Urteil des SozG Wiesbaden vom 11.10.2010

SozG Wiesbaden: fahrtkosten, vorläufiger rechtsschutz, stadt, hauptsache, hiv, gesundheit, erlass, gewährleistung, fahren, apotheke

Sozialgericht Wiesbaden
Beschluss vom 11.10.2010 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Wiesbaden S 23 AS 766/10 ER
Hessisches Landessozialgericht L 9 AS 600/10 B ER
1. Die Antragsgegnerin wird im Rahmen der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin für den Zeitraum
vom 17.09.2010 bis 31.03.2011 vorläufig die Fahrtkosten für die Wahrnehmung ihrer Substitutionsbehandlung zu
gewähren.
2. Die Antragsgegnerin hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin zu tragen.
Gründe:
I.
Die Antragstellerin begehrt Fahrtkosten für die Wahrnehmung einer Substitutionsbehandlung im Wege der
Einstweiligen Anordnung.
Die 1985 geborene Antragstellerin befindet sich im laufenden Bezug von Leistungen der Grundsicherung für
Arbeitsuchende nach dem Sozialgesetzbuch, 2. Buch -SGB II-. Seit Mai 2010 befindet sie sich aufgrund einer
Drogenabhängigkeit in einer Substitutionsbehandlung. Sie muss täglich zur Einnahme des Substituts in eine Apotheke
nach A-Stadt fahren sowie einmal wöchentlich zu ihrem behandelnden Arzt nach ZA ... Hierfür entstehen ihr
Fahrtkosten für eine Monatsfahrkarte nach A-Stadt in Höhe von 74,80 Euro monatlich sowie 20,60 Euro wöchentlich
für die Fahrt nach ZA., insg. 157,20 Euro im Monat.
Am 16.06.2010 hat die Antragstellerin bei der Antragsgegnerin beantragt, ihr die im Zusammenhang mit der
Substitutionsbehandlung entstehenden Fahrtkosten zu erstatten. Den Antrag lehnte die Antragsgegnerin mit Bescheid
vom 28.06.2010 ab, weil es sich bei den Fahrtkosten zur Substitutionsbehandlung nicht um eine Fallkonstellation
handele, für die das Bundesverfassungsgericht mit seinen Urteilen vom 09.02.2010, Az.: 1 BvL 1, 3 und 4/09 die
Gewährung der Kosten für einen besonderen, unabweisbaren Bedarf entschieden habe. Hiergegen legte die
Antragstellerin nach ihrem (unwidersprochenen) Vortrag Widerspruch ein.
Die Antragstellerin hat am 17.09.2010 Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gestellt. Sie sei nicht in der
Lage, aus den ihr gewährten Grundsicherungsleistungen die notwendigen Fahrtkosten zu tragen.
Sie beantragt schriftsätzlich sinngemäß, die Antragsgegnerin im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes vorläufig zu
verpflichten, ihr die im Rahmen der Substitutionsbehandlung entstehenden Fahrtkosten zu erstatten.
Die Antragsgegnerin beantragt schriftsätzlich, die Antrag abzulehnen.
Aufgrund interner Weisungslage habe eine streitige Entscheidung zu ergehen.
Die Antragsgegnerin hat auf den Weiterbewilligungsantrag der Antragstellerin für den Zeitraum vom 01.10.2010 bis
31.03.2011 SGB II-Leistungen in Höhe von 702,21 Euro monatlich bewilligt.
Wegen der weiteren Einzelheiten der Sach- und Rechtslage wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und die von der
Antragsgegnerin übersandten Auszüge aus der Verwaltungsakte verwiesen, die Gegenstand der Entscheidung
gewesen sind.
II.
Der zulässige Antrag auf Erlass einer Regelungsanordnung nach § 86b Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ist
begründet.
Nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG kann das Gericht eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen
Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis erlassen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung
wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Voraussetzung hierfür ist, dass der Antragsteller den Anordnungsanspruch,
d.h. den materiellen Anspruch, für den vorläufiger Rechtsschutz begehrt wird, und den Anordnungsgrund, d.h. die
Unzumutbarkeit, bei Abwägung aller betroffenen Interessen die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten,
glaubhaft macht (§ 86 b Abs. 2 Satz 4 SGG in Verbindung mit § 920 Abs. 2 ZPO). Es muss demnach eine dringliche
Notlage vorliegen, die eine sofortige Entscheidung erfordert (vgl. Beschlüsse des Hessischen LSG v. 23.07.2007, L 9
AS 91/06 ER; 06.07.2007, L 9 AS 226/06 ER; 07.06.2006, L 9 AS 85/06 ER). Können ohne die Gewährung vorläufigen
Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen, die durch das
Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären, sind die Erfolgsaussichten der Hauptsache nicht nur
summarisch, sondern abschließend zu prüfen.
Zwischen Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund besteht eine Wechselbeziehung derart, als das die
Anforderungen an den Anordnungsanspruch mit zunehmender Eilbedürftigkeit bzw. Schwere des drohenden Nachteils
zu verringern sind und umgekehrt. Maßgeblich sind die Erfolgsaussichten einer entsprechenden Klage im
Hauptsacheverfahren. Ist die Klage im Hauptsacheverfahren offensichtlich unzulässig oder unbegründet, ist die
einstweilige Anordnung ohne Rücksicht auf den Anordnungsgrund grundsätzlich abzulehnen, da ein schützenswertes
Recht nicht existiert. Ist die Klage in der Hauptsache offensichtlich begründet, vermindern sich die Anforderungen an
einen Anordnungsgrund.
