführenden Schulen
entsprechenden Kurse haben die Eltern ein Mitspracherecht, das ihnen dazu
verhelfen soll, den Bildungsweg ihres Kindes entsprechend ihren Plänen zu
beeinflussen. Bei unbegründeter Ablehnung ist der Verwaltungsrechtsweg
gegeben. Auch besteht kein ausnahmsloser Zwang zum Besuch der Förderstufe;
im Falle einer besonderen Sachlage können die Eltern bei der
Schulaufsichtsbehörde beantragen, für ihr Kind den Besuch einer anderen als der
zuständigen Schule zu gestatten (§ 19 SchPflG). Auch insoweit ist der
Verwaltungsrechtsweg gegeben. Eine übermäßige Belastung der Eltern ist mithin
nicht eingetreten.
(Rn.80) Der Staatsgerichtshof kann nicht darüber befinden, ob die Einführung der
Pflicht-Förderstufe innerhalb eines Schulaufsichtsbereichs für das angestrebte Ziel,
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Pflicht-Förderstufe innerhalb eines Schulaufsichtsbereichs für das angestrebte Ziel,
nämlich: Bessere Übergänge, Begabtenlenkung und Förderung
leistungsschwächerer Kinder, notwendig ist. Wenn der Gesetzgeber sich zu einem
zusammengefassten Unterricht aller Kinder eines Jahrgangs als pädagogisch
zweckmäßig und sachdienlich entschloss, so verstieß er damit nicht gegen das
Gebot der Verhältnismäßigkeit. Zur pädagogischen Bewertung der Förderstufe ist
der Staatsgerichtshof nicht berufen, so dass es auf die von den Antragstellern
angeregte Einholung pädagogischer Sachverständigengutachten nicht ankommt.
Das gilt auch für die weitere Frage, ob es pädagogisch vertretbar ist, Kinder
unterschiedlicher Begabung über die Grundschulzeit hinaus weitere zwei Jahre in
mehreren Fächern gemeinsam zu unterrichten.
(Rn.81) 2. Die antragstellenden Eltern sind auch nicht in ihrem Grundrecht auf
Gewissensfreiheit dadurch verletzt worden, dass ihre freie Entscheidung über den
Ausbildungsweg ihrer Kinder eingeengt wurde.
(Rn.82) Nach Art. 9 HV sind Glaube, Gewissen und Überzeugung frei. Inhaltlich
stimmt dieser Artikel mit Art. 4 Abs. 1 GG überein und gilt daher gemäß Art. 142
GG fort (Zinn-Stein, Die Verfassung des Landes Hessen, 1954, Erl. 2 zu Art. 9). Zu
einer Gewissensentscheidung rechnet jede ernstliche, d. h. an den Kategorien Gut
und Böse orientierte Entscheidung, die der einzelne als für sich bindend und
unbedingt verpflichtend innerlich erfährt, so dass er gegen sie nicht ohne ernste
Gewissensnot handeln könnte (BVerfGE 12, 45). Hiermit übereinstimmend hat das
Bundesverwaltungsgericht die Gewissensentscheidung "eine im Innern
ursprünglich vorhandene Überzeugung von Recht und Unrecht und die sich daraus
ergebende Verpflichtung zu einem bestimmten Handeln oder Unterlassen" oder
auch das "subjektive Bewusstsein vom sittlichen Wert oder Unwert des eigenen
Verhaltens" genannt (BVerwGE 7, 242 (246); 9, 97; 9, 100 (101); BVerwG, Urteile
vom 27. Mai 1960, JZ 1960, 699; vom 17. Dezember 1960, DÖV 1961, 386).
