Urteil des SozG Ulm vom 08.03.2010

SozG Ulm (kläger, berufliche tätigkeit, hörgerät, sgg, behörde, schwerhörigkeit, aug, höhe, versorgung, widerspruchsverfahren)

SG Ulm Beschluß vom 8.3.2010, S 13 R 386/09
Sozialgerichtliches Verfahren - Verschuldenskosten - Auferlegung von Verfahrenskosten auf die Behörde
wegen unterlassener Ermittlungen im Verwaltungsverfahren - Anwendbarkeit von § 192 Abs 4 S 1 SGG
in vor dem 1.4.2008 anhängig gewordenen Verfahren
Leitsätze
Zur Auferlegung von Kosten auf die Behörde wegen Nachholung erkennbarer und notwendiger Ermittlungen im
gerichtlichen Verfahren
Tenor
Die durch die Einholung des Gutachtens bei Dr. W. L. entstandenen Kosten in Höhe von 905,48 EUR werden der
Beklagten auferlegt.
Gründe
I.
1
Gegenstand des durch ein angenommenes Anerkenntnis in Hauptsache erledigten Rechtsstreits war die
Gewährung von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben durch Übernahme derjenigen Kosten für ein digitales
Hörgerät, die über die von der gesetzlichen Krankenversicherung geleisteten Festbeträge hinausgehen.
2
Der Kläger ist als Werkstattleiter am O.-Klinikum A. tätig und leidet unter einer Innenohrschwerhörigkeit
linksseits. Er erwarb auf die Verordnung von Dr. J. Z., HNO-Arzt in W., im Februar 2006 bei der H. & W.
Hörgeräte GmbH ein Hörgerät Marke Syncro V2 Compact Power nebst Zubehör zum Preis von insgesamt
2.638,50 EUR. Der Krankenkassenanteil in Höhe von insgesamt 456 EUR wurde vom Akustiker direkt mit der
Beigeladenen abgerechnet; der Kläger selbst wandte sich in dieser Angelegenheit nicht an die Beigeladene,
sondern beantragte bei der Beklagten die Übernahme des Eigenanteils von 2.182,50 EUR als Leistung zur
Teilhabe am Arbeitsleben. Er wies daraufhin hin, dass er für seine private Lebensführung das beantragte
Hörgerät nicht benötige und dieses allein durch seine berufliche Tätigkeit erforderlich würden. Die Beklagte
holte daraufhin eine betriebsmedizinische Beurteilung sowie eine arbeitgeberseitige Stellen- und
Arbeitsplatzbeschreibung ein. Weitergehende Ermittlungen erfolgten nicht.
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Mit Bescheid vom 17. Mai 2006 lehnte die Beklagte den Antrag ab, weil sie der Auffassung war, dass ein
Hilfsmittel nur dann Gegenstand der Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben darstelle, wenn dieses
ausschließlich zur Ausübung eines bestimmten Berufes benötigt werde. Der Kläger benötige dagegen das
Hörgerät sowohl im privaten als auch im beruflichen Bereich, sodass es sich bei der Versorgung des Klägers
um eine Form der Krankenbehandlung handele und damit die Zuständigkeit der gesetzlichen
Krankenversicherung gegeben sei. Der Kläger erhob hiergegen Widerspruch, der mit Widerspruchsbescheid
vom 22. August 2006 zurückgewiesen wurde. Den Eigenanteil von 2.182,50 EUR bezahlte der Kläger nach
Zugang des ablehnenden Bescheides zunächst selbst.
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Am 12. September 2006 hat der Kläger zum Sozialgericht Ulm Klage erhoben, mit der er sein Begehren
weiterverfolgte. Aufgrund zweier seinerzeit beim BSG anhängiger Revisionsverfahren zur Frage nach der
Zuständigkeit von Leistungsträgern bei der Hörgeräteversorgung wurde der Rechtsstreit mit Beschluss vom 26.
Juni 2007 zum Ruhen gebracht. Mit Schriftsatz vom 2. Februar 2009 rief die Beklagte den Rechtsstreit wieder
an.
