Urteil des StGH Hessen vom 14.03.2017

StGH Hessen: wiedereinsetzung in den vorigen stand, fair trial, eidesstattliche erklärung, verfassungsbeschwerde, hessen, verschulden, stadt, briefkasten, verfassungsrecht, gefahr

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Gericht:
Staatsgerichtshof
des Landes
Hessen
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
P.St. 884, P.St.
885
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 48 Abs 3 StGHG HE, § 14
StGHG HE, § 44 StPO
(Grundrechtsklage vor dem Staatsgerichtshof HE: keine
Wiedereinsetzung bei Versäumung der Antragsfrist)
Leitsatz
1. Die Monatsfrist des StGHG HE § 48 Abs 3 S 1 ist eine Ausschlußfrist, bei deren
Versäumung eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht in Betracht kommt.
2. Durch die fristgerechte Anrufung des Bundesverfassungsgerichts wird die Monatsfrist
zur Erhebung der Grundrechtsklage vor dem Staatsgerichtshof in derselben Sache
weder unterbrochen noch gehemmt noch auf sonstige Weise beeinflußt.
Gründe
I.
Rechtsanwalt B. trat in dem verwaltungsgerichtlichen Normenkontrollverfahren vor
dem Hessischen Verwaltungsgerichtshof - Az.: II N 1/78 - wegen Nichtigerklärung
der Haushaltssatzung der Stadt R. für das Rechnungsjahr 1978 und in dem
entsprechenden Verfahren auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung - Az.: II N 2/78 -
als Verfahrensbevollmächtigter des (dortigen) Antragstellers auf. Durch
Beschlüsse vom 14. Juli 1978, an Rechtsanwalt B. zugestellt am 25. Juli 1978, wies
das Gericht ihn als Bevollmächtigten des Antragstellers zurück, da Rechtsanwalt B.
als Stadtverordneter der Stadt berufen gewesen sei und es auch noch sei, an der
Beratung und Beschlußfassung über die Haushaltssatzung mitzuwirken. Diese aus
seinem Mandat fließende Beteiligung begründe ein gesetzliches Vertretungsverbot
in dem Normenkontrollverfahren wegen eines möglichen Interessenkonflikts (§ 35
Abs 2 HGO in Verbindung mit § 26 Satz 2 HGO). Die Gefahr eines solchen
Interessenkonflikts liege dann vor, wenn der Gegenstand des gerichtlichen
Verfahrens zugleich in den gesetzlichen Aufgabenbereich des Mandatsträgers
falle, der als Verfahrensbevollmächtigter auftrete. In einem solchen Falle sei er von
dem Prozeßgericht als Verfahrensbevollmächtigter zurückzuweisen.
II.
Gegen die Beschlüsse des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom 14. Juli 1978 -
II N 1/78 -, der Gegenstand des Verfahrens P St 884 ist, und vom 14. Juli 1978 - II N
2/78 -, gegen den er sich in dem Verfahren P St 885 wendet, hat der Antragsteller
unter dem 24. August 1978 "Verfassungsbeschwerde" erhoben und beantragt, die
angefochtenen Beschlüsse aufzuheben; beide Eingaben sind am 28. August 1978
bei der Geschäftsstelle des Staatsgerichtshofs eingegangen.
Unter Bezugnahme auf den Inhalt seiner in Durchschrift beigefügten
Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht hat er zur Begründung
ausgeführt, die angegriffenen Beschlüsse des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs
verletzten sein "Grundrecht nach Art 2 der Hessischen Verfassung zumindest in
Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip".
Auf den Hinweis, seine Anträge seien nicht innerhalb der Monatsfrist des § 48 Abs
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Auf den Hinweis, seine Anträge seien nicht innerhalb der Monatsfrist des § 48 Abs
3 StGHG beim Staatsgerichtshof eingegangen, hat der Antragsteller
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Frist zur Erhebung
der Grundrechtsklage beantragt und vorgetragen, die Grundrechtsklage vom 24.
August 1978 sei auf seine besondere Anweisung hin wegen Fristablaufs am 25.
August 1978 von seiner Auszubildenden, Fräulein W.H., am 24. August 1978 um
16.25 Uhr rechtzeitig vor der Leerung um 16.30 Uhr in den Briefkasten in der W.-
gasse eingeworfen worden. Die - wie durch eidesstattliche Erklärung der
Auszubildenden vom 13. September 1978 bestätigt - zur selben Zeit eingeworfene
Verfassungsbeschwerde an das Bundesverfassungsgericht sei rechtzeitig am 25.
