Urteil des SozG Stuttgart vom 05.02.2010

SozG Stuttgart (behandlung, schutz der versicherten, therapie, chemotherapie, krankenversicherung, freie arztwahl, körperliche unversehrtheit, versorgung, bewertung, lasten)

SG Stuttgart Beschluß vom 5.2.2010, S 8 KR 7849/09 ER
Krankenversicherung - Kostenübernahme - Hyperthermietherapie - Erlass einer einstweiligen Anordnung
- Folgenabwägung bei lebensbedrohlichen, regelmäßig tödlich verlaufenden Krankheiten
Leitsätze
Begehrt ein an einer lebensbedrohlichen, regelmäßig tödlich verlaufenden Krankheit erkrankter Versicherter von
seiner Krankenkasse im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes eine potentiell lebensverlängernde Therapie und
ist es dem Gericht in der gebotenen Zeit nicht möglich, den Sachverhalt zu den Anspruchsvoraussetzungen für die
beantragte Behandlung aufzuklären, führt die vorzunehmende Folgenabwägung regelmäßig zum Ergebnis, dass
dem Versicherten die Therapie vorläufig zu gewähren ist.
Tenor
Die Antragsgegnerin wird verpflichtet, der Antragstellerin vorläufig ab sofort 20 ambulante
Hyperthermiebehandlungen bei M. H. als Sachleistung zu gewähren.
Die Antragsgegnerin hat der Antragstellerin ihre außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Gründe
I.
1
Die Antragstellerin begehrt von der Antragsgegnerin im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes eine
Hyperthermietherapie zur Bekämpfung ihrer Krebserkrankung.
2
Die am XX.XX.XXXX geborene Antragstellerin ist bei der Antragsgegnerin gesetzlich krankenversichert. Sie
erlitt im Jahr 2001 einen Herzinfarkt. Außerdem wurde bei ihr im Jahr 2002 ein Mammakarzinom diagnostiziert,
das operativ entfernt und onkologisch nachbehandelt wurde. Im Jahr 2008 traten Knochenmetastasen auf, die
zunächst stationär und im Anschluss mit Strahlentherapie und Chemotherapie behandelt wurden. Trotz dieser
Behandlung traten im März 2009 Metastasen in der Leber auf, woraufhin die chemotherapeutische Behandlung
intensiviert wurde. Eine Vergrößerung der Lebermetastasen konnte hierdurch nicht verhindert werden.
3
Im September 2009 beantragte die Antragstellerin bei der Antragsgegnerin die Kostenübernahme für eine
Hyperthermiebehandlung und legte einen Arztbrief ihres behandelnden Arztes M. H. vom 11.09.2009 vor.
Danach sei es im Rahmen der laufenden Chemotherapie zu einem erneuten Tumorprogress gekommen. Zur
Verstärkung der Chemotherapiewirkung, Verbesserung der Lebensqualität, Schmerzreduktion und besseren
Tumorkontrolle führe er in seiner Praxis begleitend zur Chemotherapie zwei bis drei Mal in der Woche eine
kapazitive lokoregionale Radiofrequenz-Elektrohyperthermie (EHT) durch. Die Antragstellerin toleriere die
Therapie ohne Nebenwirkungen. Eine ergänzende Hyperthermietherapie mit den klassischen Therapieformen
(Chemotherapie und Strahlentherapie) sei medizinisch sinnvoller und Erfolg versprechender als
Standardtherapien ohne Hyperthermie, was sich aus der vorliegenden Literatur und langjährigen klinischen
Erfahrungen ergebe. Dies führte Herr H. näher aus (Bl. 11/15 Verwaltungsakte). Für jede Sitzung würden
Kosten von EUR 145,14 zzgl. Kosten für Zusatzmaßnahmen nach Bedarf entstehen.
