Urteil des StGH Hessen vom 14.03.2017

StGH Hessen: deklaratorische wirkung, grundrecht, hessen, verfügung, stadt, versammlungsfreiheit, sicherheit, verfassungsschutz, bundesgesetz, zustand

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Gericht:
Staatsgerichtshof
des Landes
Hessen
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
P.St. 95
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
Art 18 GG, Art 31 GG, Art 142
GG, Art 17 Verf HE
Leitsatz
Art. 17 Abs. 2 HV ist gemäß Art. 31 GG aufgehoben.
Tenor
Der Staatsgerichtshof erklärt sich für unzuständig.
Die Entscheidung ergeht gebührenfrei.
Auslagen werden nicht erstattet.
Gründe
Mitte November 1950 erschien an verschiedenen Stellen in ... folgender Anschlag:
"EIN VORSCHLAG ZUR ERHALTUNG DES FRIEDENS
West- und ostdeutsche Regierungsvertreter sollen zusammenkommen, um über
den Weg zur Erhaltung des Friedens und zur Einheit Deutschlands zu beraten.
Zu einer öffentlichen Aussprache über die Vorschläge der Prager Außenminister-
Konferenz am
Donnerstag, 16.11.50, 19.45 Uhr, Lokal ...
laden wir ein
HESSISCHER LANDESAUSSCHUSS FÜR ..."
Der Oberbürgermeister der Stadt ... als Ortspolizeibehörde verbot die
Versammlung mit Verfügung vom 16.11.1950 auf Grund des § 14 des
Polizeiverwaltungsgesetzes (PVG) vom 1.6.1931, des Art. 17 der Hess. Verfassung
i. Verb. mit dem Erlass des Hess. Ministers des Innern vom 19.5.1950, Abt. III,
Öffentliche Sicherheit und Ordnung, Ref. III/6 Az. III a Nr. 3074/50. Ziffer V. 4 a u. b.
und den Erlassen des Hess. Ministers des Innern vom 31.8.1950 und 20.9.1950,
Abt. II f 5 a O.
Gegen das Verbot erhob der Anfechtungskläger am 28.11.1950 Einspruch mit
dem Antrage, die angefochtene Verfügung aufzuheben und eine Wiederholung des
Versammlungsverbots zu untersagen.
Der Einspruchsausschuss der Stadt ... hob die angefochtene Verfügung mit seiner
Entscheidung vom 31.1.1951 – zugestellt am 13.2.1951 – auf mit der Begründung,
die vorgesehene Versammlung stelle keine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit
und Ordnung dar; das Versammlungsverbot sei keine notwendige Maßnahme im
Sinne des § 14 PVG; die Versammlung gefährde auch nicht den
verfassungsmäßigen Zustand; das Verbot verstoße gegen das Grundrecht der
Versammlungsfreiheit (Art. 8 Grundgesetz (GG.) und Art. 14 der Verfassung des
Landes-Hessen (HV.)).
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Darauf beantragte der Oberbürgermeister der Stadt ... unter dem 13.2.1951
Entscheidung durch das Verwaltungsgericht. Er ist der Auffassung, dass der
Einspruchsausschuss mit seiner Entscheidung § 14 PVG und Art. 17 HV. verletze
und von dem der Verwaltungsbehörde zustehendem Ermessen nicht im Sinne des
Gesetzes Gebraucht gemacht habe; bei dem Ausschuss für ... handele es sich um
eine kommunistische Tarnorganisation, die die demokratischen Einrichtungen der
Bundesrepublik und der Länder unterhöhle; die Tätigkeit dieser Organisation und
jede ihrer Versammlungen stelle daher eine unmittelbare Bedrohung des Staates
und seiner verfassungsmäßigen Einrichtungen dar.
... vom 29.5.1951 fasste das Verwaltungsgericht ... den aus dem Tenor
ersichtlichen Beschluss. Dieses Verfahren entspricht der Vorschrift des § 48 Abs. 2
STGHG. und ist in einem anhängigen Gerichtsverfahren zulässig, ohne dass es
eines entsprechenden Antrages der Parteien bedarf.
Indes verneint der Staatsgerichtshof seine Zuständigkeit, über die gestellten
Anträge zu befinden.
Nach Art. 17 Abs. 1 HV kann sich auf das Grundrecht der Versammlungsfreiheit
sowie auf andere in dieser Vorschrift genannte Grundrechte "nicht berufen", wer
den verfassungsmäßigen Zustand angreift oder gefährdet. Bei solchem
Missbrauch wird also der Verfassungsschutz hinfällig, eine Rechtsfolge, welcher der
"Verwirkung" des Grundrechts, wie Art. 18 GG sie im gleichen Falle
missbräuchlicher Ausnutzung vorsieht, wesensgleich ist (vgl. v. Mangoldt, Das
Bonner Grundgesetz, Kommentar Anm. 2 zu Art. 18).
Lassen aber die Grenzen, die nach Art. 17 Abs. 1 HV und 18 GG für das
inhaltsgleiche Grundrecht der Versammlungsfreiheit dem Verfassungsschutz
gesetzt sind, keine unterschiedliche Behandlung erkennen, so hängt die hier in
Frage kommende, aus Art. 17 Abs. 2 HV abgeleitete Zuständigkeit des
Staatsgerichtshofs allein davon ab, inwieweit Art. 31 GG zur Anwendung kommen
muss.
Nach dieser Vorschrift verfallen Landesgesetze, die mit dem Bundesgesetz
inhaltlich übereinstimmen, nicht minder als solche, welche dem Bundesgesetz
widersprechen, der Aufhebung (vgl. Bonner Kommentar Anm. II 1 b zu Art. 142
GG). – Die Ausnahmevorschrift des Art. 142 GG setzt aber, wie mittels
Umkehrschlusses zu folgern ist, die auf das Landes grundrecht sich beziehenden
Vorschriften gemäß Art. 31 GG nur insoweit außer Kraft, als sie der Regelung des
GG widersprechen . (Vgl. Bonner Kommentar Anm. II 2 a zu Art. 142 GG.)
Ein solcher Widerspruch liegt offensichtlich zwischen den
Grundrechtsbestimmungen des Art. 17 Abs. 2 HV einerseits und des Art. 18 Satz
2 GG andererseits vor.
Nach ersterer Vorschrift befindet über den Tatbestand missbräuchlicher
Ausnutzung der einschlägigen Grundrechte allein der Staatsgerichtshof, nach
letzterer allein das Bundesverfassungsgericht.
Ob die verfassungsrichterliche Entscheidung hierbei konstitutive oder nur
deklaratorische Wirkung hat, kann auf sich beruhen. Jedenfalls ist eine
Zuständigkeit des Staatsgerichtshofs nicht begründet, vielmehr Art. 17 Abs. 2 HV
gemäß Art. 31 GG aufgehoben (ebenso Süsterhenn-Schäfer, Kommentar der
Verfassung für Rheinland-Pfalz Anm. 2 c zu Art. 133).
Danach rechtfertigt sich die getroffene Entscheidung.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 24 StGHG.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.