Urteil des SozG Wiesbaden vom 19.01.2007

SozG Wiesbaden: fahrzeug, versicherungsschutz, arbeitsunfall, fortbewegung, verkehrsunfall, unterbrechung, wohnung, unfallversicherung, kollision, anhalten

Sozialgericht Wiesbaden
Urteil vom 19.01.2007 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Wiesbaden S 1 U 86/06
Hessisches Landessozialgericht L 3 U 25/07
Bundessozialgericht B 2 U 26/07 R
1. Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 12. Juni 2006 und des Widerspruchsbescheides vom 21.
Juli 2006 verurteilt, das Unfallereignis vom 13. Dezember 2005, bei dem der Kläger die in Rede stehenden
Verletzungen erlitten hat, als Arbeitsunfall anzuerkennen und dem Kläger wegen der Folgen dieses Unfalls Leistungen
aus der gesetzlichen Unfallversicherung zu gewähren.
2. Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten des Klägers zu tragen.
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist die Anerkennung eines Verkehrsunfalls als Arbeitsunfall streitig.
Am Unfalltag, dem 13. Dezember 2005 gegen 19:30 Uhr, befand sich der 1973 geborene, als Aushilfslagerarbeiter
tätige Kläger mit seinem Pkw auf dem Heimweg von seiner Arbeitsstätte. Der Kläger befuhr die Landesstraße L. aus
Richtung O. kommend in Fahrtrichtung S., als sich in Höhe Kilometer 0,8 im Begegnungsverkehr der Außenspiegel
seines Fahrzeugs mit dem Außenspiegel des vom Zeugen E. geführten Pkw berührte. Der Zeuge E. hielt mit seinem
Pkw in Höhe Kilometer 0,7 in Fahrtrichtung O. am rechten Fahrbahnrand an. Der Kläger fuhr zunächst einige Meter
weiter, wendete dann auf der Fahrbahn, fuhr zurück und hielt mit seinem Pkw hinter dem Pkw des Zeugen E. an. Der
Zeuge E. und dessen Beifahrerin, die Zeugin B. E. und der Kläger stiegen, nachdem die Warnblinkanlagen der
Fahrzeuge eingeschaltet worden waren, aus ihren Pkw aus und versammelten sich zwischen den beiden Pkw. In
diesem Moment fuhr das Fahrzeug des Zeugen W. in Fahrtrichtung O. auf die stehenden Pkw zu, konnte nicht
rechtzeitig bremsen und fuhr auf das Fahrzeug des Klägers auf, welches daraufhin auf das Fahrzeug der Zeugen E.
geschoben wurde. Während sich die Zeugen E. mit Sprüngen zur Seite retten konnten, wurde der Kläger zwischen
deren und seinem Pkw eingequetscht und erlitt eine distale Tibiafraktur rechts, eine HWS-Distorsion sowie eine
Beckenprellung. Die Zeugen E. haben angegeben, dass das Fahrzeug des Zeugen W. aufgefahren war, noch bevor
sie das Gespräch mit dem Kläger aufnehmen konnten.
Durch Bescheid vom 12. Juni 2006 lehnte die Beklagte die Anerkennung des Ereignisses vom 13. Dezember 2005 als
Arbeitsunfall ab. Zur Begründung führte sie aus, dass bestimmend für das Umkehren und das Abweichen vom
direkten Weg von der Arbeitsstätte zur Wohnung allein die Absicht des Klägers gewesen sei, Sachschäden an seinem
Pkw und damit zusammenhängende zivilrechtliche Schadensersatzansprüche zu regulieren. Der Kläger habe sich
daher im Unfallzeitpunkt auf einem unversicherten, in keinem inneren Zusammenhang mit seiner betrieblichen
Tätigkeit stehenden Abweg befunden. Zur weiteren Begründung verwies die Beklagte auf das Urteil des
Bundessozialgerichts (BSG) vom 27. März 1999, Aktenzeichen 2 RU 36/89.
Zur Begründung seines am 19. Juni 2006 gegen diesen Bescheid erhobenen Widerspruchs führte der Kläger aus,
dass durch das Wenden und Zurückfahren der Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit nicht unterbrochen
worden sei, da der Kläger auch im Hinblick auf seine Verpflichtung zur Bekanntgabe seiner persönlichen Daten und
zur Verhinderung eines Unfallfluchtverfahrens sich hätte zur Unfallstelle zurückbegeben müssen.
