Urteil des SozG Stuttgart vom 09.10.2014

befristete rente, widerspruchsverfahren, verwaltungsakt, befristung

SG Stuttgart Urteil vom 9.10.2014, S 4 R 2046/12
Kostenerstattung im Widerspruchsverfahren - vollständige Ablehnung einer
Rente wegen Erwerbsminderung im Rentenantragsverfahren - Gewährung einer
befristeten Rente wegen Erwerbsminderung im Vorverfahren
Leitsätze
Beantragt ein Versicherter nach vollständig abgelehntem Rentenantrag im
Widerspruchsverfahren eine "Rente wegen Erwerbsminderung nach den gesetzlichen
Vorschriften" und gewährt der Versicherungsträger daraufhin eine befristete Rente, hat
der Widerspruchsführer regelmäßig Anspruch auf volle Kostenerstattung.
Tenor
I. Der Bescheid der Beklagten vom 15.8.2011 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheids vom 19.3.2012 wird abgeändert.
II. Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger die Kosten für das Widerspruchsverfahrens
bezüglich des Bescheides vom 17.3.2011 in vollem Umfang zu erstatten.
III. Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.
Tatbestand
1 Der Kläger begehrt die Erstattung der vollen Kosten des Widerspruchsverfahrens
nach Gewährung einer befristeten Rente wegen Erwerbsminderung im Wege der
Abhilfe.
2 Der am … 1963 geborene Kläger beantragte am 7.9.2010 mit Formblattantrag eine
Rente wegen Erwerbsminderung bei der Beklagten. Diese lehnte den Antrag mit
Bescheid vom 17.3.2011 vollumfänglich ab. Eine Differenzierung im
Ablehnungsschreiben zwischen Rente wegen teilweiser und voller
Erwerbsminderung und zwischen Zeit- und Dauerrente fand nicht statt.
3 Mit Schreiben vom 5.4.2011 erhob der Klägerbevollmächtigte Widerspruch,
zunächst ohne Antrag und Begründung. Diese wurden mit Schreiben vom
19.4.2011 nachgereicht. Der Klägerbevollmächtigte beantragte „den Bescheid vom
17.3.2011 aufzuheben und dem Widerspruchsführer auf seinen Antrag vom
7.9.2010 eine Rente wegen Erwerbsminderung nach den gesetzlichen
Bestimmungen zu gewähren“.
4 Mit Rentenbescheid vom 15.8.2011 gewährte die Beklagte im Abhilfeverfahren
Rente wegen voller Erwerbsminderung ab 1.10.2011 befristet bis 31.5.2013.
Gleichzeitig enthielt der Bescheid eine Kostengrundentscheidung gem. § 63 SGB
X, nach der die durch Zahlung eines Unkostenbeitrages bzw. Kostenvorschusses
entstandenen Aufwendungen in Höhe der Hälfte des Pauschalbetrages erstattet
werden. Zur Begründung verwies die Beklagte auf den Teilerfolg des
Widerspruchs durch die Teilabhilfeentscheidung.
5 Mit Begleitschreiben vom 15.8.2011 übersandte die Beklagte dem Kläger eine
vorbereitete Erklärung, die folgende Auswahlmöglichkeiten enthielt:
6
() Ich nehme Ihr Anerkenntnis vom 5.8.2011 an und meinen Widerspruch zurück.
() Ich nehme meinen Widerspruch zurück.
7 Der Klägerbevollmächtigte wendete sich mit Schreiben vom 22.8.2011 gegen die
Kostenquotelung und beantragte die Erstattung der vollen Kosten. Mit
Widerspruchsbescheid vom 19.3.2012 wies die Beklagte den Widerspruch
hinsichtlich der Kostengrundentscheidung zurück.
8 Hiergegen hat der Kläger am 11.4.2012 Klage zum Sozialgericht Stuttgart erhoben.
9 Er ist der Auffassung, dass die Beklagte mit Bescheid vom 15.8.2011 dem
Widerspruch in vollem Umfang abgeholfen hat.
10 Der Kläger beantragt,
11 den Bescheid vom 15.8.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom
19.3.2012 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, Kosten für das
Widerspruchsverfahren bezüglich des Bescheides vom 17.3.2011 in vollem
Umfang zu erstatten.
12 Die Beklagte beantragt,
13 die Klage abzuweisen.