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Die Antragsgegnerin holte ein von Dr. S. nach Aktenlage erstelltes Gutachten des Medizinischen Dienstes der
Krankenversicherung Baden-Württemberg (MDK) vom 18.09.2009 ein (Bl. 19/22 Verwaltungsakte). Danach
würden genaue Angaben über den Behandlungsverlauf fehlen. Die lokale und Ganzkörperhyperthermie sei
bereits Gegenstand einer wissenschaftlichen Methodenbewertung des Gemeinsamen Bundesausschusses
gewesen. Dieser sei zum Ergebnis gekommen, dass der Stellenwert der Hyperthermie beim Mammakarzinom
im Vergleich zu Standardtherapien wie Operation, Strahlen-, Chemo- und Hormontherapie noch unklar sei und
weitere klinische Prüfungen erforderlich seien, um eine eindeutige Schlussfolgerung zur Verträglichkeit und
Sicherheit ziehen zu können. Lediglich beim Thoraxrezidiv eines Mammakarzinoms könne lokale Hyperthermie
additiv zur Strahlentherapie zukünftig ggf. eine zusätzliche Therapieoption darstellen, wenn größere Studien die
bisher nur an kleinen Patientenkollektiven gezeigten Ergebnisse bestätigten. Die Antragstellerin leide zwar
zweifelsfrei an einer regelmäßig tödlich verlaufenden Erkrankung, jedoch stünden zur Behandlung verschiedene
Chemotherapien und ggf. auch gezielte Therapien mit HER-Inhibitoren zur Verfügung. Außerdem vertrat der
MDK unter Bezugnahme auf das Urteil des Bundessozialgerichts vom 07.11.2006 – B 1 KR 24/06 R die
Rechtsauffassung, der Nachweis einer hinreichenden Erfolgsaussicht einer Therapie sei regelmäßig nicht mehr
möglich, wenn der Gemeinsame Bundesausschuss zum Ergebnis gelangt sei, dass nach dem maßgeblichen
Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse die medizinische Notwendigkeit, der diagnostische und
therapeutische Nutzen sowie die Wirtschaftlichkeit nicht hinreichend gesichert seien und er daher eine negative
Bewertung abgegeben habe.
5
Auf dieser Grundlage lehnte die Antragsgegnerin den Antrag der Antragstellerin mit Bescheid vom 22.09.2009
ab und wies sie gleichzeitig darauf hin, dass in der Universitätsklinik Tübingen unter bestimmten
Voraussetzungen eine Hyperthermiebehandlung im Zusammenhang mit einer Strahlentherapie möglich sei. Sie
bat die Antragstellerin, sich dort schriftlich um eine Vorstellungsgespräch zu bemühen.. Am 06.10.2009 begann
die Antragstellerin mit der Hyperthermiebehandlung bei Herrn H. In der Zwischenzeit wurden etwa 15 bis 20
Sitzungen durchgeführt, welche die Antragstellerin (vor-)finanziert hat.
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Den gegen den Bescheid der Antragsgegnerin eingelegten Widerspruch wies die Antragsgegnerin mit
Widerspruchsbescheid vom 11.11.2009 zurück und stützte sich zur Begründung auf die Feststellungen im
MDK-Gutachten. Die Antragstellerin hat am 11.12.2009 Klage hiergegen erhoben, die beim Sozialgericht
Stuttgart unter dem Aktenzeichen S 8 KR 8424/09 geführt wird.
7
Am 23.11.2009 hat die Antragstellerin den vorliegenden Antrag auf einstweilige Anordnung gestellt. Zur
Begründung trägt sie vor, bereits nach sieben Behandlungen in der Zeit vom 06. bis 22.10.2009 sei ein
Wachstumsstillstand der Lebermetastasen eingetreten. Eine Vorstellung bei der Universitätsklinik Tübingen
hätte zu einer Verzögerung der dringend notwendigen Behandlung geführt. Es sei auch nicht ersichtlich,
weshalb eine Hyperthermiebehandlung in Tübingen wirkungsvoller sei. Außerdem seien der Zeitaufwand und
die höheren Kosten aufgrund der größeren Entfernung zu berücksichtigen. Sie habe darüber hinaus Angst,
dass sich bei einer Änderung der bisherigen Therapie ihr Gesundheitszustand wieder verschlechtern könne.
