Urteil des StGH Hessen vom 13.03.2017

StGH Hessen: einstweilige verfügung, anspruch auf einbürgerung, vorrang des bundesrechts, haftbefehl, hessen, auslieferungshaft, vollzug, willkür, ausnahme, verkehr

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Gericht:
Staatsgerichtshof
des Landes
Hessen
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
P.St. 743
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
Art 131 Abs 2 Verf HE, §§ 45
StGHG
Leitsatz
Bundesrecht geht dem Landesrecht, auch dem Landesverfassungsrecht, im Rang vor
(Art. 31 GG), so dass seine Auslegung und Anwendung nicht an den Maßstäben der
Grundrechte einer Landesverfassung gemessen werden können.
Etwas anderes kann allenfalls dann gelten, wenn das Gericht willkürlich entschieden, in
Wahrheit also gar kein Bundesrecht angewendet hat.
Tenor
Die Anträge werden auf Kosten des Antragstellers zurückgewiesen.
Die Gebühr wird auf 100,– DM festgesetzt.
Gründe
I.
Der Antragsteller ist ... Staatsangehöriger. Am 19. Oktober 1970 erließ die
Staatsanwaltschaft ... gegen ihn einen Haftbefehl, in dem er beschuldigt wurde, als
Lehrer an einer Schule in ... unzüchtige Handlungen an minderjährigen Schülern
begangen zu haben.
Am 6. Februar 1973 wurde der Antragsteller in ... vorläufig festgenommen und
dem Richter vorgeführt, der ihm den Haftbefehl eröffnete.
Durch Beschluß vom 7. Februar 1973 – ... – nahm das Oberlandesgericht Frankfurt
(Main) den Antragsteller gemäß § 10 Abs. 2 des Deutschen Auslieferungsgesetzes
(DAG) mit der Begründung vorläufig in Haft, die dem Angeklagten zur Last
gelegten Taten seien auch nach deutschem Recht strafbar (§§ 174 Abs. 1 Ziffer 1,
175, 176 Abs. 1 Ziffer 1 und 3, 235, 74 StGB), so daß die Auslieferung nach Art. 1
Absatz 1, 2 des deutsch-... Auslieferungsvertrages vom 12. Juni 1942 (RGBl. 1943,
Teil II S. 73) gerechtfertigt sei. Am 23. Februar 1973 wurde dieser Beschluß dem
Antragsteller vom Amtsgericht ... – ... – eröffnet.
Am 28. Februar 1973 beantragte der Antragsteller beim Regierungspräsidenten in
... seine Einbürgerung nach § 8 Abs. 2 Satz 1 des Gesetzes zur Regelung von
Fragen der Staatsangehörigkeit vom 22. Februar 1955 (BGBl. I, 65). Er machte
einen Einbürgerungsanspruch im Sinne dieser Vorschrift geltend und legte dar,
daß die tatbestandlichen Voraussetzungen gegeben seien.
Am 2. März 1973 wurde der Antragsteller vor dem Oberlandesgericht vernommen
und danach unter Auflagen vom Vollzug der Auslieferungshaft vorläufig verschont.
Nachdem das förmliche Auslieferungsersuchen des ... Ministeriums für
Gnadenwesen und Justiz vom 17. Februar 1973 eingetroffen war, ordnete das
Oberlandesgericht durch Beschluß vom 21. März 1973 an, daß die vorläufige
Auslieferungshaft jetzt als förmliche fortdauere, daß der Antragsteller aber unter
den Auflagen des Beschlusses vom 2. März 1973 weiterhin vom Vollzug der
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den Auflagen des Beschlusses vom 2. März 1973 weiterhin vom Vollzug der
Auslieferungshaft verschont bleibe. Am 3. August 1973 gestattete das
Oberlandesgericht dem Antragsteller, unter bestimmten Auflagen seinen Wohnsitz
in ... zu nehmen.
Am 21. September 1973 lehnte der Regierungspräsident in ... – III 7 – 1 c 04 – Co –
den Einbürgerungsantrag des Antragstellers ab. Hiergegen erhob der Antragsteller
Widerspruch. Der Regierungspräsident in ... verneinte seine Zuständigkeit zu
weiterer Entscheidung, da der Antragsteller in den Bereich des
Regierungspräsidenten in ... verzogen sei. Daß der Regierungspräsident in ... eine
weitere Entscheidung getroffen hat, hat der Antragsteller nicht vorgebracht.