Beiden Begriffsbestimmungen ist gemeinsam, dass eine Entscheidung getroffen
werden muss, die ein Abwägen zwischen mehreren Möglichkeiten erfordert, wobei
eine Gewissensanspannung verlangt wird. Daher werden den
Gewissensentscheidungen nur die Entscheidungen zugerechnet, aus denen eine
sittliche Verpflichtung resultiert (Bonner Kommentar, RdNr. 35 zu Art. 4) und die
kategorischen Befehlscharakter haben (Hamann-Lenz, Das Grundgesetz, Komm.,
3. Aufl., 1970, Anm. B 2 zu Art. 4). Eine solche Gewissensentscheidung wird von
den antragstellenden Eltern aber nicht gefordert (vgl. Podlech, Das Grundrecht der
Gewissensfreiheit und die besonderen Gewaltverhältnisse, Schriften zum
öffentlichen Recht, Bd. 92, 103). Die Einrichtung der Förderstufe ist – wie bereits
ausgeführt – eine schulorganisatorische Maßnahme, die auf dem staatlichen
Erziehungsrecht beruht, auf die aber das elterliche Erziehungsrecht keinen Einfluss
hat. Die Ausgestaltung der Schulform, die die Schulpflichtigen besuchen können,
ist Aufgabe des Staates. Von den Eltern wird dabei nicht ein bestimmtes Handeln
oder Unterlassen verlangt, das eine Gewissensanspannung voraussetzt. Eine
solche Konfliktsituation ist nicht gegeben.
(Rn.83) 3. Das in Art. 2 Abs. 1 HV normierte Grundrecht der allgemeinen
Handlungsfreiheit hat seine Parallele in Art. 2 Abs. 1 GG. Inhaltlich besteht
Übereinstimmung zwischen beiden Vorschriften (Zinn-Stein, Die Verfassung des
Landes Hessen, 1954, Erl. 1 zu Art. 2). Zu Unrecht machen die Antragsteller
geltend, sie seien in diesem Grundrecht dadurch verletzt worden, dass sie durch
die Einführung der obligatorischen Förderstufe in ihrem Selbstbestimmungsrecht
hinsichtlich des beruflichen Werdeganges bzw. ihres eigenen Bildungsweges –
soweit die Kinder Antragsteller sind – betroffen worden seien, weil dieses Recht
zum wesentlichen Inhalt des allgemeinen Freiheitsrechts der Menschen gehöre.
Das in Art. 2 Abs. 1 HV enthaltene Grundrecht ist das Hauptfreiheitsrecht. Es tritt
im Verhältnis zu den nachfolgenden speziellen Freiheitsrechten inhaltlich überall
dort zurück, wo sein Freiheitsgehalt thematisch von speziellen Freiheitsrechten
"verbraucht" ist (Maunz-Dürig, aaO, RdNr. 6 zu Art. 2; vgl. auch BVerfGE 4, 52 (57);
13, 290 (296); 19, 206 (225); 21, 223 (234)). Eine Verletzung des Art. 2 Abs. 1 HV
scheidet mithin schon deshalb aus, weil das Auswahlrecht der Eltern Teil ihres
Erziehungsrechtes ist, das durch Art. 55 Abs. 1 HV garantiert wird. Insoweit können
die Eltern keine zusätzliche Grundrechtsverletzung aus Art. 2 Abs. 1 HV rügen.
(Rn.84) 4. Fehl geht auch die Berufung der Antragsteller auf Art. 12 Abs. 1 GG. Das
dort normierte Grundrecht auf Aufnahme in eine Ausbildungsstätte ist mit dem
Grundrecht aus Art. 59 Abs. 2 HV (StGH, Urteil vom 15. Juli 1970, P. St. 548/563,
StAnz. 1970, 1669 (1677)) nicht inhaltsgleich. Aus diesem Grunde ist es dem
Staatsgerichtshof verwehrt, die angegriffenen Normen an einem Grundrecht des
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Staatsgerichtshof verwehrt, die angegriffenen Normen an einem Grundrecht des
Grundgesetzes zu messen.
(Rn.85) Mit der Einführung der obligatorischen Förderstufe sind die Antragsteller
nicht in ihrem Grundrecht aus Art. 59 Abs. 2 HV beeinträchtigt worden, wonach der
Zugang zu den Mittel-, höheren und Hochschulen nur von der Eignung der Schüler
abhängig zu machen ist. Erklärtes Ziel der Förderstufe ist es gerade, die Eignung
der Schüler so zu verbessern, dass eine größere Zahl als bisher ohne
nennenswerte Schwierigkeiten den Zugang zu den weiterführenden Schulen
erreichen und diese mit Erfolg durchlaufen kann. Von anderen Kriterien als der
Eignung macht die angegriffene Regelung den Zugang zu den weiterführenden
Schulen nicht abhängig.