Die Antragstellerin hat sowohl einen Anordnungsanspruch als auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Ein
Anspruch auf Erstattung der geltend gemachten Fahrtkosten ergibt sich aus dem seit dem 03.06.2010 in Kraft
getretenen § 21 Abs. 6 SGB II. Danach erhalten erwerbsfähige Hilfebedürftige einen Mehrbedarf, soweit im Einzelfall
ein unabweisbarer, laufender, nicht nur einmaliger besonderer Bedarf besteht. Der Mehrbedarf ist unabweisbar, wenn
er insbesondere nicht durch die Zuwendungen Dritter sowie unter Berücksichtigung von Einsparmöglichkeiten der
Hilfebedürftigen gedeckt ist und seiner Höhe nach erheblich von einem durchschnittlichen Bedarf abweicht.
Die der Antragstellerin entstehenden Fahrtkosten für die Durchführung der Substitutionsbehandlung stellen einen
solchen unabweisbaren, laufenden, nicht nur einmaligen, besonderen Bedarf dar. Der Bedarf ist unabweisbar, da die
Antragstellerin medizinisch auf die Substitutionsbehandlung angewiesen ist. Sie muss täglich von ihrem Wohnort B-
Stadt nach A-Stadt zur Apotheke zu fahren und einmal wöchentlich zu ihrem behandelnden Arzt nach ZA ... Das
Grundrecht auf Gewährung eines menschenwürdigen Existenzminimums, dass sich aus Artikel 1 Absatz 1
Grundgesetz in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 1 Grundgesetz ergibt, umfasst unter anderem die physische
Existenz des Menschen, also Nahrung, Kleidung, Hausrat, Unterkunft, Heizung, Hygiene und Gesundheit (BverfGE
120, 125, 155 ff.). Zur Gewährleistung von Gesundheit gehört unter anderem die Sicherstellung einer notwendigen
Krankenbehandlung. Dies schließt ein, dass der Behandlungsort tatsächlich erreicht werden kann. Hieran würde es
fehlen, wenn der Antragstellerin keine Mittel zur Verfügung gestellt würden, die für sie notwendige
Substitutionstherapie täglich aufzusuchen. Da eine Substitutionsbehandlung längerfristig angelegt ist entstehen die
Fahrtkosten nicht nur einmalig sonder laufend, voraussichtlich für den gesamten Bewilligungsabschnitt.
Bei den geltend gemachten Fahrtkosten handelt es sich auch um einen besonderen Bedarf. Nach der
Gesetzesbegründung zu § 21 Abs. 6 SGB II (BT-Drucks. 17/1465, B zu Nr. 2) muss es sich um ein in
Sondersituationen auftretenden Bedarf handeln der in der Regelleistung nicht erfasst bzw. atypischen Ursprungs ist.
In der Regelleistung nach § 20 SGB II ist für die Nutzung von Verkehrsdienstleistungen ein Anteil von 4,5 % enthalten
(siehe hierzu Eicher/Spellbrink, SGB II, 2. Aufl. 2008, § 20 Randnummer 24). Dies entspricht bei der ab 01.07.2009
geltenden Regelleistung von 359,00 Euro einem Betrag von 16,16 Euro. Bei der Ermittlung des Regelsatzes wurden
zwar Kosten für Verkehrsdienstleistungen und damit auch Fahrten zu Krankenbehandlungen erfasst, jedoch dürfte
eine so enge Behandlungsfrequenz, wie sie bei der Antragstellerin notwendig ist, mit der dadurch entstehenden Höhe
an Fahrtkosten nicht erfasst worden sein. Die zu berücksichtigenden Sonderbedarfe sind nicht auf die in der
Gesetzesbegründung genannten, dauerhaft benötigten Hygienemittel bei bestimmten Erkrankungen (HIV,
Neurodermitis), Putz-/Haushaltshilfen für Rollstuhlfahrer und Kosten zur Wahrnehmung des Umgangsrechts bei
getrennt lebenden Ehegatten begrenzt. Denn diese Aufzählung ist nicht abschließend. Die Situation der Antragstellerin
ist mit denjenigen Hilfebedürftigen, die Bedarfe im Rahmen der vorgenannten Fallgruppen geltend machen,
vergleichbar. Insbesondere die in der vorgenannten Beschlussempfehlung genannte Fallgruppe der zu
gewährleistenden dauerhaft benötigten Hygienemittel bei bestimmten Erkrankungen (z. B. HIV, Neurodermitis), macht
deutlich, dass gerade im Bereich von Erkrankungen Bedarfslagen entstehen können, die zur Gewährleistung einer
menschenwürdigen Existenz erforderlich sind und anderweitig nicht gedeckt werden.
Schließlich kann die Antragstellerin den erheblichen Betrag von 157,20 Euro monatlich nicht von den ihr gewährten
Grundsicherungsleistungen in Höhe von 702,21 Euro monatlich tragen und ist nach ihrem glaubhaften Vortrag auch
nicht in der Lage, die Kosten anderweitig zu decken. Eine wohnortnähere Behandlung ist der Antragstellerin nicht
möglich, da die öffentlichen Verkehrsverbindungen ihres Wohnortes sonst die Abholung des Substituts am Sonntag
nicht ermöglichen würden.
Ein Anordnungsgrund ist ebenfalls glaubhaft gemacht, da es für die Antragstellerin bei Abwägung aller betroffenen
Interessen unzumutbar erscheint, die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten.
Die Kostenentscheidung folgt aus entsprechender Anwendung des § 193 SGG.