14 Sie meint, dass bei unspezifischer Antragstellung im Widerspruchsverfahren
aufgrund des Meistbegünstigungsgrundsatzes von einem Antrag auf Gewährung
einer Rente auf Dauer auszugehen sei. Die Gewährung einer Zeitrente führe dann
nur zu einem Teilerfolg des Widerspruchs.
15 Wegen der weiteren Einzelheiten des Rechtsstreits wird auf den Inhalt der
Gerichtsakte sowie der beigezogenen Akte der Beklagen verwiesen.
Entscheidungsgründe
16 Gegenstand der Klage ist die Kostengrundentscheidung im Bescheid vom
15.8.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.3.2012, soweit die
Erstattung von Kosten des Widerspruchsverfahrens über die Hälfte der
entstandenen Kosten hinaus abgelehnt worden ist.
17 Der Bescheid ist insoweit rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten.
Der Kläger hat einen Anspruch auf Erstattung der notwendigen Kosten in vollem
Umfang. Dieser Anspruch ergibt sich aus § 63 SGB X.
18 § 63 SGB X lautet wie folgt:
19 (1) Soweit der Widerspruch erfolgreich ist, hat der Rechtsträger, dessen Behörde
den angefochtenen Verwaltungsakt erlassen hat, demjenigen, der Widerspruch
erhoben hat, die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder
Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen zu erstatten. Dies gilt auch, wenn
der Widerspruch nur deshalb keinen Erfolg hat, weil die Verletzung einer
Verfahrens- oder Formvorschrift nach § 41 unbeachtlich ist. Aufwendungen, die
durch das Verschulden eines Erstattungsberechtigten entstanden sind, hat dieser
selbst zu tragen; das Verschulden eines Vertreters ist dem Vertretenen
zuzurechnen.
20 (2) Die Gebühren und Auslagen eines Rechtsanwalts oder eines sonstigen
Bevollmächtigten im Vorverfahren sind erstattungsfähig, wenn die Zuziehung
eines Bevollmächtigten notwendig war.
21 (3) Die Behörde, die die Kostenentscheidung getroffen hat, setzt auf Antrag den
Betrag der zu erstattenden Aufwendungen fest; hat ein Ausschuss oder Beirat die
Kostenentscheidung getroffen, obliegt die Kostenfestsetzung der Behörde, bei der
der Ausschuss oder Beirat gebildet ist. Die Kostenentscheidung bestimmt auch,
ob die Zuziehung eines Rechtsanwalts oder eines sonstigen Bevollmächtigten
notwendig war.
22 In verfahrensrechtlicher Hinsicht verpflichtet § 63 Abs. 1 SGB X die Behörde, zu
einem ganz oder teilweise erfolgreichen Widerspruch eine
Kostengrundentscheidung zu treffen. Dies hat die Beklagte getan.
23 Anspruch auf Kostenerstattung besteht nur, soweit der Widerspruch erfolgreich ist.
Der Anspruch ist nicht auf die Fälle beschränkt, in denen der angefochtene
Verwaltungsakt im vollen Umfange aufgehoben wird, sondern besteht auch dann,
wenn der Widerspruch teilweise Erfolg hat. Ein teilweiser Erfolg des Widerspruchs
führt hinsichtlich der Kostenerstattung zu einer Kostenquote.
24 Hat der Betroffene den Widerspruch beschränkt, indem er den Verwaltungsakt nur
hinsichtlich eines Teils der getroffenen Regelung angegriffen hat, so ist der
Widerspruch in vollem Umfang erfolgreich, wenn dem begrenzten Begehren
stattgegeben wird.
25 Die Kostenquote richtet sich nach dem Verhältnis des erreichten Erfolgs in der
Sache zum gesamten Verfahrensgegenstand. Entscheidend für den Umfang des
Erfolgs ist deshalb der Verfahrensgegenstand. Dieser ergibt sich aus dem konkret
gestellten Antrag des Widerspruchsführers im Widerspruchsverfahren zusammen
mit dem zu Grunde liegenden Sachverhalt.
26 Das Ziel des Widerspruchs ist also möglichst genau zu bezeichnen, es kann von
der Behörde auch erfragt werden. Ein Widerspruch ohne einen bestimmten Antrag
oder eine Bestimmung des Widerspruchsbegehrens greift den Verwaltungsakt
vollumfänglich an und führt bei einem Teilerfolg nicht zur vollen Kostenerstattung
(siehe dazu m.w.N. u.a. Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht, § 63
SGB X, Rn 21).