(Rn.86) 5. Ebenso wenig kann eine Verletzung des Grundrechts aus Art. 56 Abs. 6
HV festgestellt werden. Der Staatsgerichtshof hat bereits in seinen
Entscheidungen vom 19. Dezember 1957, P. St. 213 (StAnz. 1958, 13) und vom
18. Februar 1958, P. St. 230 (StAnz. 1958, 311) das elterliche
Mitbestimmungsrecht aus Art. 56 Abs. 6 HV als ein Grundrecht anerkannt, das
sich inhaltlich auf die Gestaltung des Unterrichtswesens bezieht, wozu alle
Einrichtungen und Maßnahmen rechnen, die die inneren Ziele von Erziehung und
Unterricht an der staatlichen Schule und die Wege, die zur Erreichung dieser Ziele
führen, festlegen (vgl. auch Zinn-Stein, aaO, 1954, Anm. 11 zu Art. 56).
(Rn.87) Die 3. und 4. DVO sind jedoch schulorganisatorische Regelungen, die über
den Unterricht in der Förderstufe keine Aussage enthalten. Die zur
Unterrichtsgestaltung ergangenen Richtlinien, Erlasse und Handreichungen des
Kultusministers gehören nicht als ein ergänzender Anhang zu den
Ausführungsverordnungen, sondern sind selbständige Vorschriften. Insoweit
betreffen die Rügen der Antragsteller lediglich die von ihren Anträgen nicht
erfasste Durchführung der Gesetze.
(Rn.88) 6. Endlich wird auch nicht zum Nachteil der Antragsteller der
Gleichheitsgrundsatz aus Art. 1 HV verletzt, der mit Art. 3 GG übereinstimmt und
deshalb gemäß Art. 142 GG als Landesgrundrecht fortgilt.
(Rn.89) Auch wenn in anderen Bundesländern die Eltern weiterhin bereits nach
vierjährigem Grundschulbesuch ihrer Kinder zwischen verschiedenen Schultypen
wählen können, und wenn im Lande Hessen bis jetzt erst in acht von 39
Landkreisen und in zwei von 9 kreisfreien Städten die obligatorische Förderstufe
eingeführt worden ist, liegt in ihrer Einführung in einzelnen Schulaufsichtsbereichen
keine Verletzung des Gleichheitssatzes.
(Rn.90) Der Landesgesetzgeber ist mit Rücksicht auf die föderalistische Struktur
der Bundesrepublik nur gehalten, den Gleichheitssatz innerhalb des
Geltungsbereichs der Landesverfassung zu wahren. In einem Bundesstaat müssen
die Länder die ihnen vorbehaltenen Materien nicht notwendig einheitlich regeln
(Leibholz-Rinck, GG, Komm., 3. Aufl., 1968, Anm. 20 zu Art. 3; BVerfGE 10, 354
(371); 12, 139 (143); 17, 319 (331)).
(Rn.91) Auch die abschnittsweise Einführung einer landesgesetzlichen Regelung,
die grundsätzlich einheitlich für das gesamte Land getroffen worden ist, verstößt
nicht gegen den Gleichheitssatz. Hierin liegt keine ungleiche Behandlung eines
gleichartigen Tatbestandes, die willkürlich genannt werden müsste. Die
Vorbereitungen für die Durchführung einer neuen schulorganisatorischen
Maßnahme können zu einer zeitlich unterschiedlichen Anwendung in den einzelnen
Schulaufsichtsbereichen führen. Die Rechtseinheit des Landes auf diesem Gebiet
wird damit dann nicht angetastet, wenn sachlich vertretbare Gründe dafür
vorliegen, die mit einer am Gerechtigkeitsgedanken orientierten
Betrachtungsweise vereinbar sind (Leibholz-Rinck, aaO, Anm. 9 zu Art. 3), und sich
die normsetzende Exekutive dabei im Rahmen der ihr gegebenen Ermächtigung
hält. § 9 Satz 1 SchVG macht die Einführung der Förderstufe durch eine
Rechtsverordnung der Landesregierung davon abhängig, dass die persönlichen,
sächlichen und schulorganisatorischen Maßnahmen hierfür in dem betreffenden
Schulaufsichtsbereich gegeben sind.