Wichtig sei auch, dass sie mit ihrem Arzt inzwischen ein Vertrauensverhältnis aufgebaut habe. Aufgrund ihrer
psychischen Verfassung wolle sie auch so viel Zeit wie möglich mit ihrem Lebensgefährten verbringen, den sie
in Kürze heiraten wolle, was bei einer stationären Behandlung nicht möglich sei. Im MDK-Gutachten vom
18.09.2009 sei ihre aktuelle Situation nicht berücksichtigt worden. Fälschlicherweise sei auch von der
Behandlung eines Mammakarzinoms und nicht von Lebermetastasen ausgegangen worden. Ihre Entscheidung,
eine Hyperthermiebehandlung durchführen zu lassen, habe sie erst getroffen, nachdem trotz Strahlentherapie
und medikamentöser Behandlung Metastasen in ihre Leber gelangt seien und sich vergrößert hätten. Im
Dezember 2009 sei nach einer Sonographie festgestellt worden, dass die Metastasen in der Leber nur noch
schwammig erkennbar seien und sie würden sich jetzt in Auflösung befinden. Dieser Erfolg sei erst durch den
zusätzlichen Einsatz der Hyperthermiebehandlung eingetreten. Die weiteren entstehenden Kosten für die
Hyperthermiebehandlung könne sie sich aufgrund ihrer Einkommens- und Vermögensverhältnisse nicht leisten.
8
Die Antragstellerin beantragt,
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Die Antragsgegnerin zu verpflichten, ihr vorläufig ab sofort eine Hyperther-mietherapie bei M. H. als
Sachleistung zu gewähren.
10 Die Antragsgegnerin beantragt,
11
den Antrag abzulehnen.
12 Sie wiederholt im Wesentlichen ihre Begründung im Widerspruchsbescheid. Es bestünden die vom MDK
mitgeteilten Behandlungsalternativen und die Möglichkeit einer stationären Hyperthermie im
Universitätsklinikum Tübingen. Aufgrund der negativen Bewertung des Gemeinsamen Bundesausschusses
fehle es außerdem an einer hinreichenden Erfolgsaussicht der begehrten Therapie. Für den stationären Bereich
bestehe kein gesetzlicher Leistungsausschluss.
13 Das Gericht hat Beweis erhoben und die behandelnden Ärzte M. H. und Dr. E. schriftlich als sachverständige
Zeugen befragt. Herr H. hat mit Schreiben vom 14.01.2010 mitgeteilt, der tödliche Verlauf der bei der
Antragstellerin vorliegenden Erkrankung sei leider als sicher zu bezeichnen. Es lasse sich nur die Dauer und
die Qualität der Überlebenszeit beeinflussen. Zu Beginn der Erkrankung seien die üblichen Standard-Therapien
durchgeführt worden. Im jetzt vorliegenden Krankheitsstadium könne nur noch von palliativen Therapie-
Versuchen gesprochen werden. Anwendungsbeobachtungen würden zeigen, dass unter anderem bei Knochen-
und Lebermetastasen die Kombination von Hyperthermie und Chemotherapie eine bessere antitumoröse
Wirkung habe. Wegen der weiteren Einzelheiten seiner Angaben wird auf Bl. 69/71 der Gerichtsakte verwiesen.
Dr. E. hat mit Schreiben vom 19.01.2010 unter anderem bestätigt, dass die Antragstellerin an einer regelmäßig
tödlich verlaufenden Erkrankung leide. Es sei von einer voraussichtlichen Lebenserwartung von sechs bis
zwölf Monaten nach Erstdiagnose einer Lebermetastasierung bei adäquater Therapie auszugehen. Als
Standardtherapien würden palliative hormonelle Therapien und Chemotherapien sowie Biophosphonate
eingesetzt. Aktuell habe eine Remission der Erkrankung festgestellt werden können, was ein Zurückdrängen
ohne Heilungsaussicht bedeute. Eine solche Remission sei üblicherweise auf einige Monate begrenzt. Wegen
der weiteren Einzelheiten seiner Angaben wird auf Bl. 75/76 der Gerichtsakte verwiesen. In einer vom Gericht
angeforderten ergänzenden Stellungnahme vom 19.01.2010 (Bl. 85/86) hat Dr. E. mitgeteilt, in der
evidenzbasierten schulmedizinischen Onkologie sei der Nutzen einer Hyperthermiebehandlung in Kombination
mit einer Chemotherapie nicht gesichert, mit Ausnahme der Behandlung von Weichteilsarkomen. Dennoch
werde die Hyperthermie in weiten Kreisen angewandt. Er empfehle sie seinen Patienten nicht, rate in der Regel
aber auch nicht davon ab. Der ebenfalls befragte Prof. G. hat dem Gericht trotz Erinnerung nicht geantwortet.