27 Unter Beachtung dieser Grundsätze hat der Kläger im Widerspruchsverfahren
gegen den ablehnenden Rentenbescheid vom 17.3.2011 voll obsiegt.
28 Dies gilt unabhängig davon, wie der Antrag im Widerspruch vom 22.8.2011
auszulegen ist. Legt man den Antrag unter Berücksichtigung der
Widerspruchsbegründung schon als Antrag auf Gewährung einer Rente wegen
Erwerbsminderung explizit als befristete Rente aus, so hat der Kläger mit dem
Abhilfebescheid vom 15.8.2011 vollumfänglich das bekommen, was er beantragt
hat. Eine solche Auslegung wäre denkbar, da in der Widerspruchsbegründung
ärztliche Atteste zitiert worden sind, die auf einen zunächst vorübergehenden
Zustand abgestellt haben.
29 Der Kläger hat aber nach Ansicht des Gerichts auch dann voll obsiegt, wenn der
Antrag nicht so ausgelegt wird, sondern entsprechend dem tatsächlichen Wortlaut
eine „Rente wegen Erwerbsminderung nach den gesetzlichen Vorschriften“
begehrt worden ist. Denn auch dann hat er alles bekommen, was er beantragt hat.
30 Mit Formblattantrag vom 7.9.2010 hat er eine „Rente wegen Erwerbsminderung“
beantragt. Eine Wahlmöglichkeit bei Antragstellung zwischen
Erwerbsminderungsrente auf Zeit oder auf Dauer (bis zum Erreichen der
Regelaltersrente) sieht das Standardformular der Beklagten nicht vor. § 102 Abs. 2
SGB VI schreibt als Regelfall für die Gewährung einer Erwerbsminderungsrente
eine Befristung vor. Nach Auffassung der Kammer handelt es sich bei einer Rente
auf Zeit im Vergleich zu einer Rente auf Dauer nicht um zwei eigenständige
Ansprüche. Vielmehr ist die Befristung bzw. Nichtbefristung eine Rechtsfolge, die
an besondere inhaltliche Voraussetzungen geknüpft ist. Folglich begehrt ein
Versicherter mit Rentenantragstellung eine Rente wegen Erwerbsminderung nach
den gesetzlichen Vorschriften.
31 Wenn nun ein Widerspruchsführer bei einer ablehnenden Entscheidung, die keine
Regelung zu einer Befristung der Rente trifft, sondern den Anspruch von
vornherein ablehnt, wörtlich dasselbe begehrt, wie im ursprünglichen
Rentenantrag, und dann das bekommt, was er schon im Verwaltungsverfahren
hätte bekommen müssen, dann hat er alles bekommen, was er begehrt hat.
32 Diese Auffassung steht auch der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts und
des Landessozialgerichts Baden-Württemberg bezüglich des Inhalts eines
befristeten Rentenbewilligungsbescheides nicht entgegen (siehe m.w.N. LSG
Baden-Württemberg, Beschluss vom 17.7.2014, L 10 R 2929/13). Danach enthält
der Bescheid über eine befristete Rentenbewilligung zwei Verfügungssätze: 1. wird
die Rente für eine begrenzte Dauer bewilligt, 2. wird der weitergehende Anspruch
auf die zeitlich nicht beschränkte Rentengewährung abgelehnt.
33 Die zutreffende Trennung in zwei Verfügungssätze ist jedoch nur relevant, wenn
eine Rente bewilligt wird. Bei einer vollständigen Ablehnung des Antrags existiert
nur ein Verfügungssatz, nämlich die Ablehnung. Ein ablehnender Bescheid trifft
bzgl. einer Befristung gar keine Regelung. Damit greift ein Widerspruchsführer die
Ablehnung als solches an und obsiegt ganz, wenn ihm aufgrund seines
Widerspruchs eine Rente bewilligt wird.
34 Im Übrigen sind auch die Schreiben der Beklagten widersprüchlich. Denn sie hat
die Abhilfe im Widerspruchsverfahren gegenüber dem Kläger als Anerkenntnis und
nicht etwa als Teilanerkenntnis bezeichnet und bei ihm angefragt, ob er den
Widerspruch damit für erledigt erklärt.
