Urteil des StGH Hessen vom 14.03.2017

StGH Hessen: unverletzlichkeit der wohnung, akte, untermieter, normenkontrolle, verordnung, anfechtung, verfassungsrecht, hessen, grundrecht, gesetzgebung

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Gericht:
Staatsgerichtshof
des Landes
Hessen
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
P.St. 73
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 45 Abs 2 StGHG HE, § 46
Abs 3 StGHG HE
Leitsatz
Nach hessischem Verfassungsrecht können ebenso wie behördliche Akte auch
diejenigen Akte der Gesetzgebung, die auf Landtagsbeschlüssen beruhen, gemäß § 45
Abs. 2 StGHG von jedem Staatsbürger, der sich durch einen Gesetzgebungsakt in
einem ihm verfassungsmäßig gewährten Grundrecht verletzt fühlt, angefochten
werden.
Tenor
Der Antrag wird als offenbar unbegründet zurückgewiesen.
Die Gebühr wird auf DM 100,– festgesetzt und ist von den Antragstellern zu
tragen.
Gründe
I.
Die Antragsteller führen bzw. führten vor dem Amtsgericht ... 2 Räumungsklagen
mit dem Rubrum: ... ./. ..., – ... – ... ./. ..., – ... –. In beiden Fällen war die
Hauptmieterin rechtskräftig wegen Belästigung der Antragsteller zur
Mietaufhebung und Räumung verurteilt worden. Auf Grund dieses Sachverhalts
haben die Antragsteller Räumungsklage gegen die in der Wohnung verbliebenen
Untermieter ... und ... erhoben. Sie sind der Ansicht, dass mit dem Erlöschen des
Hauptmietverhältnisses auch das Untermietverhältnis aufgehoben sei. – In ... ist
eine Entscheidung bisher noch nicht ergangen. –
In ... hat das Amtsgericht ... die Räumungsklage mit Urteil vom 21.VI.cr.
abgewiesen und zwar unter Berufung auf die angefochtenen Bestimmungen des §
4 der Hessischen Verordnung über die einstweilige Regelung von
Mietsstreitigkeiten (HMStrVO) vom 23.XI.1946 (GVBl. S. 222). Gegen dieses Urteil
haben die Antragsteller Berufung eingelegt und hierbei angeregt, das Gericht
möge den Staatsgerichtshof zur Entscheidung über die Gültigkeit jener
angefochtenen Bestimmungen anrufen.
§ 4 HMStrVO lautet:
"Wird das Hauptmietverhältnis auf Grund der §§ 1 – 3 dieser Verordnung
aufgehoben, so erlischt das Mietverhältnis zwischen Hauptmieter und Untermieter.
Der Untermieter, der gemäß § 24 Mieterschutzgesetz Mieterschutz genießt, tritt
insoweit in die Rechte des Hauptmieters ein, sofern ihn kein Verschulden an dem
Verhalten des Hauptmieters trifft.
Sind mehrere Untermieter im Sinne des Abs. 1 vorhanden, so bestimmt das
Wohnungsamt, wer Hauptmieter wird."
Die Antragsteller sehen in Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 dieser Vorschrift einen Verstoß
gegen die Art. 2 und 8 der Hessischen Verfassung (HV).
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Nach Art. 2 HV könne ein Staatsbürger, – wird ausgeführt – zu einer Handlung,
Unterlassung oder Duldung nur gezwungen werden, wenn ein Gesetz oder eine auf
Gesetz beruhende Bestimmung es verlange. Eine derartige gesetzliche
Bestimmung liege zwar in § 4 HMStrVO vor, verstoße aber ihrerseits gegen die HV,
weil über Art. 157 HV hinaus in Art. 159 HV den Kontrollratsgesetzen der Vorrang
vor der HV eingeräumt werde. Tatsächlich gelte für das Wohnungsrecht das
Kontrollratsgesetz Nr. 18 (KG), wonach die Vergebung oder Verfügung über
Wohnräume alleinige Sache der Verwaltungsbehörden sei, die im Rahmen dieses
Gesetzes zu arbeiten hätten und gegen deren Maßnahmen der
Verwaltungsrechtsweg gegeben sei. Wenn die Vorschrift des § 4 Abs. 1 Satz 2
HMStrVO dem zuwider anordne, dass nach einer gemäß §§ 1 – 3 dieser
Verordnung erfolgten Aufhebung des Hauptmietverhältnisses der Untermieter in
die Rechte des Hauptmieters eintrete, so stehe sie offensichtlich im Widerspruch
mit den Bestimmungen des KG und sei deshalb nach Art. 159 HV
verfassungswidrig, was gleichzeitig zur Folge habe, dass entgegen Art. 2 HV
ungesetzlich die Handlungsfreiheit des Vermieters beschränkt sei. – Aus fast den
gleichen Gründen liege auch ein Verstoß gegen Art. 8 HV vor, der die
Unverletzlichkeit der Wohnung bestimme.
