Urteil des StGH Hessen vom 10.07.1996

StGH Hessen: rechtliches gehör, rücktritt vom vertrag, verfassungsbeschwerde, allgemeine geschäftsbedingungen, hessen, willkürverbot, verfassungsrecht, dokumentation, gewährleistung, ministerpräsident

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Gericht:
Staatsgerichtshof
des Landes
Hessen
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
P.St. 1208
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 90 Abs 3 BVerfGG, Art 1 Verf
HE, Art 3 Verf HE, § 24 Abs 1
StGHG , § 43 Abs 2 StGHG
Leitsatz
1. Zur Zulässigkeit einer Grundrechtsklage bei gleichzeitiger Rechtshängigkeit einer
Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht.
2. Fehlende Substantiierung einer u.a. auf einen Verstoß gegen den Gleichheitssatz und
das Willkürverbot wegen Nichtbeachtung allgemeiner Geschäftsbedingungen gestützten
Grundrechtsklage.
3. Zur Tragweite der Gewährleistung des Grundrechts auf rechtliches Gehör.
Tenor
Der Antrag zurückgewiesen.
Gerichtskosten werden nicht erhoben, außergerichtliche Kosten nicht erstattet.
Gründe
A
Die Antragstellerin wendet sich mit ihrer Grundrechtsklage gegen Urteile des
Amtsgerichts und des Landgerichts Limburg in einem zivilgerichtlichen Verfahren
auf Zahlung von entgangenem Gewinn aus einem stornierten Kaufvertrag. Sie rügt
die Verletzung ihres Rechts auf rechtliches Gehör und einen Verstoß gegen den
Gleichheitssatz und das Willkürverbot.
I.
Die Antragstellerin betreibt einen Fliesenhandel. Am 27. August 1993 erhielt sie
einen Auftrag über die Lieferung von Bodenfliesen einer näher bestimmten Sorte.
Nachdem die Antragstellerin dem Auftraggeber in der Folgezeit mitgeteilt hatte,
die Fliesen könnten erst vier Wochen nach Bestellung geliefert werden, stornierte
dieser den Auftrag. Im sich anschließenden zivilgerichtlichen Verfahren behauptete
der Auftraggeber, die Parteien hätten fest vereinbart, dass die Fliesen binnen 14
Tagen nach Bestellung geliefert würden. Die Antragstellerin und damalige Klägerin
bestritt dies und machte im Wege der Klage u.a. ihren entgangenen Gewinn
gelten. Nachdem das Amtsgericht Limburg drei Zeugen zur Frage vernommen
hatte, ob zwischen den Parteien ein fester Liefertermin vereinbart worden war, wies
es die Klage mit Urteil vom 28. Juli 1994 ab. Zur Begründung führte es aus, die
Parteien hätten nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme mündlich eine Lieferzeit
von zwei Wochen vereinbart. Nachdem die Klägerin angekündigt habe, den Vertrag
nicht innerhalb der vereinbarten Frist erfüllen zu können, sei der Auftraggeber zum
Rücktritt vom Vertrag berechtigt gewesen. Die Berufung der Antragstellerin gegen
dieses Urteil wies das Landgericht Limburg mit Urteil vom 1. Februar 1995, der
Antragstellerin zugestellt am 3. Februar 1995, im wesentlichen aus den Gründen
der Entscheidung des Amtsgerichts zurück.
II.
Mit am 1. März 1995 beim Staatsgerichtshof eingegangenem Schriftsatz vom 25.
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Mit am 1. März 1995 beim Staatsgerichtshof eingegangenem Schriftsatz vom 25.
