Urteil des SozG Stuttgart vom 06.11.2008

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SG Stuttgart Urteil vom 6.11.2008, S 6 SB 4146/07
Schwerbehindertenrecht - Entziehung der Schwerbehinderteneigenschaft - Beweislast
Tenor
1.) Der Bescheid der Beklagten vom 29. August 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27. April
2007 wird aufgehoben.
2.) Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten und Auslagen des Klägers.
Tatbestand
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Die Beteiligten streiten im Rahmen der Durchführung des Behindertenrechts nach dem Neunten Buch
Sozialgesetzbuch (SGB IX) darüber, ob die Beklagte befugtermaßen dem Kläger die bisherige Anerkennung
der Schwerbehinderteneigenschaft entziehen konnte.
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Der am … Mai 1950 geborene Kläger war zuletzt mit Abhilfebescheid des vormaligen Versorgungsamts
Stuttgart vom 9. August 2004 für die Zeit ab 22. August 2003 entsprechend eines Gesamt-Grads der
Behinderung (GdB) in Höhe von 50 als Schwerbehinderter anerkannt worden. Die insoweit maßgeblich letzte
versorgungsärztlich-gutachterliche Stellungnahme nach Aktenlage von Frau Dr. M. vom 30. Juni 2004
bewertete unter gesondertem Hinweis auf eine chronisch, schwer im persönlichen-familien-beruflichen Bereich
beeinträchtigenden Depression mit latenter Suizidalität zusammen mit einem stark ausgeprägten, andauernden
Schulterleiden die einzelnen Behinderungen als: „Depression/Fibromyalgiesyndrom (Teil-GdB 40),
Bluthochdruck (Teil-GdB 10) und Gebrauchseinschränkung des rechten Armes/Funktionsbehinderung des
rechten Schultergelenkes (Teil-GdB 20)“ bei der integrierten Betrachtungsweise zuletzt den Gesamt-GdB mit
50, was in der Folge dann von der Beklagten auch bescheidmäßig übernommen worden war.
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Im Rahmen einer amtsintern vorgemerkten Nachprüfung befasste sich die Beklagte im Sommer 2006 erneut
mit der Angelegenheit und zog hierbei den Abschlussbericht eines im Vorjahr durchgeführten Heilverfahrens in
der Gesundheitsklinik „H.“ bei. Für die Beklagte wertete Internist Dr. L. als Beratungsarzt am 13. August 2006
diese Unterlagen aus, schätzte insbesondere unter neurologisch/psychiatrischen wie auch orthopädischen
Gesichtspunkten den jeweiligen Teil-GdB als um 10 Punkte verbessert und schlug eine Neufeststellung auf der
Grundlage eines Gesamt-GdB in Höhe von 30 vor. Nach entsprechender Anhörung des Klägers erließ die
Beklagte am 29. August 2006 unter sinngemäßer Übernahme des ärztlichen Vorschlags den angefochtenen
Ausgangsbescheid, der zugleich mit der Aberkennung der Schwerbehinderteneigenschaft für die Zeit ab 1.
September 2006 verbunden war.
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Hiergegen erhob der Kläger Widerspruch und legte zu dessen Begründung ein ärztliches Attest der Fachärztin
für Allgemeinmedizin K. vom 11. Oktober 2006 als Praxisnachfolgerin der in vormals langjährig behandelnden
Internistin Frau Dr. C. vom 11. Oktober 2006 vor, wonach bereits wenige Wochen v.a. nach Abschluss des
erwähnten Heilverfahrens sich der Gesundheitszustand des Klägers wieder so verschlimmert habe, sodass
keine Änderung des Ausgangszustands eingetreten sei und die Prognose auf Dauer keine Besserung erwarten
lasse. Eine neuerliche gutachterliche Stellungnahme nach Aktenlage durch Frau Dr. M. vom 31. Oktober 2006
änderte an der von der Beklagten beabsichtigten Neufeststellung nichts. Nach nochmaliger Anhörung des
Klägers legte dieser zwei neuere Arztatteste seiner Hausärztin bzw. des Orthopäden Dr. K. vor, woraufhin sich
Frau Dr. M. nochmals mit der Angelegenheit befasste und nunmehr unter Neubewertung der
fachorthopädischen Beschwerden und des Hinzutretens eines Bluthochdrucks einen Gesamt-GdB in Höhe von
40 als gegeben bezeichnete. Mit dem gleichfalls angefochtenen Widerspruchsbescheid vom 27. April 2004
setzte die Beklagte insoweit den GdB in der vorgeschlagenen Höhe neu fest und wies im Übrigen den
Widerspruch als nicht begründet ab.