Durch Widerspruchsbescheid vom 21. Juli 2006 wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers als unbegründet
zurück. Zur Begründung führte sie aus, dass sich der Kläger zum Zeitpunkt der Kollision mit dem Pkw des Zeugen E.
auf dem – versicherten – unmittelbaren Weg von der Arbeitsstätte zur Wohnung befunden habe. Zum Zeitpunkt seiner
Verletzung sei dieser versicherte Weg jedoch bereits unterbrochen gewesen, da der Kläger zuvor sein Kfz
abgebremst, angehalten, gewendet und zum Anhaltepunkt des zweiten beteiligten Fahrzeugs zurückgefahren habe.
Ursache hierfür seien ausschließlich eigenwirtschaftliche Umstände gewesen. Dabei sei unerheblich, ob der Kläger
zurückgefahren sei, um den an seinem Fahrzeug entstandenen Schaden zu regulieren oder um seine Personalien zur
Vermeidung eines Unfallfluchtverfahrens anzugeben. Entscheidend sei, dass vom Zeitpunkt des Wendens des
Fahrzeugs an der erforderliche innere Zusammenhang unterbrochen gewesen sei. Nicht die betriebsbedingten
Umstände sondern die Abwicklung potentieller Ansprüche wegen eines zuvor eingetretenen Sachschadens seien
bestimmend für die Umkehr gewesen.
Am 21. August 2006 hat der Kläger Klage erhoben, zu dessen Begründung er die Auffassung vertritt, dass der innere
Zusammenhang durch das Wenden und Anhalten des Fahrzeugs in Gegenrichtung nicht unterbrochen worden sei.
Dieses Verhalten sei nicht als eigenwirtschaftlich zu qualifizieren, da der Kläger aufgrund gesetzlicher Verpflichtungen
hätte anhalten und damit den direkten Heimweg kurzzeitig unterbrechen müssen.
Der Kläger beantragt, die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 12. Juni 2006 und des
Widerspruchsbescheides vom 21. Juli 2006 zu verurteilen, das Unfallereignis vom 13. Dezember 2005, bei dem der
Kläger die in Rede stehenden Verletzungen erlitten hat, als Arbeitsunfall anzuerkennen und dem Kläger wegen der
Folgen dieses Unfalls Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung zu gewähren.
Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.
Zur Begründung bezieht sie sich auf ihr seitheriges Vorbringen und verweist ergänzend auf die Rechtsprechung des
Bundessozialgerichts in dem Urteil vom 9. Dezember 2003 (Aktenzeichen B 2 U 23/03 R).
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichts- und von der Beklagten
vorgelegten Verwaltungsakte (jeweils 1 Band) Bezug genommen, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung und
Entscheidungsfindung gewesen ist.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Klage ist begründet. Die Beklagte ist verpflichtet, den Verkehrsunfall vom 13. Dezember 2005, durch
den der Kläger die in Rede stehenden Verletzungen erlitten hat, als Arbeitsunfall anzuerkennen und dem Kläger wegen
der Folgen dieses Unfalls Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung zu gewähren.
Arbeitsunfälle sind Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3 oder 6 begründenden
Tätigkeit. Versicherte Tätigkeit ist auch das Zurücklegen des mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden
unmittelbaren Weges nach und von dem Ort der Tätigkeit (§ 8 Abs. 1, 2 Nr. 1 Sozialgesetzbuch Siebter Band SGB
VII ). Allerdings steht nicht schlechthin jeder Weg unter Versicherungsschutz, der zur Arbeitsstätte hinführt oder von
ihr aus begonnen wird. Vielmehr ist nur der unmittelbare Weg versichert, was besagt, dass ein innerer Zusammenhang
zwischen der versicherten Tätigkeit und der Zurücklegung des Weges bestehen muss. Dieser innere Zusammenhang
setzt voraus, dass die Zurücklegung des Weges wesentlich dazu zu dienen bestimmt ist, den Ort der Tätigkeit oder
nach Beendigung der Tätigkeit die eigene Wohnung oder einen anderen Endpunkt des Weges von dem Ort der
Tätigkeit zu erreichen. Maßgebend ist dabei die Handlungstendenz des Versicherten, so wie sie insbesondere durch
die objektiven Umstände des Einzelfalls bestätigt wird (BSG Soz R 3 – 2200 § 550 Nr. 4 und 16). Fehlt es an einem
solchen inneren Zusammenhang, scheidet ein Versicherungsschutz selbst dann aus, wenn sich der Unfall auf
derselben Strecke ereignet, die der Versicherte auf dem Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit gewöhnlich benutzt.