Die Antragsteller haben mit Schriftsatz vom 19.VII.cr. den im entscheidenden Teil
dieses Beschlusses genannten Antrag gestellt.
Der Hessische Justizminister hat namens des Antragsgegners mit Schriftsatz vom
30.VIII.cr. den Antrag gestellt:
"Den Antrag vom 19.VII.cr. nach § 21 StGHG durch Beschluss zurückzuweisen."
Er spricht den Antragstellern, die in ihrer Person die Voraussetzungen, unter
denen jemand nach §§ 17 Abs. 2, 41 StGHG beim Staatsgerichtshof die
Verfassungswidrigkeit einer Rechtsnorm geltend machen kann, zweifellos nicht
erfüllen, darum schlechthin die Befugnis ab, den Staatsgerichtshof dieserhalb
anzurufen. Die Anfechtung eines Gesetzgebungsaktes soll hiernach auf die Fälle
der sogen. "abstrakten Normenkontrolle" beschränkt sein, wie § 41 StGHG sie
vorsieht.
II.
Der Staatsgerichtshof ist in seiner bisherigen Rechtsprechung (vgl. P. St. 41 und
62) unter folgenden Gesichtspunkten von einer wesentlich anderen Beurteilung der
Rechtslage als derjenigen des Antragsgegners, ausgegangen:
Im Gegensatz zur "Verfassungsbeschwerde" des bayer. Rechtss, welche nur eine
Anfechtung behördlicher Akte zulässt, (vgl. Art. 66 und Art. 120 der Bayer. Verf.
sowie §§ 47 ff des Bayer. Ges. Nr. 72 über den Verfassungsgerichtshof und
Nawiasky-Leusser, Die Verfassung des Freistaates Bayern, Seite 145 und 202) hat
der Hessische Gesetzgeber, wie aus dem Wortlaut des § 46 Abs. 3 StGHG zu
folgern ist, eine solche Beschränkung der Anfechtungsmöglichkeit nicht gewollt.
Den Behörden werden nämlich in § 46 Abs. 3 StGHG die Organe des Landes,
mithin auch der Hessische Landtag, gleichgestellt. Deshalb können nach
hessischem Verfassungsrecht ebenso wie behördliche Akte auch diejenigen Akte
der Gesetzgebung, die auf Landtagsbeschlüssen beruhen, gemäß § 45 Abs. 2
StGHG von jedem Staatsbürger, der sich durch einen Gesetzgebungsakt in einem
ihm verfassungsmäßig gewährten Grundrecht verletzt fühlt, angefochten werden,
was bedeutet, dass eine über die Fälle der abstrakten Normenkontrolle hinaus
erweiterte Normenkontrolle nach erhobener Grundrechtsklage möglich ist.
Sind hiernach unter Berücksichtigung dieser Möglichkeit die Antragsteller für das
Klagebegehren aktiv legitimiert, so fragt sich, welchen Einfluss die Tatsche, dass in
beiden Zivilprozessen, in denen von klägerischer Seite als Grundrechtsverletzung
ein angeblich verfassungswidriger Gesetzgebungsakt geltend gemacht wird, noch
keine letztinstanzliche Entscheidung ergangen ist, unter dem Gesichtspunkt des §
48 Abs. 3 StGHG auf die verfahrensrechtliche Zulässigkeit der Grundrechtsklage
haben muss. Wenn ausnahmslos diese Klagevoraussetzung vorliegen würde, so
wäre die erhobene Grundrechtsklage ohne weiteres abweisungsreif.
