Urteil des SozG Wiesbaden vom 12.04.2007

SozG Wiesbaden: bekleidung, mitwirkungspflicht, kritik, rüge, privatsphäre, erstmaliger, wachstum, beihilfe, zivilprozessordnung, geburt

Sozialgericht Wiesbaden
Beschluss vom 12.04.2007 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Wiesbaden S 16 AS 89/07 ER
Hessisches Landessozialgericht L 9 AS 126/07 ER
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird zurückgewiesen.
Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.
Gründe:
Die nach der Teilerledigterklärung vom 14. März 2007 (Bl. 17 d. A.) noch zur Sachentscheidung anstehenden, am 20.
Februar 2007 bei dem Sozialgericht Wiesbaden eingegangene Anträge, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen
Anordnung zu verpflichten, 1. eine Beihilfe für folgende Kleidungsstücke der Antragstellerin zu 3), nachdem sie aus
der Erstausstattung heraus gewachsen ist, zu bewilligen: - 7 Bodys ca. 13,- EUR - 6 Strampler ca. 25,- EUR - 7
Pullover ca. 25,- EUR - 7 Socken ca. 10,- EUR - 5 Schlafanzüge ca. 20,- EUR - 4 Strumpfhosen ca. 10,- EUR
2. den Mehrbedarf für den Kindergartenbesuch des Antragstellers zu 4) zu bewilligen, in Gestalt einer
Kindergartentasche (ca. 15,- EUR), einem paar Gummistiefel (ca. 20,- EUR), für eine Matschhose (ca. 26,- EUR) und
einer Regenjacke (ca. 20,- EUR),
sind als Anträge nach § 86 b Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässig, indes unbegründet.
Nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG – der hier allein in Betracht kommt – kann das Gericht auf Antrag auch schon vor
Klageerhebung eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges
Rechtsverhältnis treffen, wenn diese Regelung nötig erscheint, um wesentliche Nachteile abzuwenden. Die
tatsächlichen Voraussetzungen des geltend gemachten Anspruchs bzw. des Rechtsverhältnisses und der Grund für
eine notwendige vorläufige Regelung sind glaubhaft zu machen (§ 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO) i. V. mit § 86
b Abs. 2 Satz 4 SGG).
Ein Anordnungsanspruch nach § 23 Sozialgesetzbuch, Zweites Buch, Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II),
der hier allein in Betracht kommt, wurde nicht glaubhaft gemacht und ist auch sonst nicht ersichtlich.
Bei dem Bedarf der Antragstellerin zu 3) (Antrag obige Nr. 1) handelt es sich nicht um einen Erstausstattungsbedarf
an Bekleidung nach § 23 Abs. 3 Nr. 2 SGB II. Die Antragstellerin zu 1) erklärte in ihrem Antrag ausdrücklich, dass die
Antragstellerin zu 3) nach ca. drei Monaten aus der Erstlingsausstattung heraus gewachsen sei. Außer dem
Erstbedarf direkt nach der Geburt fällt aber unter die hier zu prüfende Anspruchsgrundlage nur ein Bekleidungsbedarf
bei Gesamtverlust der Bekleidung oder aufgrund außergewöhnlicher Umstände (vgl. Münder in: ders. (Hrsg.) LPK-
SGB II, 2. Aufl., § 23 Rn. 33). Keine außergewöhnlichen Umstände sind naturgemäß das gewöhnliche Wachstum
eines Babys oder Kleinkindes. Weder nach dem Wortlaut noch in systematischer Hinsicht spricht etwas dafür,
wachstumsbedingten Bekleidungsbedarf unter die genannte Vorschrift zu fassen. Zum einen ist nur die "erste"
Ausstattung nach dem Wortlaut erfasst, zum anderen fällt der übrige Bekleidungsbedarf im Laufe des Lebens
unstreitig unter den Regelsatz nach § 20 SGB II. Deutlich wird, dass der Gesetzgeber bei seinem Verständnis der
Erstausstattung auf kurzfristige – insbesondere auch auf unvorhersehbar eintretende - Veränderungen abstellen
wollte, bei denen der jeweilige Leistungsempfänger selbst vorher keine Möglichkeit hatte, vorausschauend aus der
Regelleistung etwas anzusparen (so SG Wiesbaden, Beschluss vom 1. Februar 2007, S 20 AS 568/06 ER).
Der Bedarf ist auch nicht als unabweisbarer Mehrbedarf nach § 23 Abs. 1 SGB II darlehensweise zu erfüllen. Der
Vortrag der Antragsteller lässt jede Begründung vermissen, warum den Antragstellern ein Ansparen des geltend
gemachten Bedarfes unmöglich war. Die Antragstellerin zu 1) bezieht seit Oktober 2005 Leistungen nach dem SGB II.
Der Bedarf der Antragstellerin zu 3) wird drei Monate nach erstmaliger Leistungsgewährung geltend gemacht. Obwohl
die Antragsgegnerin in der Antragserwiderung vom 1. März 2007 (Bl. 12 d. A.) ausdrücklich darauf hingewiesen hat,
dass es maßgeblich darauf ankommt, ob der Leistungsempfänger vorher keine Möglichkeit gehabt habe,
vorausschauend aus der Regelleistung für diesen Fall etwas anzusparen, wird von den Antragstellern hierzu nichts
geschildert.
Aus dem letztgenannten Grunde kann auch der Antrag zu 2) bzgl. des Antragstellers zu 4) keinen Erfolg haben.
Das Gericht verkennt bei alledem nicht, dass der im Regelsatz vorgesehene Ansparbetrag für Bedarfe, die auf der
Grundlage des Bundessozialhilfegesetzes als Einmalleistungen beansprucht werden konnten, sehr knapp bemessen
ist und aus diesem Grunde erheblicher rechtspolitischer wie verfassungsrechtlicher Kritik unterliegt (z. B. Frohmann,
NDV 2004, 246ff.; Rothkegel ZfSH/SGB 2004, 396ff.; vgl. Martens, SozSich 2006, 182 zu den Berechnungen des
Paritätischen Wohlfahrtsverbandes zur Regelsatzhöhe). Nicht zuletzt aus dem Individualisierungsgrundsatz und den
aus der Mitwirkungspflicht der Beteiligten folgenden Grenzen des Amtsermittlungsgrundsatzes folgt aber, dass der
Hilfebedürftige bei der Rüge eines nicht hinreichenden Regelsatzes im Einzelfall darlegen und glaubhaft machen
muss, dass ein unabweisbarer Bedarf aus den Ansparbeträgen des Regelsatzes nicht gedeckt werden konnte. Die
darzulegende Haushaltsführung ist ein allein in der Privatsphäre der Hilfebedürftigen liegender Bereich, der der
Amtsermittlung des Gerichts allein durch den Vortrag der Antragsteller zugänglich wird.
Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.