14 Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vortrags der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte
und die beigezogene Verwaltungsakte der Antragsgegnerin Bezug genommen.
II.
15 Der Antrag ist zulässig und begründet.
16 Nach § 86b Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache, soweit nicht ein Fall
des Absatzes 1 der Vorschrift vorliegt, eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen,
wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines
Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind
nach Abs. 2 Satz 2 auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis
zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint.
17 Vorliegend kommt nur eine Regelungsanordnung nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG in Betracht. Der Erlass einer
einstweiligen Anordnung verlangt grundsätzlich die – summarische – Prüfung der Erfolgsaussicht in der
Hauptsache sowie die Erforderlichkeit einer vorläufigen gerichtlichen Entscheidung. Die Erfolgsaussicht des
Hauptsacherechtsbehelfs (Anordnungsanspruch) und die Eilbedürftigkeit der erstrebten einstweiligen Regelung
(Anordnungsgrund) sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2
Zivilprozessordnung – ZPO).
18 Dabei begegnet es grundsätzlich keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, wenn sich die Gerichte bei der
Beurteilung der Sach- und Rechtslage an den Erfolgsaussichten der Hauptsache orientieren (vgl. BVerfG
[Kammer], Beschluss vom 02.05.2005 – 1 BvR 569/05, BVerfGK 5, 237, 242). Im Recht der gesetzlichen
Krankenversicherung ist ihnen allerdings in den Fällen, in denen es um existenziell bedeutsame Leistungen der
Krankenversicherung für den Antragsteller geht, eine lediglich summarische Prüfung der Sach- und Rechtslage
verwehrt. Sie haben unter diesen Voraussetzungen die Sach- und Rechtslage abschließend zu prüfen (vgl.
BVerfG [Kammer], Beschluss vom 29.07.2003 – 2 BvR 311/03, BVerfGK 1, 292, 296; Beschluss vom
22.11.2002 – 1 BvR 1586/02, NJW 2003, S. 1236 f.; Beschluss vom 06.02.2007 – 1 BvR 3101/06; Beschluss
vom 29.11.2007 – 1 BvR 2496/07). Ist dem Gericht in einem solchen Fall eine vollständige Aufklärung der
Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, so ist anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden (vgl.
BverfG [Kammer], Beschluss vom 02.05.2005, a.a.O., m.w.N.; Beschluss vom 06.02.2007 – 1 BvR 3101/06;
Beschluss vom 29.11.2007 – 1 BvR 2496/07); die grundrechtlichen Belange des Antragstellers sind umfassend
in die Abwägung einzustellen. Die Gerichte müssen sich schützend und fördernd vor die Grundrechte des
Einzelnen stellen (vgl. BVerfG [Kammer], Beschluss vom 22.11.2002, a.a.O., S. 1237; Beschluss vom
06.02.2007 – 1 BvR 3101/06; Beschluss vom 29.11.2007 – 1 BvR 2496/07, NZS 2008, 365). Je schwerer die
Belastungen des Betroffenen wiegen, die mit der Versagung des vorläufigen Rechtsschutzes verbunden sind,
umso weniger darf das Interesse an einer vorläufigen Regelung oder Sicherung der geltend gemachten
Rechtsposition zurückgestellt werden. Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG) verlangt jedenfalls dann vorläufigen
Rechtsschutz, wenn ohne ihn schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstünden, zu
deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (BVerfG,
Beschluss vom 25.02.2009 – 1 BvR 120/09 m.w.N.).