Ganz kurze oder geringfügige Unterbrechungen beseitigen den Zusammenhang des Weges mit der Betriebstätigkeit
allerdings selbst dann nicht, wenn sie eigenwirtschaftlicher Natur sind. Um solche rechtlich nicht ins Gewicht
fallenden Ereignisse handelt es sich, wenn der in Rede stehende Vorgang bei natürlicher Betrachtungsweise zeitlich
und räumlich noch als Teil des Weges nach oder von dem Ort der Tätigkeit in seiner Gesamtheit anzusehen ist oder,
wenn die Besorgung hinsichtlich ihrer zeitlichen Dauer und der Art ihrer Erledigung keine erhebliche Zäsur in der
Fortbewegung in Richtung auf die Arbeitsstätte darstellt, wobei als Beurteilungsmaßstab die allgemeine
Verkehrsauffassung zugrunde zulegen ist (BSG Soz R Nr. 5 und Nr. 28 zu § 543 RVO a. F.; BSG Urteil vom 31. Juli
1985 – 2 RU 63/84 – USK 85 252). Geringfügig ist eine Unterbrechung nach diesen Kriterien, wenn die private
Besorgung unmittelbar im Bereich der Straße und ohne nennenswerte zeitliche Verzögerung, also gleichsam "im
Vorbeigehen", erledigt werden kann (BSG, Urteil vom 9. Dezember 2003, B 2 U 23/03 R m. w. N.). Wird der Weg zu
oder von der Arbeitsstätte mehr als nur geringfügig unterbrochen, besteht während der Unterbrechung kein
Versicherungsschutz; dieser setzt erst wieder ein, wenn die eigenwirtschaftliche Tätigkeit beendet ist und der
ursprüngliche Weg wieder aufgenommen wird. Für die diesbezügliche Abgrenzung geht das BSG in seiner neueren
Rechtsprechung von folgenden Grundsätzen aus:
Es steht dem Versicherten frei, sich im öffentlichen Verkehrsraum beliebig zu bewegen, wenn die Fortbewegung nach
seiner Handlungstendenz der Zurücklegung des Weges von oder zum Ort der Tätigkeit zu dienen bestimmt ist. Sobald
der Versicherte allein eigenwirtschaftliche Zwecke verfolgt, die mit der versicherten Fortbewegung nicht
übereinstimmen, wird der Versicherungsschutz unterbrochen und zwar so lange, bis er die Fortbewegung auf sein
ursprüngliches Ziel hin wieder aufnimmt. Bei Benutzung eines Fahrzeugs wird die eigenwirtschaftliche
Handlungstendenz nicht erst mit dem Verlassen des öffentlichen Verkehrsraumes zu Fuß ersichtlich. Sie prägt das
Verhalten des Versicherten, sobald er zum Beispiel mit dem Ziel des Besuchs eines Geschäftes sein Fahrzeug
verlässt, also dokumentiert, dass er sich vorläufig auf dem versicherten Weg nicht weiter fortbewegen will. Dabei
spielt es keine Rolle, ob er das Fahrzeug in unmittelbarer Nähe des Geschäfts abstellt oder es in relativ größerer
Entfernung parken kann. Auch ist rechtlich nicht bedeutsam, ob die eigenwirtschaftliche Verrichtung im Straßenraum
selbst oder außerhalb desselben erledigt werden soll und in welcher Richtung sich der Fahrzeugnutzer bewegen muss
(BSG, Urteil vom 9. Dezember 2003, a. a. O.).