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Hiergegen wendet sich der Kläger mit der am 24. Mai 2007 bei dem Sozialgericht Stuttgart eingegangenen
Klage. Klagbegründend trägt der Kläger vor, in sachlich fehlerhafter Weise sei die Beklagte von einer
objektiven Besserung seines Gesundheitszustands ausgegangen und führt das weiter aus.
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Das Gericht hat Beweis erhoben durch Einholung einer sachverständigen ärztlichen Zeugenauskunft bei der
genannten Hausärztin des Klägers. Unter dem 10. August 2007 und in Würdigung der ihr zur Kenntnis
gebrachten verschiedenen ärztlichen Bewertungen des vorangegangenen Verwaltungsverfahrens der Klägerin
äußert diese dezidiert die Feststellung, aus ihrer Sicht sei vor dem Hintergrund der nur als sehr vorübergehend
zu bezeichnenden Besserung des Gesundheitszustands des Klägers zumindest von einem solchen Niveau
auszugehen, wie es vormals bereits mit einem Gesamt-GdB in Höhe von 50 bewertet worden war; eher sei
sogar an eine Heraufsetzung zu denken.
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Die Beklagte tritt dem unter Vorlage einer versorgungsärztlichen Stellungnahme von RMD Dr. K. vom 26.
November 2007 entgegen, worin in erster Linie ein Fehlen objektiver Befunde bemängelt wurde. Im weiteren
Verfahren machte mit Attest vom 10. Januar 2008 die Hausärztin noch ergänzend darauf aufmerksam,
aufgrund des Wesens der Erkrankung des Klägers ließen sich die geforderten objektiven Befunde aus Gründen
der Sachnotwendigkeit nicht beibringen. In der weiteren versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 3. Juni 2008
(diesmal ausgearbeitet von Dr. B.) hin bekräftigt die Beklagte nochmals den von ihr eingenommenen
Standpunkt und übernimmt sinngemäß die Behauptung, die von der Hausärztin vorgenommenen Bewertungen
der Behinderungen seien letztlich subjektiver Natur und könnten nicht als Grundlage der Beurteilung dienen.
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Der Kläger stellt den Antrag,
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den Bescheid der Beklagten vom 29. August 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27.
April 2007 aufzuheben.
10 Die Beklagte beantragt
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Klagabweisung.
12 Sie bezeichnet die Klage als sachlich-rechtlich nicht begründet und verweist insbesondere auf die angeführten
versorgungsärztlichen Feststellungen und Bewertungen.
13 Zur weiteren Darstellung des Sachverhalts und des Vortrags der Beteiligten wird verwiesen auf den Inhalt der
vorgelegten Verwaltungsakte der Beklagten (Az.: 6/34/785 534) und denjenigen der gerichtlichen Streitakte.
Diese waren auch Gegenstand der mündlichen Verhandlung mit dem dortigen persönlichen Erscheinen des
Klägers sowie der Urteilsberatung.
Entscheidungsgründe
14 Die frist- und formgerecht zu dem zuständigen Sozialgericht Stuttgart erhobene Klage ist zulässig und
begründet.