19 Auf dieser rechtlichen Grundlage ist der Antragstellerin im tenorierten Umfang einstweiliger Rechtsschutz zu
gewähren. Der Ausgang des Rechtsstreits in der Hauptsache ist offen. Die daher vorzunehmende
Folgenabwägung fällt zugunsten der Antragstellerin aus.
20 Ob die Antragstellerin gegen die Antragsgegnerin einen Anspruch auf die von ihr begehrte Hyperthermietherapie
hat, kann nach dem derzeitigen Sach- und Streitstand nicht abschließend beurteilt werden. Nach § 27 Abs. 1
Satz 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) haben Versicherte Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn
sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder
Krankheitsbeschwerden zu lindern. Nach § 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V haben Qualität und Wirksamkeit der
Leistungen dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse zu entsprechen und den
medizinischen Fortschritt zu berücksichtigen. Die Feststellung, dass eine ambulante vertragsärztliche
Behandlung dem geforderten Versorgungsstandard entspricht, obliegt nach dem Gesetz nicht der einzelnen
Krankenkasse und – von dem Sonderfall eines „Systemversagens“ abgesehen – auch nicht den Gerichten,
sondern dem Gemeinsamen Bundesausschuss. Gemäß § 135 Abs. 1 Satz 1 SGB V dürfen neue
Untersuchungs- und Behandlungsmethoden in der vertragsärztlichen Versorgung zu Lasten der Krankenkassen
nur abgerechnet werden, wenn der Gemeinsame Bundesausschuss in Richtlinien nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr.
5 SGB V Empfehlungen abgegeben hat über die Anerkennung des diagnostischen und therapeutischen
Nutzens der neuen Methode sowie deren medizinische Notwendigkeit und Wirtschaftlichkeit auch im Vergleich
zu bereits zu Lasten der Krankenkassen erbrachten Methoden nach dem jeweiligen Stand der
wissenschaftlichen Erkenntnisse in der jeweiligen Therapierichtung sowie über die notwendige Qualifikation der
Ärzte, die apparativen Anforderungen sowie Anforderungen an Maßnahmen der Qualitätssicherung, um eine
sachgerechte Anwendung der Methoden zu sichern. Dadurch wird der Umfang der den Versicherten von den
Krankenkassen geschuldeten Leistungen grundsätzlich verbindlich festgelegt.
21 Gegenüber der fehlenden Entscheidung des Bundesausschusses über den Nutzen sowie die medizinische
Notwendigkeit und Wirtschaftlichkeit ist auch der Einwand unerheblich, die Methode sei gleichwohl
zweckmäßig und im konkreten Fall notwendig. Es kommt nicht darauf an, ob der Gemeinsame
Bundesausschuss die in Rede stehende Methode bereits geprüft und abgelehnt hat oder über die Anerkennung
bisher nicht entschieden worden ist. Das Gesetz schließt eine Abrechnung zu Lasten der Krankenkasse nicht
nur bei ablehnenden Entscheidungen des Bundesausschusses, sondern auch für den Fall des Fehlens einer
solchen Entscheidung aus, denn es soll sichergestellt werden, dass neue Behandlungsmethoden erst nach
ausreichender Prüfung in dem dafür vorgesehenem Verfahren in der gesetzlichen Krankenversicherung
eingesetzt werden. Bei den Richtlinien über die Einführung neuer Untersuchungs- und Behandlungsmethoden
nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 SGB V handelt es sich um untergesetzliche Normen, die in Verbindung mit §
135 SGB V verbindlich festlegen, welche neuen Untersuchungs- und Behandlungsmethoden Bestandteil des
vertragsärztlichen Leistungsspektrums sind. § 135 SGB V bezweckt die Sicherung der Qualität der
Leistungserbringung in der gesetzlichen Krankenversicherung; es soll gewährleistet werden, dass neue