Unter Zugrundelegung dieser Grundsätze übte der Kläger im vorliegenden Fall im Zeitpunkt des seine Verletzungen
verursachenden Verkehrsunfalls eine versicherte Tätigkeit aus. Der Kläger befand sich als es zu dem ersten
Verkehrsunfall mit dem Fahrzeug des Zeugen E. gekommen war, auf einem versicherten Weg von dem Ort der
Tätigkeit im Sinne von § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII. Dieser versicherte Weg war im Zeitpunkt des zweiten, durch den
Zeugen W. verursachten Unfalls, nicht in einer dem Versicherungsschutz entgegenstehenden Weise unterbrochen.
Denn die vom Kläger im Zeitpunkt dieses zweiten Unfalls verrichtete Tätigkeit diente im Sinne o. g. Grundsätze nicht
allein eigenwirtschaftlichen Zwecken, die mit der versicherten Fortbewegung nicht übereingestimmt hätten. Nach den
Angaben des Klägers, die durch die aktenkundigen Aussagen der Zeugen E. gegenüber der Polizei und den
Polizeibericht bestätigt werden, hat der Kläger sein Fahrzeug wenige Meter nach der ersten Kollision (so der
Polizeibericht) bzw. etwa 150 Meter vom Auto der Zeugen E. entfernt (so die Aussagen der Zeugen E.) angehalten,
gewendet, zum Fahrzeug der Zeugen E. zurückgefahren und dort abgestellt. Ziel dieser Fahrtunterbrechung war die
Regulierung der Unfallfolgen, zu der die Bestätigung seiner Unfallbeteiligung und die Mitteilung seiner Personalien
zählten. Im Hinblick auf den Umstand, diese Maßnahmen zu den gesetzlichen Pflichten gemäß § 142
Strafgesetzbuch und § 34 der Straßenverkehrsordnung zählen und ihrerseits im unmittelbaren Zusammenhang mit
dem ersten – dem Versicherungsschutz unterliegenden – Verkehrsunfall standen, kann von einer allein
eigenwirtschaftlichen Tätigkeit im o. g. Sinne keine Rede sein. Die Beklagte beruft sich in diesem Zusammenhang zur
Begründung ihrer gegenteiligen Auffassung zu Unrecht auf die Entscheidung des Bundessozialgerichts in dem Urteil
vom 27. März 1990 (Aktenzeichen 2 RU 36/89, Soz R 3 – 2200 § 550). Der dort entschiedene Fall ist mit dem
vorliegenden nicht vergleichbar. Im dortigen Fall war der Revisionskläger einem vermeintlichen Unfallbeteiligten über
mehrere hundert Meter zurück- und nachgefahren und hatte dann körperlich versucht, das Fahrzeug des anderen am
Weiterfahren zu hindern, wobei es zu dem Unfallereignis gekommen war als er auf die Motorhaube des anderen Kfz
geriet. Auch war die vom dortigen Revisionskläger angenommene Beteiligung des anderen Kraftfahrers nicht
bewiesen. Dieser Hergang ist mit dem vorliegenden nicht vergleichbar. Im übrigen hatte es der Senat in der damaligen
Entscheidung ausdrücklich dahinstehen lassen, ob Ausnahmen von der Unterbrechung des Versicherungsschutzes in
den Fällen bestehen, in denen der Versicherte noch an der Unfallstelle bei Gesprächen über die Regulierung des
Schadens durch einen Unfall verletzt wird. Von eben einer solchen Ausnahme muss für Fallkonstellationen der
vorliegenden Art, in denen noch an der Unfallstelle während Gesprächen über die Schadensregulierung ein Beteiligter
verletzt wird, ausgegangen werden (in diesem Sinne auch Schwerdtfeger in Lauterbach SGB VII, § 8, Rdnr. 488;
Ricke in Kasseler Kommentar SGB VII, § 8 Rdnr. 217; Schmitt SGB VII, § 8, Rdnr. 158). Die im unmittelbaren
zeitlichen und örtlichen Zusammenhang erfolgende Regulierung der Folgen eines auf einem versicherten Weg
geschehenen Verkehrsunfalls stellt nach o. g. Grundsätzen keine den Versicherungsschutz aufhebende
Unterbrechung des Weges dar.
Nach alledem bestand der Versicherungsschutz im Zeitpunkt der durch den zweiten Verkehrsunfall bedingten
Verletzung des Klägers fort. Die Beklagte ist daher verpflichtet, diesen Unfall als Versicherungsfall im Sinne von § 8
SGB VII anzuerkennen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Sozialgerichtsgesetz.