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Mit Schreiben vom 15. Juni 2009 regte das Gericht eine Besichtigung des Arbeitsplatzes durch einen Reha-
Berater der Beklagten an. Mit Schriftsatz vom 1. Juli 2009 teilte die Beklagte mit, dass sie dies nicht für eine
geeignete halte, um den geltend gemachten Anspruch zu überprüfen. Mit Hinweisverfügung der Kammer vom
14. Juli 2009 wurde die Beklagte darauf hingewiesen, dass die im Verwaltungs- und Widerspruchsverfahren
durchgeführten Ermittlungen nicht hinreichend erschienen und weitere Maßnahmen zur Sachverhaltsaufklärung
wie eine Betriebsbesichtigung oder eine fachärztliche Begutachtung erforderlich seien. Weiterhin wurde auf die
Kostenfolge aus § 192 Abs. 4 SGG aufmerksam gemacht. Mit Schriftsatz vom 8. September 2008 teilte die
Beklagte mit, sie halte an ihrer Rechtsauffassung fest. Aus der Aufgabenbeschreibung durch den Arbeitgeber
ergäben sich keine erhöhten Anforderungen an das Hörvermögen, die deutlich über denen des Alltagsbereiches
und jeglicher Berufstätigkeit lägen. Zudem leide der Kläger beidseitigen mittel- und hochgradigen
Schwerhörigkeit, sodass er in allen Lebens- und Berufsbereichen höherwertige Hörhilfen benötige. Zuständiger
Leistungsträger sei die Krankenkasse im Rahmen der Krankenbehandlung.
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Das Gericht holte daraufhin ein Gutachten von Dr. W. L., Facharzt für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde in L., ein.
Dr. L. diagnostizierte bei einer ambulanten Untersuchung des Klägers am 9. Dezember 2009 eine noch
geringgradige Innenohrhochtonschwerhörigkeit rechts und eine mittel- bis hochgradige pantonale
Innenohrschwerhörigkeit über den gesamten Frequenzverlauf linksseitig. Der Hörverlust rechts betrage je nach
Messmethode zwischen 0 und 15 Prozent und links zwischen 65 und 80 Prozent. Dies belege die
Gehörprobleme des Klägers im Bereich des Sprachverständnisses. Im Privatbereich könnten konventionelle
Hörhilfen getragen werden, jedoch würden diese den akustischen Anforderungen am Arbeitsplatz des Klägers
nicht gerecht, da sowohl beim Richtungshören als auch bei Störgeräuschen erhebliche Problem bestünden.
Insoweit sei von einer erheblichen Gefährdung der Erwerbsfähigkeit auszugehen. Diese Probleme würden
gerade durch das digitale Hörgerät kompensiert.
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Zu näheren Darstellung des Tatbestandes wird auf den Inhalt der Gerichts- und Verwaltungsakten verwiesen.
II.
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Die Beklagte hat die durch die Einholung des Gutachtens von Dr. L. entstandenen Kosten zu tragen. Diese
Entscheidung beruht auf § 192 Abs. 4 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Danach kann das Gericht der
Behörde ganz oder teilweise die Kosten auferlegen, die dadurch verursacht werden, dass die Behörde
erkennbar notwendige Ermittlungen im Verwaltungsverfahren unterlassen hat, die im gerichtlichen Verfahren
nachgeholt werden.
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1.) Dieser Entscheidung steht nicht entgegen, dass das Widerspruchsverfahren bereits im August 2006
abgeschlossen war und die Klage schon im September 2006 erhoben wurde, während § 192 Abs. 4 SGG erst
am 1. April 2008 in Kraft getreten ist. Prozessuale Vorschriften gelten ab dem Zeitpunkt ihres Inkrafttretens,
wenn nicht im Gesetz etwas anderes geregelt ist. Daher ist diese Norm auch vorliegend anwendbar (so auch
LSG Niedersachsen-Bremen, Beschl. v. 11. August 2009 - L 4 KR 108/09 B - juris Rn. 6). Eine andere
Regelungsabsicht des Gesetzgebers ergibt sich insbesondere nicht aus der Gesetzesbegründung (BT-DS
16/7716, S. 23).
10 2.) Die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 192 Abs. 4 Satz 1 SGG liegen vor, weil die Einholung eines
medizinischen Sachverständigengutachtens auf dem Gebiet der Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde erkennbar
erforderlich war.