Demgegenüber ist bereits vom Staatsgerichtshof im Urteil vom 14.IV.cr. (P. St. 41
und 54) das Fehlen jener Klagevoraussetzung als unschädlich anerkannt worden,
wenn § 48 Abs. 1 Satz 3 StGHG zum Zuge kommt. Wie im genannten Urteil
ausgeführt ist, wirkt sich für diese Bestimmung die Anwendungsmöglichkeit
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ausgeführt ist, wirkt sich für diese Bestimmung die Anwendungsmöglichkeit
keineswegs nur als eine Beschränkung jurisdiktioneller Befugnisse, vielmehr auch
positiv dahin aus, dass ohne vorherige Erschöpfung des Rechtsweges nach
erhobener Grundrechtsklage ein Verfahren vor dem Staatsgerichtshof
durchgeführt werden kann, wenn die Bedeutung der Sache über den Einzelfall
hinausgeht, mithin eine allgemeine Regelung erforderlich erscheint, ein
Tatbestand, der im vorliegenden Fall ohne Zweifel erfüllt ist.
III.
Die verfahrensrechtlich zulässige Anfechtung des streitigen Gesetzgebungsaktes
konnte gleichwohl nicht zum Erfolg führen.
Hierbei kann es dahin gestellt bleiben, ob sich die angefochtenen Bestimmungen
tatsächlich in Widerspruch mit den Grundrechten der Art. 2 und 8 HV setzen. Jener
Gesetzgebungsakt konnte schon deshalb nicht hiervon berührt werden, weil er
bereits vor Inkrafttreten der HV vollzogen worden ist, also nicht Bindungen
unterlag, die als Verfassungsvorschriften noch nicht existent waren.
Nicht zulässig aber ist eine verfassungsrichterliche Nachprüfung der Frage, ob
etwa die angefochtenen Bestimmungen gegen andere , als in der Verfassung
enthaltene Rechtsnormen verstoßen (ebenso für das Bayer. Recht Entsch. des
Bayer. Verfassungsgerichtshofs vom 17.IX.1949 – 46 – VI, VII 49 –).
Unter jene Rechtsnormen aber, deren Verletzung hier nicht nachprüfbar ist, würde
auch das Grundgesetz vom 23.V.1949 fallen. Allerdings ist, wie der
Staatsgerichtshof bereits in seinem Urteil vom 4.VIII.cr. (P. St. 62) anerkannt hat,
für ihn zwar nicht innerhalb der abstrakten Normenkontrolle, indes wohl der
Inzident - Kontrolle zur Prüfung der Grundgesetzmäßigkeit angefochtener
Rechtsnormen eine Zuständigkeit gegeben. Voraussetzung hierfür ist nur, dass es
sich um landesgesetzliche Rechtsnormen handelt, wie in jenem Urteil mehrfach
ausdrücklich hervorgehoben wird.
Die Prüfung der Grundgesetzmäßigkeit von Bundes recht fällt niemals in den
Rahmen solcher Zuständigkeit.
Tatsächlich ist aber, wie zutreffend im oben genannten Schriftsatz des
Antragsgegners vom 30.VIII.cr. bemerkt wird, die Verordnung vom 23.XI.1946, weil
sie Reichsrecht abgeändert hat, nach Art. 125 Ziff. 2 in Verbindung mit Art. 74 Ziff.
1 und 18 GG Bundesrecht geworden.
Endlich ist unabhängig hiervon dem Staatsgerichtshof nicht minder jede
Nachprüfung verwehrt, ob im streitigen Gesetzgebungsakt Vorschriften verletzt
worden sind, welche die Besatzungsmacht erlassen hat.
Wie der Staatsgerichtshof gleichfalls in jenem Urteil vom 4.VIII.cr. entschieden hat,
wirkt sich die nach Besatzungsrecht geschaffene Lage dahin aus, dass
höherwertige Normen dieses Rechts jedenfalls auf Landesebene
verfassungsrichterlicher Auslegung nicht zugänglich sind.
IV.
Hiernach ist das Klagebegehren der Antragsteller nicht erfüllbar, weshalb gemäß §
21 Abs. 1 StGHG sich die Zurückweisung des offenbar unbegründeten Antrags
rechtfertigt.
Die Auferlegung einer Gebühr beruht auf § 24 StGHG.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.