medizinische Verfahren nicht ohne Prüfung ihres diagnostischen bzw. therapeutischen Nutzens und etwaiger
gesundheitlicher Risiken in der vertragsärztlichen Versorgung angewandt werden. Das ist zum Schutz der
Versichertengemeinschaft vor unwirtschaftlicher Behandlung ebenso wichtig wie zum Schutz der Versicherten
vor unerprobten Methoden einschließlich deren Nebenwirkungen. Die Regelung ist in der Art eines Verbots mit
Erlaubnisvorbehalt gefasst. Neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden sind deshalb solange von der
Abrechnung zu Lasten der Krankenkassen ausgeschlossen, bis der Bundesausschuss sie als zweckmäßig
anerkannt hat. Dieser Leistungsausschluss gilt auch im Verhältnis zum Versicherten. Zwar legt § 135 SGB V
in erster Linie für die an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmenden Ärzte fest, unter welchen
Voraussetzungen neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden zu Lasten der gesetzlichen Krankenkassen
erbracht und abgerechnet werden dürfen. Trotzdem wird durch § 135 SGB V ebenso wie durch andere
vertragsärztliche Vorschriften, die bestimmte Behandlungen von der vertragsärztlichen Versorgung
ausschließen oder ihre Anwendung an besondere Bedingungen knüpfen, zugleich der Umfang der den
Versicherten von den Krankenkassen geschuldeten Leistungen festgelegt. Darf der Arzt eine
Behandlungsmethode nicht als Vertragsleistung abrechnen, weil sie nach den Richtlinien ausgeschlossen oder
nicht empfohlen ist, gehört sie auch nicht zur Behandlung im Sinne von § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V.
22 Die Hyperthermie (u.a. Ganzkörperhyperthermie, regionale Tiefenhyperthermie, Oberflächenhyperthermie,
Hyperthermie in Kombination mit Radiatio und/oder Chemotherapie) hat der Gemeinsame Bundesausschuss
mit Beschluss vom 14.05.2005 (BAnz 2005, S. 7485) ausdrücklich als nicht anerkannte Untersuchungs- und
Behandlungsmethode angesehen (Anlage II Nr. 42 der Richtlinie zu Untersungs- und Behandlungsmethoden
der vertragsärztlichen Versorgung). Demnach scheidet ein Anspruch der Antragstellerin im Grundsatz aus.
23 Die Antragstellerin kann aber einen Anspruch auf die Hyperthermiebehandlung unter dem Gesichtspunkt einer
verfassungskonformen Auslegung haben. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG,
Beschluss vom 06.12.2005 – 1 BvR 347/98; Beschluss vom 19.11.2007 – 1 BvR 2496/07; Beschluss vom
30.06.2008 – 1 BvR 1665/07; Beschluss vom 19.03.2009 – 1 BvR 316/09), der sich das Bundessozialgericht
(BSG) angeschlossen hat (vgl. BSG, Urteil vom 04.04.2006 – B 1 KR 12/05 R; Urteil vom 07. 11. 2006 – B 1
KR 24/06 R), verstößt die Leistungsverweigerung der Krankenkasse unter Berufung darauf, eine bestimmte
neue ärztliche Behandlungsmethode sei im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung ausgeschlossen,
weil der zuständige Gemeinsame Bundesausschuss diese noch nicht anerkannt oder sie sich zumindest in der
Praxis und in der medizinischen Fachdiskussion noch nicht durchgesetzt habe, gegen Art. 2 Abs. 1, Abs. 2
Satz 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip, wenn folgende drei Voraussetzungen kumulativ erfüllt
sind: 1. Es liegt eine lebensbedrohliche oder regelmäßig tödlich verlaufende Erkrankung vor. 2. Bezüglich
dieser Krankheit steht eine allgemein anerkannte, dem medizinischem Standard entsprechende Behandlung
nicht zur Verfügung. 3. Bezüglich der beim Versicherten ärztlich angewandten Behandlungsmethode besteht
eine auf Indizien gestützte nicht ganz fern liegende Aussicht auf Heilung oder wenigstens auf eine spürbare
positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf.