Durch Beschluß vom 8. Januar 1974 entschied das Oberlandesgericht gemäß § 25
DAG, daß die Auslieferung des Antragstellers wegen der im Haftbefehl der
Staatsanwaltschaft ... bezeichneten Straftaten zulässig sei. Es führte zur
Begründung aus, daß alle gesetzlichen Voraussetzungen für die Auslieferung
gegeben seien, Gründe, die der Zulässigkeit entgegenstehen könnten, nicht
vorlägen. Anhaltspunkte für die Befürchtung des Verfolgten, der Grundsatz der
Rechtsstaatlichkeit werde vom ersuchenden Staat ... nicht gewährt, seien nicht
ersichtlich. Die Berechtigung des Schuldvorwurfs habe das Oberlandesgericht nicht
nachzuprüfen (Art. 14 des deutsch-... Auslieferungsvertrages). Für die Annahme
"offensichtlicher Willkür der Schuldvorwürfe" ergebe sich kein Anhaltspunkt. Daß
das Einbürgerungsverfahren noch nicht rechtskräftig abgeschlossen sei, hindere
die Durchführung des Auslieferungsverfahrens nicht; hierzu hat das
Oberlandesgericht auch auf Nr. 48 Absatz 2 der von der Bundesregierung und den
Regierungen der Länder am 15. Januar 1959 erlassenen "Richtlinien für den
Verkehr mit dem Ausland in strafrechtlichen Angelegenheiten" (RiVASt) verwiesen.
Einen Anspruch auf Einbürgerung habe der Antragsteller auch nach Auffassung
des Senats nicht, so daß § 4 Ziffer 3 DAG der Auslieferung nicht entgegenstehe.
Das gleiche gelte für § 3 Abs. 1 und 2 DAG, da der Antragsteller kein politisch
Verfolgter im Sinne des Art. 16 Abs. 2 GG sei. Kein Anlaß bestehe schließlich für
die Befürchtung, daß die Strafverfolgung in ... rechtsstaatliche Grundsätze
verletzen werde.
Dieser Beschluß ging dem Antragsteller am 22. Januar 1974 zu.
Durch Beschluß vom 11. Februar 1974 setzte das Oberlandesgericht schließlich
den Auslieferungshaftbefehl vom 21. März 1973 wieder in Vollzug.
II.
Der Antragsteller hat mit einer am 22. Februar 1974 eingegangenen Eingabe den
Staatsgerichtshof angerufen. Er hat beantragt,
1. den Beschluß des Oberlandesgerichts vom 8. Januar 1974 für kraftlos zu
erklären,
2. die Auslieferung des Antragstellers an die Republik ... für unzulässig zu
erklären,
3. die Vollziehung des angegriffenen Beschlusses durch einstweilige Verfügung
bis zur Entscheidung in der Hauptsache auszusetzen.
Zur Begründung hat er vorgetragen, der Beschluß des Oberlandesgerichts
verletze seine Grundrechte aus Art. 7 der Hessischen Verfassung (HV). Zwar sei er
nicht Deutscher, doch müsse er wie ein solcher behandelt werden, da seine
Einbürgerung, auf die er Anspruch habe, bevorstehe. Zu Unrecht verneine das das
Oberlandesgericht mit dem Hinweis auf den Bescheid des Regierungspräsidenten
in ..., denn dieser Bescheid sei durch den Bescheid vom 19. Dezember 1973
aufgehoben worden. Andererseits stehe ihm als Ausländer das Asylrecht zu, da er
in ... politisch verfolgt, in seinen Grundrechten verletzt worden und deshalb
geflohen sei. Die gegen ihn im Haftbefehl der Staatsanwaltschaft ... erhobenen
Beschuldigungen seien nur ein Vorwand, der den wahren Grund der politischen
Verfolgung verdecken solle.
Der Landesanwalt hält den Antrag für unzulässig, da die Entscheidung des
Oberlandesgerichts ausschließlich auf der Auslegung und Anwendung von
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Oberlandesgerichts ausschließlich auf der Auslegung und Anwendung von
Bundesrecht beruhe und deshalb der Nachprüfung auf ihre Vereinbarkeit mit
einem von der Hessischen Verfassung gewährten Grundrecht nicht unterliege. Sei
aber die in der Hauptsache ergangene Grundrechtsklage unzulässig, so sei auch
für eine einstweilige Verfügung kein Raum.
