Urteil des SozG Wiesbaden vom 26.10.2010

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Sozialgericht Wiesbaden
Beschluss vom 26.10.2010 (rechtskräftig)
Sozialgericht Wiesbaden S 15 AS 632/10 ER
Die Antragsgegnerin wird im Rahmen der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig einen
Mehrbedarf in Höhe von monatlich 49 Euro ab August 2010 bis Dezember 2010 zu gewähren.
Im Übrigen wird der Antrag zurückgewiesen.
Die Antragsgegnerin hat die außergerichtlichen Kosten des Antragstellers zu tragen.
Gründe:
I.
Die Beteiligten streiten über monatliche Leistungen für eine Jahreskarte im öffentlichen Nahverkehr, die der
Antragsteller zum Besuch der Berufsfachschule benötigt.
Der 18 jährige Antragsteller lebt mit seinen Eltern und seiner Schwester in einem gemeinsamen Haushalt und erzielt
mit seinem Nebenjob als Zeitungsausträger monatlich ca. 30 EUR Einkommen. Seine Eltern erzielen kein
Einkommen. Die Bedarfsgemeinschaft steht im laufenden SGB II-Bezug bei der Antragsgegnerin. Der Antragsteller
besucht die Berufsfachschule im 25 km entfernten B-Stadt. Für den Zeitraum von August 2010 bis Juli 2011 hat er ein
Jahreskarten-Abonnement im Rhein-Main-Verkehrverbund (RMV) bestellt, das in acht monatlichen Raten von je 62,40
EUR von seinem Konto abgebucht wird. Den Antrag auf Übernahme dieser Kosten hat die Antragsgegnerin mit
Bescheid vom 23.07.2010 abgelehnt.
Der Antragsteller hat am 03.08.2010 bei Gericht um einstweiligen Rechtsschutz nachgesucht und im
Erörterungstermin am 28.09.2010 den Antrag gestellt, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu
verpflichten, ihm die Schülerbeförderungskosten in Höhe von 62,40 Euro vorläufig ab Antragstellung zu gewähren.
Die Antragsgegnerin beantragt, den Antrag zurückzuweisen.
Sie vertritt die Auffassung, dass Schülerfahrkarten grundsätzlich mit der Regelleistung abgedeckt seien, so dass kein
Härtefall festgestellt werden könne.
Wegen der weiteren Einzelheiten, auch im Vorbringen der Beteiligten, wird auf die Gerichtsakte und den Auszug der
Akte der Antragsgegnerin verwiesen, deren Inhalt Gegenstand der Entscheidungsfindung geworden ist.
II.
Der Antrag ist zulässig und überwiegend begründet.
Nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines
vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis getroffen werden, wenn dies zur Abwehr
wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Dies setzt voraus, dass das Bestehen eines zu sichernden Rechts
(Anordnungsanspruch) und die besondere Eilbedürftigkeit (Anordnungsgrund) glaubhaft gemacht werden, § 86 b Abs.
2 Satz 3 SGG in Verbindung mit § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO). Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung
der Sach- und Rechtslage ist der Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts.
Der Antragsteller hat einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Ein Anspruch auf einen Mehrbedarf für die
Finanzierung der Kosten für die Monatskarten ergibt aus § 21 Abs. 6 SGB II (in der Fassung des Art. 3 a Nr. 2 lit. b)
des "Gesetzes zur Abschaffung des Finanzplanungsrates und zur Übertragung der fortzuführenden Aufgaben auf den
Stabilitätsrat sowie zur Änderung weiterer Gesetze" (StabRuaÄndG) vom 27.05.2010 (BGBl. I, Nr. 26, Seite 671 ff.),
dessen Einführung mit Wirkung zum 03.06.2010 die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts aus seinem Urteil vom
09.02.2010 (Az. 1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09) umsetzt. Das Bundessozialgericht hat bisher (Urteil vom
28.10.2009, Az. B 14 AS 44/08 R) einen Anspruch auf Leistungen für die Anschaffung einer Schülermonatskarte nach
dem SGB II abgelehnt, da es "im System der Leistungen für den Lebensunterhalt nach dem SGB II an einer
Anspruchsgrundlage" fehle. Diese Lücke im System ist durch § 21 Abs. 6 SGB II nun geschlossen.