11 a.) Ausgangspunkt für diese Beurteilung ist die Verpflichtung der Beklagten nach § 20 Sozialgesetzbuch -
Zehntes Buch (SGB X), den Sachverhalt von Amts wegen aufzuklären und alle für den Einzelfall bedeutsamen,
auch für die Beteiligten günstigen Umstände zu erörtern. Für den Bereich der Leistungen zur Teilhabe am
Arbeitsleben bedeutet dies nach § 33 Sozialgesetzbuch - Neuntes Buch (SGB IX), dass zu ermitteln ist, ob
eine Behinderung vorliegt und welcher Art und Schwere sie ist. Der Kläger hatte eine Arbeitsstelle inne, sodass
die Frage zu klären war, ob die konkret ausgeübte Tätigkeit behinderungsbedingt eingeschränkt wird (vgl. dazu
Luik in: juris-PK-SGB IX, Stand 1. Februar 2010, § 33 Rn. 47 f.).
12 b.) Der Kläger hat sich im Verwaltungs- und Widerspruchsverfahren ausdrücklich darauf berufen, durch seine
Schwerhörigkeit gerade im beruflichen Bereich Probleme zu haben und gerade deshalb auf die Versorgung mit
einem digitalen Hörgerät angewiesen zu sein. Weiterhin ergibt sich bereits aus dem Audiogramm, das der
Verordnung der Hörhilfe durch Dr. Z. vom 27. Oktober 2005 beigefügt ist sowie aus dem Anpassungsbericht
des Hörgeräteakustikers aufgrund der Messung vom 15. November 2005, dass beim Kläger eine ausgeprägte
linksseitige Schwerhörigkeit vorliegt. Die Beklagte hat daraufhin zwar Informationen über den Arbeitsplatz des
Klägers eingeholt, dies jedoch nicht zum Anlass genommen, weitere medizinische Ermittlungen anzustellen
oder zumindest den Arbeitsplatz des Klägers vor Ort zu besichtigen. Vielmehr wurde die Leistungsberechtigung
zunächst mit dem Hinweis darauf verneint, dass der Kläger an einer beidseitigen Schwerhörigkeit leide und er
deshalb auch im privaten Bereich von der Versorgung mit dem digitalen Hörgerät profitiere und auch keine
speziellen beruflichen Anforderungen erkennbar seien, denen der Kläger nur mit der begehrten Hörhilfe gerecht
werden könne. Diese Begründung der Beklagten im angefochtenen Bescheid war schon durch die vorliegenden
Unterlagen im Verwaltungsverfahren nicht gedeckt. Vielmehr war daraus erkennbar, dass zunächst eine weitere
medizinische und ggf. auch berufskundliche Sachverhaltsaufklärung notwendig war.
13 3.) Bei der gesetzlich vorgeschriebenen Ermessensausübung hat die Kammer berücksichtigt, dass die
Beklagte trotz ausdrücklicher Hinweise auf die Rechtsauffassung der Kammer vor der Aufnahme der
gerichtlichen Ermittlungen verschiedene Anregungen zur weiteren Sachverhaltsaufklärung nicht weiterverfolgt
hat. Weiterhin ist zu berücksichtigen, dass es die Beklagte entgegen § 14 Abs. 2 Satz 1 SGB IX unterlassen
hat, den Antrag des Klägers unter dem Gesichtspunkt der Leistungen zur medizinischen Rehabilitation zu
prüfen, was ebenfalls weitere Ermittlungen hätte auslösen müssen. Da die Verwaltungsakten der Beklagten
dem Gericht bereits - mit Unterbrechungen - seit dem Jahr 2006 vorlagen, war auch für eine Entscheidung nach
§ 131 Abs. 5 SGG kein Raum. Aus diesen Gründen musste eine nur teilweise Kostenauferlegung oder ein
Absehen hiervon als milderes Mittel ausscheiden.
14 4.) Die Beklagte hat deshalb die Kosten des von Dr. L. erstellten Gutachtens in Höhe von 854,23 EUR sowie
die Fahrtkosten des Klägers zur ambulanten Untersuchung durch den Sachverständigen in Höhe von 51,25
EUR zu tragen.