15 Streitgegenstand der vorliegenden Anfechtungsklage ist im Kern die Beantwortung der Frage, ob die Beklagte
in der erforderlichen Übereinstimmung zu der maßgeblichen Sach- und Rechtslage dem Kläger die
Anerkennung der Schwerbehinderteneigenschaft mit Wirkung für die Zukunft und der Begründung entziehen
konnte, sein Gesundheitszustand habe sich zwischenzeitlich seit der letzten maßgeblichen Bescheiderteilung
soweit gebessert, dass die bei ihm vorliegenden rechtlichen Funktionsbeeinträchtigungen jedenfalls mit keinem
Gesamt-GdB in Höhe von 50 mehr zu bewerten wären. Das ist vorliegend indessen zur Überzeugung des
Gerichts und auch vor dem Hintergrund der während des Klagverfahrens durchgeführten weiteren
Beweisaufnahme nicht der Fall. Da der Kläger mithin durch das von ihm angefochtene zu Grunde liegende
Verwaltungshandeln der Beklagten in rechtswidriger Weise in seinen Rechten beeinträchtigt wird, hatte die
Klage den erstrebten Erfolg.
16 Die maßgeblichen Rechtsgrundlagen sind zwischen den Beteiligten unstreitig, waren vom Ansatz her von der
Beklagten auch zutreffend herangezogen und in der Begründung des genannten Widerspruchsbescheids auch
nachvollziehbar dargestellt worden. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird deshalb von einer gesonderten
Wiedergabe Abstand genommen.
17 Die Rechtswidrigkeit des von dem Kläger erfolgreich angegangenen Verwaltungshandelns der Beklagten ergibt
sich aus einer unrichtigen Rechtsanwendung. § 48 Abs. 1 Satz 1 des Zehnten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB
X) hat als Voraussetzung, dass sich in den maßgeblichen recht-lichen oder tatsächlichen Verhältnissen
zwischenzeitlich eine „wesentliche“ Änderung ein-gestellt haben muss, damit eine andere Sachentscheidung
gerechtfertigt werden kann. Gängiger und rechtlich unangefochtener Praxis zufolge bedeutet im vorliegenden
Zusammenhang eine „wesentliche“ Änderung, dass eine Änderung des Gesamt-GdB um wenigstens 10 nach
oben oder unten nachgewiesen werden muss. Eine derartige Änderung ist vorliegend indessen nicht
nachgewiesen.
18 Das Gericht stützt sich hierbei auf die überzeugenden Darstellungen der Hausärztin des Klägers, die im
Übrigen auch durch dessen anlässlich seines Auftretens in der mündlichen Verhandlung der Kammer
vermittelnden persönlichen Eindrucks verstärkt wurden, wonach das Heilverfahren in S. nur eine passagere
Besserung hat bewirken können und die Funktionsbeeinträchtigungen des Klägers zumindest in dem
vormaligen Umfange wieder zu verzeichnen sind, wobei eine skizzierte mögliche Verschlimmerung nicht
Gegenstand vorliegenden Streitverfahrens ist. Auch tritt das Gericht, aufgrund langjähriger Befassung mit
vergleichbaren Gesundheitsstörungen sich als hinreichend sachkundig erachtend, der hausärztlichen Betonung
bei, dass aufgrund des spezifischen Krankheitsbilds des Klägers sich die von der Beklagten als objektiv
fehlend gerügten Befunde der Natur der Sache nach schlechterdings nicht apparativ darstellen lassen können.
Bei derartigen Konstellationen ist mithin der persönliche Eindruck ein wertvolles Beurteilungskriterium, sowohl
für den hausärztlichen Therapeut wie – wie hier vorliegend – auch für das erkennende Gericht. Reine
Verwaltungsgutachten nach Aktenlage können das nicht ersetzen.
19 Würde im Übrigen der während des Klagverfahrens betonten Argumentationsschiene der Beklagten gefolgt, so
bedeutete das bei der hier gegebenen Fallgestaltung in der Konsequenz auch, dass die erstmalige
Anerkennung der Schwerbehinderteneigenschaft des Klägers gleichermaßen hätte fehlerhaft sein müssen, da
die Befunde eben schon zu der damaligen Zeit nicht objektivierbar waren. Dann wäre es indessen Sache der
Beklagten gewesen, ihrerseits eine Prüfung einzuleiten, ob die seinerzeitige erste Anerkennung nicht bereits für
sich gesehen fehlerhaft hätte sein müssen.