(Rn.92) Eine Verletzung des Gleichheitssatzes kann endlich auch nicht darin liegen,
dass im Schuljahr 1971/72 in keinem weiteren Schulaufsichtsbereich in Hessen die
obligatorische Förderstufe eingeführt worden ist, selbst wenn der Kultusminister
keinen Zeitplan darüber vorzulegen vermag, wann in den übrigen
Schulaufsichtsbereichen diese Institution verwirklicht werden soll.
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(Rn.93) Die jeweilige Einführung der obligatorischen Förderstufe hat im Benehmen
mit dem Schulträger zu erfolgen (§ 9 Satz 2 SchVG). Das entspricht dem
Grundsatz, dass das Land und die Schulträger bei Errichtung,
Organisationsänderung und Unterhaltung öffentlicher Schulen zusammenwirken (§
13 SchVG). Die mit der Förderstufe verbundene schulorganisatorische Maßnahme
betrifft mehrere Schulformen: Grundschulen, denn aus ihnen werden die Kinder in
die Förderstufe nach dem 4. Grundschuljahr überführt; Haupt- und
Gesamtschulen, denen die Förderstufe in der Regel zugerechnet wird; Realschulen
und Gymnasien, denn in diese Schularten oder in die Hauptschule treten die
Kinder nach der Förderstufe im 7. Schuljahr ein. Schulträger der genannten
Schulen sind die kreisfreien Städte und die Landkreise (§ 14 Abs. 1 SchVG). Die
kommunalen Schulträger üben ihre Rechte und Pflichten als
Selbstverwaltungsangelegenheiten aus. Die Hessische Verfassung enthält in Art.
137 Abs. 1 und Abs. 3 eine institutionelle Garantie der Selbstverwaltung der
Gemeinden und Gemeindeverbände, d. h. die Selbstverwaltung darf nicht
aufgehoben und auch nicht derart eingeschränkt werden, dass sie innerlich
ausgehöhlt wird (BVerfGE 1, 175). Diese verfassungsmäßige Garantie rechtfertigt
es, dass die Schulträger innerhalb ihres Bereichs ein einheitliches Schulsystem
einführen unter Zustimmung des Kultusministers und nicht zuwarten müssen, bis
die gesetzlich programmierte Änderung der Schulorganisation auch in den
anderen Schulaufsichtsbereichen eingerichtet werden kann.
(Rn.94) Auf den von den Antragstellern gestellten Beweisantrag kommt es sonach
nicht an.
(Rn.95) 7. Zu Unrecht rügen die Antragsteller, die Einführung der – in anderen
Ländern nicht vorgesehenen – obligatorischen Förderstufe widerspreche der
verfassungsmäßigen Ordnung, weil sie den Grundsatz bundestreuen Verhaltens
verletze. Dieser dem Grundgesetz angehörende Verfassungssatz gewährt aber
kein Grundrecht; nur die Verletzung von Grundrechten der Hessischen Verfassung
können die Antragsteller im vorliegenden Verfahren rügen.
(Rn.96) 8. Desgleichen kann der Staatsgerichtshof in diesem Verfahren nicht
prüfen, ob § 9 SchVG rechtsstaatlichen Grundsätzen insofern widerspreche, als die
Ermächtigung zu unbestimmt sei, insbesondere die Vorschrift keine Vorsorge
gegen voreilige Einführung der Förderstufe treffe. Auch bei diesem Gesichtspunkt
handelt es sich nicht um ein von der Hessischen Verfassung gewährtes
Grundrecht, das im Rahmen des vorliegenden Verfahrens vom Staatsgerichtshof
geprüft werden könnte.
(Rn.97) Die Kostenentscheidung beruht auf § 24 StGHG.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.