August 1978 dort in Karlsruhe eingegangen. Der normale Postweg von R. nach W.
betrage einen Tag. Selbst Briefe, die erst zur Leerung um 18.45 Uhr in den
genannten Briefkasten geworfen würden, seien bei normaler Postlaufzeit am
nächsten Tag in W. . Hierauf dürfe der Einzelne vertrauen. Werde die normale
Postlaufzeit aus Gründen, die er nicht zu vertreten habe, nicht eingehalten, sei
nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgericht Wiedereinsetzung in den
vorigen Stand zu gewähren. Anderenfalls würde in den Fällen der verzögerten
Briefbeförderung die Frist zur Einlegung der Grundrechtsklage mit willkürlichen
Ergebnissen verkürzt, was auch nicht mehr mit Art 6 MRK (Anspruch auf "fair trial")
vereinbar sei.
III.
Der Landesanwalt hält die Grundrechtsklagen für unzulässig; sie seien verspätet
erhoben worden.
Die Monatsfrist des § 48 Abs 3 StGHG sei eine Ausschlußfrist; im Falle ihrer
Versäumung komme nach gesicherter verfassungsrechtlicher Rechtsprechung
eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht in Betracht. Deshalb komme es
auch nicht darauf an, ob der verspätete Eingang der Klage auf einem Verschulden
des Antragstellers oder - wie etwa im Falle einer postalischen Verzögerung der
Briefbeförderung - auf Umständen beruhe, auf die er keinen Einfluß gehabt und die
er nicht zu vertreten habe.
§ 44 StPO sei im gegebenen Zusammenhang ebensowenig anwendbar wie die
Judikatur des Bundesverfassungsgerichts zur Auslegung dieser Vorschrift. Es gebe
auch keinen Verfassungsrechtssatz, der dazu führen könnte, im Verfahren der
Grundrechtsklage eine gesetzlich nicht vorgesehene
Wiedereinsetzungsmöglichkeit anzuerkennen. Auch die Tatsache des rechtzeitigen
Eingangs der Verfassungsbeschwerde des Antragstellers beim
Bundesverfassungsgerichts sei für die Frage der Fristwahrung bei der
Grundrechtsklage unerheblich.
IV.
Die beiden Verfahren P St 884 und P St 885 sind zur gemeinsamen Entscheidung
zu verbinden, weil sie dieselbe Rechtsfrage betreffen.
Die Anträge können keinen Erfolg haben; sie sind unzulässig. Der Antragsteller hat
die Antragsfrist des § 48 Abs 3 StGHG versäumt. Eine Wiedereinsetzung in den
vorigen Stand wegen der Versäumung dieser Frist kann nicht gewährt werden.
Ein Verfahren vor dem Staatsgerichtshof wegen Verletzung von Grundrechten
findet nach § 48 Abs 3 Satz 1 StGHG nur statt, wenn der Antragsteller eine
Entscheidung des höchsten in der Sache zuständigen Gerichts herbeigeführt hat
und innerhalb eines Monats seit Zustellung dieser Entscheidung den
Staatsgerichtshof anruft. Der Antragsteller hat zwar den Rechtsweg erschöpft;
denn die Beschlüsse des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom 14. Juli 1978
sind nach § 152 Abs 1 Satz 1 VwGO unanfechtbar. Seine Anträge vom 24. August
1978 sind aber verspätet beim Staatsgerichtshof eingegangen. Nach seinen
eigenen Angaben sind die angegriffenen Beschlüsse des Hessischen
Verwaltungsgerichtshofs dem Antragsteller am 25. Juli 1978 zugestellt worden.
Damit endete die Frist zur Einlegung der Grundrechtsklage am 25. August 1978.
Die Anträge sind jedoch erst am 28. August 1978 bei der Geschäftsstelle des
Staatsgerichtshofs eingegangen.
Entgegen der Ansicht des Antragstellers kommt es insoweit nicht darauf an, ob
der verspätete Eingang der Grundrechtsklage auf einem - eigenen oder
zurechenbaren - Verschulden des Antragstellers oder - wie etwa bei verzögerter
Postbeförderung - auf Umständen beruht, auf die er keinen Einfluß hatte und die
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Postbeförderung - auf Umständen beruht, auf die er keinen Einfluß hatte und die
er deshalb nicht zu vertreten hat. Die Monatsfrist des § 48 Abs 3 StGHG ist eine
Ausschlußfrist, bei deren Versäumung nach einhelliger verfassungsrechtlicher
Meinung eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht in Betracht kommt (so
Hess StGH in ständiger Rechtsprechung, zuletzt im Beschluß vom 28. Juli 1976 - P
St 793 - unter Hinweis auf Hess StGH, Beschluß vom 6. September 1958 - P St
267 -, ESVGH Bd 11/II S 22 (L) und Beschluß vom 21 Juni 1967 - P St 467 -; Zinn-
Stein, Hessische Verfassung, Kommentar, 1963ff, Art 131-133 HV, Erl B IV, 19 1;
BVerfGE 4, 309 (314/315) und 28, 243 (256); Leibholz-Rinck,
Bundesverfassungsgerichtsgesetz, Rechtsprechungskommentar, 1968, § 93
BVerfGG, RdNr 1; Lechner, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 3. Aufl 1973,
Vorbem vor § 17 BVerfGG, C II 1g; Maunz, Schmidt-Bleibtreu, Klein, Ulsamer,
Bundesverfassungsgerichtsgesetz, Stand. Februar 1978, § 93 BVerfGG, RdNr 55
für das Verfahren der Verfassungsbeschwerde).