Februar 1995 hat die Antragstellerin „Verfassungsbeschwerde“ gegen die beiden
vorgenannten Gerichtsentscheidungen eingelegt und zur Begründung auf die
Durchschrift einer an das Bundesverfassungsgericht gerichteten
Verfassungsbeschwerde gleichen Datums verwiesen. Sie rügt einen Verstoß gegen
den Gleichheitssatz und das Willkürverbot, weil die Gerichte ihre Entscheidungen
auf angebliche mündliche Vereinbarungen gestützt hätte, obgleich in ihren, der
Antragstellerin, Geschäftsbedingungen geregelt sei, dass mündliche
Nebenabreden unwirksam seien. Amts- und Landgericht Limburg hätten den
„Vertragsbruch“ des Auftraggebers als rechtmäßig bestätigt. Dies stelle einen
unerträglichen und als willkürlich zu bezeichnenden Zustand dar, durch den der
Gleichheitsgrundsatz verletzt werde, weil andere Gewerbetreibende sich auf ihre
Allgemeinen Geschäftsbedingungen sowie auf vertragliche Vereinbarungen
verlassen könnten, sie, die Antragstellerin dagegen rechtlos gestellt werde. Eine
Verletzung des rechtlichen Gehörs liege darin, dass die Gerichte auf einen
bestimmten Sachverhalt nicht eingegangen seien, der für die Beurteilung der
Glaubwürdigkeit der Parteien, um den es in den zivilgerichtlichen Verfahren
wesentlich gegangen sei, relevant gewesen wäre. Der damalige Beklagte habe
nämlich sowohl gegenüber dem Amtsgericht als auch gegenüber dem Landgericht
behauptet, als Menge der zu liefernden Fliesen sei im Auftragsformular zunächst
nur 1 Quadratmeter eingetragen worden, erst später sei aus der 1 eine 100
gemacht worden. Ihr Anwalt habe dies zurückgewiesen und gegenüber dem
Landgericht ausgeführt, dass der gegnerische Vortrag durch diese
wahrheitswidrige Behauptung vollends unglaubhaft werde. Auf die offensichtliche
„Prozesslüge“ der Gegenseite seien die Gerichte indes nicht eingegangen.
III.
Der Hessische Ministerpräsident hält die Grundrechtsklage für unzulässig,
jedenfalls aber für unbegründet.
Der Landesanwalt bei dem Hessischen Staatsgerichtshof hat sich nicht am
Verfahren beteiligt.
IV.
Der Staatsgerichtshof hat die Akten des vor dem Amtsgericht und dem
Landgericht Limburg geführten zivilgerichtlichen Streitverfahren beigezogen.
B
I.
Der Antrag ist unzulässig.
Die als „Verfassungsbeschwerde“ bezeichnete Eingabe der Antragstellerin ist als
Grundrechtsklage im Sinne des Art. 131 der Hessischen Verfassung - HV - i.V.m.
§§ 43 ff. des Gesetzes über den Staatsgerichtshof - StGHG - anzusehen, mit der
sich die Antragstellerin gegen das Urteil des Landgerichts Limburg vom 1. Februar
1995 wendet. Nicht Gegenstand der Grundrechtsklage kann die diesem Urteil
vorausgegangene Entscheidung des Amtsgerichts Limburg sein, denn der
Staatsgerichtshof prüft im Rahmen einer Grundrechtsklage nur, ob die
Entscheidung des höchsten in der Sache zuständigen hessischen Gerichts auf der
Verletzung eines von der Verfassung des Landes Hessen gewährten Grundrechts
beruht (§ 44 Abs. 1 Sätze 2 und 3 StGHG).
Der Zulässigkeit des Antrags steht nicht entgegen, dass die Antragstellerin
gleichzeitig mit der beim Staatsgerichtshof eingereichten Grundrechtsklage eine
Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht eingelegt hat. Nach § 90
Abs. 3 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht - BVerfGG - bleibt das
Recht, eine Verfassungsbeschwerde an das Landesverfassungsgericht nach dem
Recht der jeweiligen Landesverfassung zu erheben, von der Einlegung einer
Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht unberührt.