Der Hessische Ministerpräsident hat für das Land Hessen vorgetragen, daß er von
einer Stellungnahme absehe, da die Anträge offensichtlich unzulässig seien.
Der Antragsteller hat erwidert, daß der angegriffene Beschluß des
Oberlandesgerichts nicht ausschließlich auf Bundesrecht beruhe. Zwar nehme das
Oberlandesgericht das an – doch sei es objektiv nicht so. Mindestens gelte das für
die Annahme des Oberlandesgerichts, die Durchführung des
Auslieferungsverfahrens sei nicht dadurch gehindert, daß das
Einbürgerungsverfahren noch nicht rechtskräftig abgeschlossen sei. Diese
Annahme werde nämlich vom Oberlandesgericht lediglich mit dem Hinweis auf Nr.
48 Abs. 2 RiVASt gestützt, die nicht nur nicht Bundesrecht, sondern überhaupt
kein "Recht" seien. Des weiteren könne es wegen des Vorrangs der
Grundrechtsgewährleistung im Grundgesetz vor den nach Art. 142 GG
weitergeltenden Grundrechten der Hessischen Verfassung gar kein gültiges
Bundesrecht geben, das von der Beachtung der nach Art. 142 GG
aufrechterhaltenen Grundrechte der Hessischen Verfassung dispensieren könne.
Die gegenteilige Auffassung tendiere in ihrer Konsequenz angesichts der heutigen
Prädominanz der Bundesgesetzgebung zugleich auch zu einer weiteren
Aushöhlung der nach Art. 142 GG offengehaltenen landesverfassungsrechtlichen
Möglichkeiten. Eine solche Aushöhlung sei um so weniger zu vertreten, als das
Recht der Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht durch dessen
excessiven Gebrauch von der Möglichkeit des § 93 a BVerfGG bereits weitgehend
ausgehöhlt sei. Die begehrte einstweilige Verfügung sei seit dem Beschluß des
Oberlandesgerichts vom 11. Februar 1974 noch dringlicher geworden.
III.
Die Anträge können keinen Erfolg haben.
1. Zwar hat der Antragsteller den Vorschriften der §§ 45 ff StGHG genügt. Er hat
die nach seiner Meinung verletzten Grundrechte der Hessischen Verfassung
bezeichnet, hat die Tatsachen vorgetragen, aus denen sich die Verletzung
ergeben soll, und hat die Frist des § 48 Abs. 3 Satz 1 StGHG gewahrt.
2. Die Nachprüfung, ob der Beschluß des Oberlandesgerichts vom 8. Januar 1973
auf der Verletzung eines Grundrechts der Hessischen Verfassung beruht (§ 48
Abs. 3 Satz 2 StGHG), ist dem Staatsgerichtshof jedoch versagt.
a) Das Oberlandesgericht hat alle für seine Entscheidung maßgebenden
rechtlichen Gesichtspunkte den von ihm bezeichneten Vorschriften des Deutschen
Auslieferungsgesetzes entnommen. Dem steht nicht entgegen, daß das
Oberlandesgericht auch die "Richtlinien für den Verkehr mit dem Ausland in
strafrechtlichen Angelegenheiten" zitiert hat. Denn ersichtlich hat das
Oberlandesgericht seine Entscheidung nicht hierauf gestützt, sondern lediglich
beiläufig erwähnt ("vgl. auch Nr. 48 Abs. 2 RiVASt"), daß dort die-selbe Folgerung
gezogen ist, die das Oberlandesgericht aus der Auslegung des Gesetzes gefunden
hat.
b) Bundesrecht geht dem Landesrecht, auch dem Landesverfassungsrecht, im
Range vor (Art. 31 GG), so daß seine Auslegung und Anwendung nicht an den
Maßstäben der Grundrechte einer Landesverfassung gemessen werden kann. Der
Staatsgerichtshof sieht keine Möglichkeit, von dieser seiner ständigen – mit dem
Bayerischen Verfassungsgerichtshof übereinstimmenden – Rechtsprechung
(zuletzt Beschluß vom 6. Februar 1974 – P.St. 732 –) abzugehen. Er kann
insbesondere der Auffassung nicht folgen, die als Ausnahme von Art. 31 GG in Art.