Nach § 21 Abs. 6 SGB II erhalten erwerbsfähige Hilfebedürftige einen Mehrbedarf, soweit im Einzelfall ein
unabweisbarer, laufender, nicht nur einmaliger besonderer Bedarf besteht. Das ist der Fall, wenn der Bedarf
insbesondere nicht durch die Zuwendungen Dritter sowie unter Berücksichtigung von Einsparmöglichkeiten der
Hilfebedürftigen gedeckt ist und seiner Höhe nach erheblich von einem durchschnittlichen Bedarf abweicht. Nach der
Gesetzesbegründung soll der Sonderbedarfsanspruch angesichts seiner engen und strikten
Tatbestandsvoraussetzungen auf wenige Fälle begrenzt sein (BR Drs. 17/1465, S. 8 f.).
Der Antragsteller hat einen solchen unabweisbaren, laufenden, nicht nur einmaligen, besonderen Bedarf glaubhaft
gemacht. Er muss beginnend im August 2010 bis April 2012 – und damit laufend und nicht nur einmalig - monatlich
62,40 EUR für sein RMV-Jahreskarten-Abonnement bezahlen.
Dieser Bedarf ist auch unabweisbar. Eine Definition des Begriffs der "Unabweisbarkeit" eines Bedarfs hat der
Gesetzgeber nicht vorgenommen. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil vom 9. Februar 2010 (Az. 1
BvL 1/09, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09) einen solchen Sonderbedarf auf die Deckung eines menschenwürdigen
Existenzminimums bezogen. Nach der Gesetzesbegründung (BR-Drs.17/1465 S. 8 f.) soll der Anspruch auf die
Deckung des besonderen Bedarfes unter den Aspekten des nicht erfassten atypischen Bedarfs sowie eines
ausnahmsweise höheren, überdurchschnittlichen Bedarfs angesichts seiner engen und strikten
Tatbestandsvoraussetzungen auf wenige Fälle begrenzt sein. Vorliegend entsteht der Bedarf des Antragstellers für
eine Jahreskarte für den RMV durch den Besuch der zweiten Klasse der Berufsfachschule. Grundsätzlich sind die
Kosten für Wochen-, Monats- und Jahreskarten für Schüler, Studenten und Auszubildende unter der Nummer 0732
013 in Abteilung 07 Verkehr in der Einkommens- und Verbraucherstichprobe (EVS) erfasst (vgl. Systematisches
Verzeichnis der Einnahmen und Ausgaben der privaten Haushalte, Ausgabe 1998 (SEA 98) des Statistischen
Bundesamtes). Damit sind diese Kosten grundsätzlich in der Regelleistung des Antragstellers nach § 20 SGB II
enthalten, da diese auf der Grundlage der EVS ermittelt wird. Dabei ist in der Regelleistung eines alleinstehenden
Erwachsenen ein Anteil von 4,5 % für Verkehr berücksichtigt (vgl. Eicher/Spellbrink, SGB II, 2.Aufl. 2008, §20 Rn24).
Übertragen auf den Antragsteller, dessen Regelleistung nach § 20 Abs.2 Satz 2 SGB II 80% davon (287 EUR)
beträgt, ergibt sich ein Betrag von 12,92 EUR monatlich, der ihm für seinen Bedarf an der Nutzung von
Verkehrsdienstleistungen zur Verfügung steht. Der Antragsteller hat mit 62,40 EUR einen höheren, weit
überdurchschnittlichen Bedarf. Die vollständige Deckung dieses Bedarfs ist zur Sicherstellung seines
menschenwürdigen Existenzminimums notwendig. Ohne die Jahreskarte könnte er nicht mehr am Unterricht der
Berufsfachschule teilnehmen. Die Teilhabe an Bildung, insbesondere die Sicherstellung der materiellen Grundlagen für
den Besuch von allgemein- und berufsbildenden Schulen gehört zum menschenwürdigen Existenzminimum (vgl. dazu
BVerfG, aaO, C. II. 4.a) cc) und § 24a SGB II). Der Antragsteller hat auch keine andere Möglichkeit, seinen Schulweg
zurückzulegen. Der Schulort ist 25 km entfernt und damit nicht zumutbar zu Fuß oder mit dem Fahrrad erreichbar.