Verfassungsbeschwerde und Grundrechtsklage zum Staatsgerichtshof bestehen
nebeneinander und sind wegen der unterschiedlichen Prüfungsmaßstäbe -
Grundgesetz einerseits und Landesverfassung andererseits - voneinander
unabhängig, selbst wenn es sich um inhaltsgleiches Verfassungsrecht handelt (vgl.
Kley/Rühmann in Umbach/Clemens, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 1992, § 90
Rdnrn. 126 ff. [133], S. 1204 f.).
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Der Antrag ist aber deshalb unzulässig, weil er nicht den Anforderungen des § 43
Abs. 2 StGHG entspricht. Danach ist eine Grundrechtsklage nur zulässig, wenn der
Antragsteller Tatsachen darlegt, aus denen sich nachvollziehbar die gerügte
Grundrechtsverletzung ergeben kann (vgl. StGH, Beschluss vom 8. November
1996 - P.St. 1190 -; Beschluss vom 13. März 1996 - P.St. 1169 -). Diese
Voraussetzungen erfüllt der Vortrag der Antragstellerin nicht.
Insoweit mag dahinstehen, ob die Antragstellerin dem vorgenannten
Darlegungsgebot schon deshalb nicht genügt hat, weil sie in ihrem an den
Staatsgerichtshof gerichteten Antrag lediglich auf die beim
Bundesverfassungsgericht eingelegte Verfassungsbeschwerde Bezug genommen
hat. Jedenfalls lassen sich dem Vorbringen der Antragstellerin weder
Anhaltspunkte für eine Verletzung des aus Art. 1 HV folgenden
Gleichbehandlungsgrundsatzes und des daraus abzuleitenden Willkürverbots noch
für eine Verletzung des Rechts der Antragsteller auf Gewährung rechtlichen
Gehörs entnehmen.
Der pauschale und durch keine weiteren Einzelheiten untermauerte Hinweis der
Antragstellerin, sie sei durch die angegriffene Entscheidung des Landgerichts
rechtlos gestellt worden, während andere Gewerbetreibende sich auf ihre
Allgemeinen Geschäftsbedingungen sowie auf vertragliche Vereinbarungen
verlassen könnten, lässt nicht einmal ansatzweise eine Verletzung des
Gleichbehandlungsgrundsatzes erkennen. Weder ist nachvollziehbar dargelegt,
dass das Landgericht Limburg insoweit eine Ungleichbehandlung vorgenommen
habe, noch ist die Bezugnahme auf andere Gewerbetreibende hinreichend
bestimmt, um überhaupt nachprüfen zu können, was die Antragstellerin mit
diesem Vorbringen meint. Im übrigen hängt es ohnehin von den konkreten
Umständen des Einzelfalls und der danach jeweils maßgeblichen Rechtslage ab, ob
Allgemeine Geschäftsbedingungen zur Anwendung kommen oder ob sie durch
wirksame Individualvereinbarungen verdrängt werden. Letztlich wäre es aber auch
ohne Bedeutung, wenn das Landgericht Limburg etwa von der Entscheidung eines
anderen Gerichts zu einem vergleichbaren Sachverhalt abgewichen wäre. Richter
sind nämlich in ihren Entscheidungen unabhängig und nur dem Gesetz
unterworfen (Art. 97 Abs. 1 GG, Art. 126 HV). Ein Gericht braucht daher bei der
Auslegung und Anwendung von Normen einer von seiner Rechtsauffassung
abweichenden Meinung nicht zu folgen (vgl. StGH, Beschluss vom 12. Dezember
1995 - P.St. 1191 -, StAnz. 1996 S. 413).
Das Vorbringen der Antragstellerin lässt auch nicht erkennen, dass das
Landgericht mit seiner Entscheidung gegen das Willkürverbot verstoßen haben
könnte. Willkürlich wäre eine Entscheidung dann, wenn die Rechtsanwendung und
das vom Gericht gewählte Verfahren bei verständiger Würdigung der die
Verfassung bestimmenden Prinzipien nicht mehr verständlich wären und sich der
Schluss aufdrängte, die Entscheidung beruhe auf sachfremden Erwägungen (vgl.