24 Die erste dieser drei Voraussetzungen ist vorliegend unstreitig und zweifellos erfüllt.
25 Ob im vorliegenden Fall eine allgemein anerkannte dem Standard entsprechende Therapie zur Verfügung steht,
vermag das erkennende Gericht nicht abschließend zu beurteilen. Jedenfalls ist dies nicht schon deshalb der
Fall, weil zur Behandlung von Metastasen generell Standardtherapien wie Strahlentherapie oder Chemotherapie
zur Verfügung stehen. Denn es ist eine Einzelfallbetrachtung vorzunehmen (vgl. BSG, Urteil vom 04.04.2006 –
B 1 KR 7/05 R). Es kommt also entscheidend darauf an, ob in der konkreten Krankheitssituation des
Versicherten eine anwendbare Therapie mit Erfolgsaussicht besteht. Im Hinblick darauf, dass das Wachstum
der bei der Antragstellerin vorliegenden Metastasen durch die anfangs durchgeführten Standardtherapien nicht
aufgehalten werden konnte, ist zumindest zweifelhaft, ob diese noch als ausreichend erfolgversprechend
anzusehen sind. Umgekehrt kann aus der Rückbildung der Metastasen seit Anwendung der
Hyperthermiebehandlungen nicht zwingend der Schluss gezogen werden, dass dieser Erfolg auf die
Hyperthermiebehandlung zurückzuführen ist oder auch bei alleiniger Anwendung der fortgeführten
Standardtherapien eingetreten wäre. Das Gericht sieht sich außer Stande, diese Frage im vorliegenden
Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes in der gebotenen Zeit mit hinreichender Sicherheit zu klären.
26 Eine anspruchsausschließende Behandlungsalternative folgt auch nicht daraus, dass die Antragsgegnerin die
Antragstellerin darauf hingewiesen hat, dass in der Universitätsklinik Tübingen unter bestimmten
Voraussetzungen eine stationäre Hyperthermiebehandlung durchgeführt werden könne, welche die
Antragstellerin abgelehnt hat. Die Antragsgegnerin hat die Voraussetzungen für eine stationäre Hyperthermie in
Tübingen nicht genannt und damit offen gelassen, ob es sich um eine tatsächlich verfügbare
Therapiealternative handelt. In diesem Zusammenhang ist auch die Rechtsprechung des BSG zu
berücksichtigen, wonach eine Krankenhausbehandlung nicht bereits deshalb erforderlich ist, weil eine
bestimmte Leistung nach den Regeln der ärztlichen Kunst zwar ambulant erbracht werden kann,
vertragsärztlich aber mangels positiver Empfehlung des Gemeinsamen Bundesausschusses nicht zu Lasten
der gesetzlichen Krankenversicherung geleistet werden darf (BSG, Urteil vom 16.12.2008 – B 1 KR 11/08 R).
Im vorliegenden Fall kann die Hyperthermie nach den Regeln der ärztlichen Kunst ambulant erbracht werden.
Die Antragstellerin hat daher – auch vor dem Hintergrund des Wirtschaftlichkeitsgebots des § 12 Abs. 2 SGB V
– gerade keinen Anspruch auf eine stationäre Hyperthermiebehandlung.