Auch hat der Antragsteller glaubhaft gemacht, dass er keine andere Transportalternative, z.B. eine Mitfahrgelegenheit,
hat.
Den Bedarf für die Jahreskarte kann der Antragsteller auch nicht durch Zuwendungen Dritter decken. Insbesondere
sind seine Eltern ohne Einkommen und können ihn daher nicht unterstützen, ohne ihr eigenes menschenwürdiges
Existenzminimum zu unterschreiten. Es ist für die Kammer auch nicht ersichtlich, dass der Antragsteller den Bedarf
unter Berücksichtigung von Einsparmöglichkeiten decken könnte. Zwar handelt es sich bei der Regelleistung um eine
aufgrund des Statistikmodells ermittelte Pauschalleistung. Dem Statistikmodell liegt bei der Bildung des
regelleistungsrelevanten Verbrauchs die Überlegung zugrunde, dass der individuelle Bedarf eines Hilfebedürftigen in
einzelnen Ausgabepositionen vom durchschnittlichen Verbrauch abweichen kann, der Gesamtbetrag der Regelleistung
es aber ermöglicht, einen überdurchschnittlichen Bedarf in einer Position durch einen unterdurchschnittlichen Bedarf in
einer anderen auszugleichen. Wenn aber – wie im vorliegenden Fall – der monatliche überdurchschnittliche laufende
Bedarf 62,40 EUR ausmacht, für diese Position aber nur 12,92 EUR durchschnittlich berücksichtigt sind, so ist der
erhebliche Differenzbetrag von 49,48 EUR – das sind über 17% der dem Antragsteller insgesamt zur Verfügung
stehenden Regelleistung – offensichtlich nicht ausgleichbar, ohne das menschenwürdige Existenzminimum zu
unterschreiten. Auch das Einkommen von ca. 30 EUR monatlich, dass der Antragsteller durch seine Nebenjob als
Zeitungsausträger verdient, und welches nach § 11 Abs. 1 nicht auf seine Regelleistung angerechnet wird, kann
diesen überdurchschnittlichen Bedarf nicht decken.
Es handelt sich entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin auch um einen besonderen Bedarf. Anders als der
typische Schulbedarf, etwa für Schulbücher, Schulhefte etc. ist der notwendige Bedarf für die Kosten der Fahrkarte
zur Schule einzelfallabhängig. Wie oben dargestellt, hängt er insbesondere vom Wohnort des Schülers und von den
für den Schüler zur Verfügung stehenden Transportmitteln ab. Er ist damit nicht für alle Schüler ähnlich oder gleich.
Die Schülerbeförderungskosten werden dementsprechend auch nicht in der Begründung des Gesetzentwurfs der
Bundesregierung zu § 24a SGB II in der Fassung des Familienleistungsgesetzes (vgl. BT-Drucks 16/10809, S. 16 zu
Art. 3 Nr. 2) aufgezählt und stellen keine "zusätzliche Leistung für die Schule" im Sinne dieser Pauschalregelung dar.
Der Einwand der Antragsgegnerin, dass sich ein Anspruch nach dem SGB II deshalb nicht ergebe, da der
Landesgesetzgeber die Schülerbeförderungskosten eigenes in einem Gesetz geregelt habe, kann die Kammer nicht
überzeugen. Ein solcher Anspruch auf Übernahme der Schülerbeförderungskosten nach dem Hessischen Schulgesetz
(HSchulG) würde einen Anspruch nach dem SGB II ausschließen, § 5 Abs.1 SGB II. Doch der Antragsteller hat
gerade keinen Anspruch, da nach § 161 Abs.1 HSchulG ein solcher lediglich für das erste Jahr der Berufsfachschule
besteht. Für die Kammer sind keine nachvollziehbaren Gründe ersichtlich, warum der Anspruch auf das erste Jahr
beschränkt ist. Da die Länder im Schul- und Bildungswesen nicht nur die Gesetzgebungs-, sondern auch die
Verwaltungskompetenz haben, so dass sie nach Art. 104a Abs. 1 GG die Ausgaben dafür zu tragen haben, hielte es
die Kammer für sachgerecht, wenn auch der Antragsteller nach dem HSchulG einen entsprechenden Anspruch gegen
den Landkreis hätte. Allerdings regelt Art. 104a Abs. 1 GG nur eine Verteilung der Ausgabenlast zwischen den
Gebietskörperschaften des Bundesstaates und begründet keine fürsorgerechtliche Pflicht, hilfebedürftige Personen,
die Schulen besuchen und sonstige Bildungseinrichtungen benutzen, mit den dafür notwendigen finanziellen Mitteln
auszustatten. Und solange der Landesgesetzgeber für den Antragsteller einen solchen Anspruch nicht geschaffen hat,
trägt der Bund die Verantwortung für die Sicherstellung des gesamten menschenwürdigen Existenzminimums.