20 Vor dem Hintergrund vorliegend in den ganz wesentlichen Teilen unveränderter Befunde hat die Beklagte auch
nicht hinreichend beachtet, dass eine alsdann lediglich abweichende gutachter-liche Bewertung unter
fachmedizinischen Gesichtspunkten keine „wesentliche“ Änderung im Rechtssinne bedeutet, was im Übrigen
auch gefestigter höchstrichterlicher Rechtsprechung entspricht. Gesichtspunkte dafür, dass die
Sachbearbeitung der Beklagten ihre Prüfungen auch auf diesen rechtlichen Hintergrund erstreckt hat, lassen
sich den Akten nicht entnehmen.
21 Genauso wenig lässt es sich den Akten entnehmen, dass seitens der Beklagten der auch für diese geltende
und in jahrzehntelanger einschlägiger höchstrichterlicher Rechtsprechung entwickelte Grundsatz der sog.
„objektiven Beweislast“ gilt. Dieser bedeutet, dass derjenige, der aus einem bestimmten Lebenssachverhalt für
sich günstige Umstände ableiten will, deren Voraussetzungen auch nachzuweisen hat; gelingt ihm dieser
Nachweis nicht, so muss er beweisfällig bleiben. Das gilt auch vorliegend.
22 Fallübergreifend sieht sich – ausnahmsweise – das erkennende Gericht aufgrund einer in der letzten Zeit
zunehmend zu verzeichnenden Erscheinung ähnlich rechtsfehlerhaften Verwaltungshandelns in vergleichbaren
Herabsetzungsfällen zu der Bemerkung veranlasst, dass zumindest bei Beteiligung externer (im untechnischen
Sinne:) Beratungsärzte nicht davon ausgegangen werden kann, dass diesen der spezielle verfahrensrechtliche
Hintergrund hinreichend geläufig ist. Hier wäre es dann indes Sache der auftragerteilenden Sachbearbeitung,
diese Ärzte in geeigneter Form entsprechend zu instruieren, sei es durch Einzelhinweis oder Abfassung
entsprechender Merkblätter. Allerdings muss es erstaunen, wenn – wie exemplarisch im vorliegenden Fall –
auch langjährig bedienstete Versorgungsärzte vor dem Hintergrund gleichgelagerter Unkenntnis bzw. irrtümlich
angenommener rechtlicher Vorgaben einen Arbeits- und Prüfungsaufwand investieren, der objektiv überflüssig
ist. Hier ist es vielmehr Sache der fallbegleitenden Sachbearbeitung, vorprüfend die maßgeblichen
Rechtsgrundlagen soweit zu konkretisieren, dass medizinischerseits eine sachgerechte Beteiligung am
Verfahren gewährleistet ist, sollte diese sich als erforderlich erweisen. Wird nämlich im Vorfeld unreflektiert ein
Problem auf die medizinische Schiene geschoben, so schließt das nicht eine nachträgliche Korrektur aus,
zumal im vorliegenden Fall das Gericht seinerseits bereits die Beklagte ausdrücklich auf die
Beweislastregelung hatte hinweisen müssen.
23 Zwar ist es nicht Sache der Gerichte, objektiv fehlerhafte Verwaltungsabläufe wertend zu kommentieren. Auf
der anderen Seite kann es den Gerichten vor dem Hintergrund der ihnen obliegenden Aufgabe der Förderung
des Rechtsfriedens auch nicht verwehrt werden, auf erkennbar strukturelle Defizite hinzuweisen, sollten sich
diese eingestellt haben. Vorliegend ist das der Fall.
24 Mithin war zu entscheiden wie geschehen. – Der Kostenausspruch gründet sich auf §§ 183, 193 des
Sozialgerichtsgesetzes (SGG).