Die vom Antragsteller zitierte Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
(BVerfGE 41, 23 und 44, 303) führt zu keiner anderen Beurteilung der Rechtslage.
Beiden Entscheidungen ist gemeinsam, daß sie dem vom
Bundesverfassungsgericht zu Art 19 Abs 4 und Art 103 Abs 1 GG entwickelten
Grundsatz, nach dem im Rahmen der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand dem
Bürger Verzögerungen der Briefbeförderung und Briefzustellung nicht als
Verschulden zugerechnet werden dürfen, nur für den allgemeinen Rechtsweg
Geltung verschaffen, nicht aber auch für den außerordentlichen Rechtsbehelf der
Verfassungsbeschwerde. Jener Grundsatz gilt nach diesen Entscheidungen des
Bundesverfassungsgerichts allein für die Fälle des ersten Zugangs zum Gericht wie
für die Fälle des Zugangs zu einem weiteren, von der jeweiligen Prozeßordnung
vorgesehenen Rechtsmittelzug. Nichts anderes gilt für das Verfahren zur
Verteidigung der Grundrechte vor dem Staatsgerichtshof nach Art 131 Abs 1 HV in
Verbindung mit §§ 45ff StGHG. Auch die Grundrechtsklage ist kein weiteres
Rechtsmittel im gerichtlichen Instanzenzug, sondern ein außerordentlicher
Rechtsbehelf, mit dem der Einzelne die Verletzung von Grundrechten und
grundrechtsähnlichen Rechten rügen kann, die in der Verfassung des Landes
Hessen verbürgt sind (so Hess StGH in ständiger Rechtsprechung, zuletzt im
Beschluß vom 26. Oktober 1977 - P St 858 -).
Die Eigenart der Grundrechtsklage als außerordentlicher Rechtsbehelf und das
Wesen der Monatsfrist nach § 48 Abs 3 Satz 1 StGHG als Ausschlußfrist verbieten
es auch, eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand im Wege einer ergänzenden
Verfahrensregelung nach § 14 Abs 1 Satz 2 StGHG einzuführen. Die
Anwendbarkeit des § 44 StPO auf das Verfahren der Grundrechtsklage hat der
Staatsgerichtshof in seinem Beschluß vom 21. Juni 1967 - P St 467 - ohnehin
verneint, wie denn überhaupt dem hessischen Verfassungsrecht kein Rechtssatz
mit Grundrechtscharakter entnommen werden kann, im Verfahren der
Grundrechtsklage die vom Gesetzgeber nicht vorgesehene Möglichkeit der
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand anzuerkennen. Auf außerhalb der
Verfassung des Landes Hessen gewährleistete Menschenrecht - wie etwa Art 6
MRK (Anspruch auf "fair trial") - kann sich der Antragsteller vor dem
Staatsgerichtshof nicht berufen (so Hess StGH, Beschluß vom 28. Juli 1976 - P St
827). Schließlich ändert auch der rechtzeitige Eingang der Verfassungsbeschwerde
beim Bundesverfassungsgericht nichts an der Versäumung der Monatsfrist zur
Erhebung der Grundrechtsklage bei dem Staatsgerichtshof. Die
Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht und der Antrag zur
Verteidigung der Grundrechte an den Staatsgerichtshof bestehen selbständig und
unabhängig nebeneinander. Durch die Anrufung des einen Verfassungsgerichts
wird die Frist zur Anrufung des anderen weder unterbrochen noch gehemmt noch
auf sonstige Weise beeinflußt (so Hess StGH, Beschluß vom 26. Januar 1966, - P St
430 -).
Fehlte es nach allem an der Möglichkeit einer Wiedereinsetzung in den vorigen
Stand, so sind die verspätet eingegangenen Anträge vom 24. August 1978 als
unzulässig zurückzuweisen.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.