StGH, Beschluss vom 3. September 1980 - P.St. 916 -; Beschluss vom 12.
Dezember 1995 - P.St. 1191 -, a.a.O.; Beschluss vom 13. März 1996 - P.St. 1169 -
). Anhaltspunkte hierfür lässt das Vorbringen der Antragstellerin nicht erkennen
und sind im übrigen auch nicht ersichtlich. Das Landgericht Limburg ist den
rechtlichen Erwägungen des Amtsgerichts gefolgt, welches auf Grund der
durchgeführten Beweisaufnahme zu dem Ergebnis gelangt war, dass die Parteien
des zivilgerichtlichen Rechtsstreits mündlich einen festen Liefertermin vereinbart
hätten. Weder in der insoweit vorgenommenen Beweiswürdigung noch in der
rechtlichen Einschätzung, dass diese mündliche Vereinbarung wirksam sei, kann
eine gänzlich unvertretbare und daher willkürliche Entscheidung gesehen werden.
Ob sich die Entscheidung unter Berücksichtigung der maßgeblichen zivilrechtlichen
Rechtslage als richtig erweist, bedarf im vorliegenden Zusammenhang keiner
Überprüfung, da das Vorbringen der Antragstellerin jedenfalls einen
Verfassungsverstoß nicht einmal ansatzweise erkennen lässt.
Gleiches gilt für die Ausführungen der Antragstellerin, mit denen sie eine
Verletzung ihres Rechts auf rechtliches Gehör darzulegen versucht. Auch hierfür
bietet der dem Staatsgerichtshof unterbreitete Sachverhalt keine Anhaltspunkte.
Das Gebot rechtlichen Gehörs verpflichtet die Gerichte, das Vorbringen der
Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in ihre Erwägungen einzubeziehen.
Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass die Gerichte den Vortrag der Beteiligten
kennen und würdigen. Sie sind nicht verpflichtet, jedes Vorbringen ausdrücklich zu
erwähnen und zu bescheiden. Deshalb kann ein Verstoß gegen das rechtliche
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erwähnen und zu bescheiden. Deshalb kann ein Verstoß gegen das rechtliche
Gehör nur in Betracht kommen, wenn sich aus besonderen Umständen des
Einzelfalles konkret eine Verletzung dieser Verpflichtung ergibt (vgl. StGH,
Beschluss vom 12. Dezember 1993 _ P.St. 1166 -, StAnz. 1994 S. 738, m.w.N.;
Beschluss vom 12. Dezember 1995 - P.St. 1191 -, a.a.O.). Solche besondere
Umstände sind im vorliegenden Fall nicht dargetan. Zwar lässt weder das Urteil
des Landgerichts Limburg noch die ihm vorausgegangene Entscheidung des
Amtsgerichts, auf die das Landgericht weitgehend Bezug genommen hat, ein
ausdrückliches Eingehen auf das Vorbringen der Antragstellerin und damaligen
Klägerin erkennen, der Beklagte sei schon deswegen unglaubwürdig, weil er
wahrheitswidrig behaupte, die Menge der bestellten Fliesen sei nachträglich auf
dem Auftragsformular verändert worden. Gleichwohl lässt sich den Darlegungen
der Antragstellerin im Grundrechtsklageverfahren nichts entnehmen, was darauf
hindeuten könnte, dass die Gerichte dieses Vorbringen überhaupt nicht zur
Kenntnis genommen und in ihre Erwägungen einbezogen hätten. Wahrscheinlich
ist vielmehr, dass es nach Auffassung des Landgerichts - wie auch schon des
Amtsgerichts - auf den vorgenannten Umstand angesichts des Ergebnisses der
Beweisaufnahme nicht entscheidend ankam. Jedenfalls ist nicht dargelegt, was
eine Verletzung des rechtlichen Gehörs nahelegen könnte.
II.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 28 Abs. 1 StGHG.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.