27 Schließlich scheitert ein Anspruch der Antragstellerin auf die Hyperthermietherapie auch nicht an einer
mangelnden Erfolgsaussicht. Zwar hat das BSG entschieden, dass der Nachweis hinreichender
Erfolgsaussichten einer Therapie regelmäßig nicht mehr möglich sei, wenn der Gemeinsame
Bundesausschuss zu dem Ergebnis gelangt ist, dass nach dem maßgeblichen Stand der wissenschaftlichen
Erkenntnisse medizinische Notwendigkeit, diagnostischer oder therapeutischer Nutzen sowie Wirtschaftlichkeit
nicht hinreichend gesichert sind und er eine negative Bewertung abgegeben hat (BSG, Urteil vom 07.11.2006 –
B 1 KR 24/06 R), jedoch hat das BVerfG diese Frage in seinem Beschluss vom 29.11.2007 – 1 BvR 2496/07
ausdrücklich offen gelassen. Das BSG hat sich seither, soweit ersichtlich, nicht mehr zu dieser Frage
geäußert. Es kann insoweit deshalb nicht von einer gefestigten Rechtsprechung ausgegangen werden. Das
erkennende Gericht ist der Auffassung, dass eine negative Bewertung des Gemeinsamen Bundesausschusses
und die Zuordnung einer Methode zu Anlage II der Richtlinie zu Untersungs- und Behandlungsmethoden der
vertragsärztlichen Versorgung bei lebensbedrohlichen Erkrankungen einen Leistungsanspruch des Versicherten
nicht ausschließt. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Gemeinsame Bundesausschuss bei seiner
Bewertung einer Methode erheblich strengere Maßstäbe zu Grunde zu legen hat als sie nach den Vorgaben
des BVerfG anzuwenden sind. Während der Gemeinsame Bundesausschuss seine Beschlüsse auf der
Grundlage der evidenzbasierten Medizin zu treffen und sich dabei an strenge statistische Vorgaben zu halten
hat, genügt nach der Rechtsprechung des BVerfG, wie vorstehend dargestellt, schon eine auf Indizien
gestützte nicht ganz fern liegende Aussicht auf Heilung oder wenigstens auf eine spürbare positive Einwirkung
auf den Krankheitsverlauf. Diese Voraussetzung dürfte im vorliegenden Fall der Antragstellerin im Hinblick auf
den Behandlungserfolg seit Anwendung der Hyperthermie und vor dem Hintergrund, dass die Hyperthermie zur
Behandlung von Krebserkrankungen trotz der negativen Bewertung des Gemeinsamen Bundesausschusses
inzwischen weit verbreitet ist, gegeben sein.
28 Da eine endgültige Entscheidung über einen Anspruch der Antragstellerin mangels hinreichender Klarheit über
das Vorhandensein einer anwendbaren und Erfolg versprechenden Standardtherapie derzeit nicht möglich ist,
hat das Gericht zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes, wie vorstehend dargelegt, eine Folgenabwägung
vorzunehmen. In diesem Zusammenhang ist zu berücksichtigen, dass das Leben und die körperliche
Unversehrtheit der Antragstellerin als eines der höchstrangigen Grundrechte betroffen ist. Wird ihr kein
einstweiliger Rechtsschutz gewährt, droht ihr unter Umständen eine Lebensverkürzung und/oder ein erheblicher
Verlust ihrer Lebensqualität und damit ein nicht reversibler Zustand. Die Antragstellerin hat auch hinreichend
glaubhaft gemacht, dass sie wirtschaftlich nicht in der Lage ist, die Hyperthermiebehandlung weiter selbst zu
finanzieren. Demgegenüber können die Wirkungen einer einstweiligen Anordnung nachträglich für die
Vergangenheit korrigiert werden (vgl. Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leiherer, 9. Auflage 2008, § 86b, Rn. 31).
Für den Fall, dass die Antragstellerin in der Hauptsache unterliegt, steht der Antragsgegnerin ein Rückgewähr-
bzw. Schadensersatzanspruch zu (Keller, a.a.O, § 86 b, Rn. 49 f.). Es ist zwar denkbar und auch nicht
unwahrscheinlich, dass sich dieser mögliche Anspruch der Antragsgegnerin im Hinblick auf die wirtschaftlichen
Verhältnisse der Antragstellerin nicht wird realisieren lassen, insoweit haben die Interessen der
Antragsgegnerin jedoch hinter die höherrangigen Belange der Antragstellerin zurückzutreten.
29 Da Herr H. zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassen ist, hat die Antragstellerin im Rahmen ihres Rechts
auf freie Arztwahl auch einen Anspruch, von ihm behandelt zu werden.
30 Der Antrag hatte daher Erfolg, wobei der Therapieumfang (auf 20 Behandlungen) zu begrenzen war. Eine im
Umfang weitergehende Regelung ist zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes nicht geboten. Eine
Entscheidung über eine weitere Therapieverlängerung kann abhängig vom Krankheitsverlauf der Antragstellerin
erst nach Durchführung eines Großteils der hier (vorläufig) zugesprochenen Behandlungen getroffen werden.
31 Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.