35 Soweit die Beklagte zur Untermauerung ihrer Auffassung auf verschiedene
entsprechende Beschlüsse des Sozialgerichts Stuttgart im Hinblick auf die
Tragung von außergerichtlichen Kosten im Klageverfahren verweist, sind die dort
zu Grunde gelegten Sachverhalte mit dem vorliegenden Sachverhalt nicht
vergleichbar. Bei den Kostenbeschlüssen im Klageverfahren gemäß § 193 SGG
sind die Streitgegenstände und hier insbesondere die Anträge im Klageverfahren
maßgeblich. Zwar hält es die hier zur Entscheidung berufene Kammer bei einem
Klageantrag auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung ohne
Spezifizierung auf Zeit oder Dauerrente und tatsächlicher Gewährung einer
solchen befristeten Rente im Klageverfahren (durch Urteil, Anerkenntnis oder
Vergleich) auch in diesen Fällen im Regelfall für angemessen, dass die Beklagte
volle Kosten zu tragen hat, soweit nicht in anderen Teilen des Streitgegenstands
(z.B. Beginn der Rente oder nur teilweise Erwerbsminderungsrente statt voller
Erwerbsminderungsrente) nur teilweises Obsiegen vorliegt.
36 Dies kann jedoch letztlich dahinstehen. Denn das Widerspruchsverfahren ist kein
Klageverfahren, sondern ein besonderes Verwaltungsverfahren. Die beiden
Sachverhalte sind nicht vergleichbar. Anders als im Klageverfahren gilt etwa im
Widerspruchsverfahren nicht der Grundsatz, dass nicht mehr gewährt werden
kann, als beantragt ist. Die Beklagte gewährt nämlich zurecht in gängiger Praxis
auch dann eine Rente auf Dauer, wenn ein Widerspruchsführer im Widerspruch
nur eine Rente auf Zeit beantragt. Das hat der Beklagtenvertreter in der
mündlichen Verhandlung am 9.10.2014 zu Protokoll erklärt.
37 Dieses Vorgehen ist zudem zwingend, da das Widerspruchsverfahren eben
gerade ein besonderes Verwaltungsverfahren ist. Die Beklagte hat im
Verwaltungsverfahren und damit auch im Widerspruchsverfahren den Anspruch
eines Versicherten vollumfänglich zu prüfen und muss alles gewähren, was ihm
zusteht (so auch Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, § 85 SGG Rn 4a).
38 Die Auffassung der Beklagten, dass bei einem Antrag auf Rente wegen
Erwerbsminderung im Widerspruchsverfahren und einer anschließenden
Rentenbewilligung auf Zeit nur die Hälfte der Kosten zu erstatten sind, ist aus
diesem Grund auch nicht praxistauglich. Denn würde das zutreffen, würde ein
Widerspruchsführer immer nur Rente auf Zeit beantragen. Ein Kostenrisiko des
Versicherten für den Fall der Rentenbewilligung besteht dann nicht mehr. Kommt
die Abhilfeprüfung oder der Widerspruchsausschuss zu dem Ergebnis, dass eine
Zeitrente zu gewähren ist, hätte der Widerspruchsführer auch nach seinem
expliziten Antrag vollumfänglich obsiegt. Ergibt sich im Widerspruchsverfahren trotz
des beschränkten Antrags aus medizinischen Gründen eine Dauerrente, gewährt
die Beklagte über den Antrag hinaus Dauerrente. Auch in diesem Fall hat der
Widerspruchsführer vollumfänglich obsiegt, denn er hat sogar mehr bekommen,
als er beantragt hat. Und selbst wenn die Beklagte in einem solchen Fall im
Rahmen des Widerspruchsverfahrens nur eine befristete Rente gewähren würde
(mit vollem Kostenersatz), könnte der Widerspruchsführer in einem
anschließenden Verfahren gemäß § 44 SGB X die Dauerrente durchsetzen.
39 Das Gericht weist abschließend außerhalb der tragenden Gründe darauf hin, dass
die vorliegende Klage und eventuell weitere solcher Verfahren aus wirtschaftlicher
Sicht insbesondere für die Beklagte wenig sinnvoll erscheinen. Denn die von der
Beklagten unabhängig vom Erfolg der Klage zu tragenden Gerichtskosten sind
höher als der Gegenstandswert (hier: 115 EUR).