142 GG ausgesprochene Weitergeltung gewisser Landesgrundrechte habe eine
Erhöhung dieser Grundrechte über den Status des Landesrechts hinaus zur Folge.
Vielmehr kann Art. 142 GG nur so verstanden werden, daß die von der Regel des
Art. 31 GG ausgenommenen, mit dem Grundgesetz übereinstimmenden
Grundrechte nur als Landes(verfassungs)recht in Kraft geblieben sind, so daß sich
am Vorrang des Bundesrechts nichts geändert hat. Das Bedauern über diese
Einschränkung landesverfassungsgerichtlicher Rechtsschutzmöglichkeiten kann
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Einschränkung landesverfassungsgerichtlicher Rechtsschutzmöglichkeiten kann
jedoch ebenso wenig wie die Tatsache, daß dem Hessischen
Landesverfassungsrecht eine dem § 93 a BVerfGG entsprechende Vorschrift fremd
ist, eine Mißachtung des Art. 31 GG rechtfertigen. Auch andere von der
Hessischen Verfassung vor dem Inkrafttreten des Grundgesetzes geschaffene
Rechtsschutzmöglichkeiten sind der Prädominanz der Bundesgesetzgebung zum
Opfer gefallen: z.B. die Vorschriften über die Richteranklage in Art. 127 Abs. 4 HV,
§§ 28 - 30 StGHG dem Art. 98 Abs. 5 Satz 2 GG, die Vorschriften über den Schutz
der Verfassung in Art. 147 Abs. 2 HV, §§ 38 - 40 StGHG dem Gesetz zur
Wiederherstellung der Rechtseinheit auf dem Gebiete der Gerichtsverfassung, der
bürgerlichen Rechtspflege, des Strafverfahrens und des Kostenrechts vom 12. Mai
1950 (BGBl. I, 455), so daß das Bestehen eines in der Landesverfassung
gewährten Rechts noch nichts über seine Einklagbarkeit vor dem Staatsgerichtshof
besagt.
c) Eine Ausnahme von dem Satz, daß eine auf Bundesrecht beruhende
gerichtliche Entscheidung nicht von einem Landesverfassungsgericht auf
Verletzung eines von der Landesverfassung gewährten Grundrechts nachgeprüft
werden kann, könnte – nach ebenfalls ständiger Rechtsprechung des
Staatsgerichtshofs und des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs – allenfalls dann
gelten, wenn das Gericht willkürlich entschieden, in Wahrheit also gar kein
Bundesrecht angewendet hätte. Indessen ist dafür kein Anhaltspunkt ersichtlich.
Insbesondere kann eine Willkür nicht darin erblickt werden, daß das
Oberlandesgericht das Schreiben des Regierungspräsidenten in ... vom 19.
Dezember 1973 nicht als Aufhebung des die Einbürgerung des Antragstellers
ablehnenden Bescheids vom 21. September 1973 verstanden hat. Nicht willkürlich
ist auch die Annahme des Oberlandesgerichts, der Antragsteller habe keinen
Einbürgerungsanspruch und es stehe seiner Auslieferung nicht entgegen, daß das
Einbürgerungsverfahren noch nicht rechtskräftig abgeschlossen ist, nicht willkürlich
schließlich die in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts stehende und auf geltendes Völkerrecht gestützte
Annahme, der Antragsteller habe nicht zu befürchten, daß er unter Verletzung
rechtsstaatlicher Grundsätze wegen anderer als der dem Auslieferungsbegehren
zugrundeliegender Straftaten zur Rechenschaft gezogen werde.
3. Erweist sich sonach die Grundrechtsklage als unzulässig, so ist auch für die
vom Antragsteller begehrte einstweilige Verfügung kein Raum. Denn nur in
einem zu seiner Entscheidungszuständigkeit gehörigen Streitfall kann der
Staatsgerichtshof eine einstweilige Verfügung erlassen (vgl. die
Entscheidungen des Staatsgerichtshofs vom 16. Juni 1971 – P.St. 631 –, vom
9. Februar 1972 – P. St. 665 –, vom 6. September 1972 – P. St. 691 – und vom
12. September 1973 – P. St. 723 –; ebenso das Bundesverfassungsgericht in
BVerfGE 7, 367, 371).
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 24 StGHG.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.