Dem weiteren Einwand der Antragsgegnerin, die Schülerbeförderungskosten stellten keinen Härtefall im Sinne des
Bundesverfassungsgerichtsurteils vom 09.02.2010 bzw. keinen Mehrbedarf im Sinne des § 21 Abs. 6 SGB II da, da
sie im "Negativ-Katalog" der Bundesagentur für Arbeit (BA) aufgelistet sind, kann die Kammer ebenfalls nicht folgen.
Zum einen handelt es sich bei dem "Negativ-Katalog" in den Fachlichen Hinweisen zu § 21 SGB II um eine
Geschäftsanweisung der BA. Eine solche Geschäftsanweisung stellt keine die Gerichte bindende Rechtsnorm da, sie
ist vielmehr ein Verwaltungsinternum und bindet nur die der BA untergeordneten Behörden. Zum anderen sprechen die
Fachlichen Hinweise selbst davon, dass Schülerbeförderungskosten "grundsätzlich" mit der Regelleistung abgedeckt
sind. Damit geht also auch die BA davon aus, dass im begründeten Einzelfall ein Mehrbedarf bestehen kann.
Der Antragsteller hat einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zur
Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig. Dem Antragsteller ist nicht zuzumuten, eine Entscheidung in der
Hauptsache abzuwarten. Er wäre ohne den Mehrbedarf nicht in der Lage, die Busfahrkarte zu bezahlen. Ohne die
Busfahrkarte kann er den regelmäßigen Schulbesuch nicht sicherstellen, es droht ihm damit der Abbruch seiner
Schulausbildung.
Der Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz ist insoweit unbegründet, als er über den Differenzbetrag von 49 EUR
hinausgeht. Der nach § 21 Abs.6 SGB II dem Antragsteller vorläufig zu gewährende Mehrbedarf ist auf den nach § 41
Abs.2 SGB II gerundeten Differenzbetrag von 49 EUR zu beschränken, da nur diesbezüglich ein "Mehr" an Bedarf
gegeben ist. Seinen übrigen notwendigen Bedarf an Verkehrsdienstleistungen kann er durch den Besitz der
Jahreskarte mit abgedeckten, da diese an allen Tagen zur Nutzung des öffentlichen Personennahverkehrs im RMV
berechtigt und der Antragsteller kein Fahrrad oder andere Verkehrsmittel, für die er Geld aufwenden müsste, besitzt.
Die Begrenzung der Regelungsdauer der einstweiligen Anordnung bis zum Dezember 2010 ist erforderlich, da die
einstweilige Anordnung nur zur Abwendung einer gegenwärtigen Notlage in Betracht kommt und eine endgültige
Entscheidung grundsätzlich nicht vorweggenommen werden darf. Zudem ist dem Gesetzgeber vom
Bundesverfassungsgericht aufgegeben, ab dem 01.01.2011 die Regelleistung neu zu bestimmen. Ein endgültiges
Ergebnis dazu liegt noch nicht vor.
Die Kostenentscheidung folgt aus der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG. Für die Ermessensentscheidung
der Kammer war ausschlaggebend, dass der Antragsteller mit seinem Antrag ganz überwiegend erfolgreich war.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar, § 172 Abs. 3 Nr. 1 SGG. In der Hauptsache wäre die Berufung nicht zulässig, da
der Wert des Beschwerdegegenstandes (8 x 62,40EUR =) 499,20 EUR beträgt und damit 750 EUR nicht übersteigt, §
144 Abs. 1 SGG.