Urteil des SozG Stade vom 12.06.2009

SozG Stade: vorläufig und unter Vorbehalt der Rückforderung, hauptsache, nothilfe, vermieter, fax, gefahr, deckung, beweislastverteilung

Sozialgericht Stade
Beschluss vom 12.06.2009 (rechtskräftig)
Sozialgericht Stade S 28 AS 374/09 ER
Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anord-nung verpflichtet, dem Antragsteller - vorläufig und unter
Vorbehalt der Rückforderung - Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II ab 1. Juni 2009 in
der bis 31. Mai 2009 gewährten Höhe für den Zeitraum vom 1. Juni bis zum 31. August 2009 weiter zu zahlen. Der
Antragsgegner hat dem Antragsteller die außergericht-lichen Kosten zu erstatten.
Gründe:
I.
Die Beteiligten streiten über die Leistungsberechtigung des Antragstellers mit Blick auf die Frage der
Hilfebedürftigkeit.
Der Antragsteller, geboren 1961, bezieht seit Januar 2005 laufend Leistungen zur Siche-rung des Lebensunterhalts
nach dem SGB II vom Antragsgegner. Zuletzt wurden ihm mit Bescheid vom 19. November 2008 in der Fassung
eines Änderungsbescheids vom 1. Dezember 2008 Leistungen iHv monatlich 701,00 EUR für den Zeitraum 1. Januar
2009 bis 31. Mai 2009 bewilligt. Dabei wurden die Mietkosten vom Antragsgegner direkt an den Vermieter des
Antragstellers überwiesen, und zwar in Höhe der tatsächlich geschul-deten Aufwendungen, zuletzt iHv 411,90 EUR.
Anerkannt als angemessen wurden zugleich jedoch nur 300,00 EUR Miete zzgl Nebenkosten iHv 68,90 EUR und
Heizkosten iHv 50,00 EUR anerkannt. Den Differenzbetrag zwischen den tatsächlichen Aufwendun-gen für die
Unterkunft und Heizung, die vollständig an den Vermieter gezahlt werden, und den anerkannten Aufwendungen zog
der Antragsgegner dem Antragsteller von dessen Regelleistung ab, von der auf diese Weise anstelle der zustehenden
351,00 EUR nur 289,10 EUR verblieben.
Am 8. Mai 2009 stellte der Antragsteller einen Fortzahlungsantrag für die Zeit ab Juni 2009 und teilte dazu mit, dass
sich keine Veränderungen ergeben hätten. Dazu legte er Kontoauszüge vom 4. Mai 2009 vor, die den Zeitraum vom
27. März 2009 bis 4. Mai 2009 umfassen. Aus diesen sind keine Abbuchungen durch Lebensmittelgeschäfte und
keine Barabhebungen ersichtlich. Auf Verlangen des Antragsgegners legte der An-tragsteller am 18. Mai 2009 auch
Kontoauszüge über den Zeitraum 18. Februar 2009 bis 19. März 2009 vor, aus denen ebenfalls keine Abbuchungen
durch Lebensmittelgeschäf-te und keine Barabhebungen hervorgehen. Mit Schreiben vom 19. Mai 2009 forderte der
Antragsgegner den Antragsteller auf, weite-re Nachweise darüber vorzulegen, wie derzeit der Lebensunterhalts
gesichert würde, da dies aus den Kontoauszügen nicht erkennbar sei und das darauf hindeute, dass eventuell
weiteres Einkommen erzielt würde. Zugleich wies er den Antragsteller auf seine Mitwir-kungspflichten gemäß § 66
SGB I und die möglichen Folgen, dh eine Versagung der Leistung wegen mangelnder Mitwirkung, hin.
Der Antragsteller teilte daraufhin mit Fax vom 20. Mai 2009 mit, dass er aufgrund seiner schwierigen Lage von
Freunden mit Lebensmitteln unterstützt werde und des Öfteren zum Essen eingeladen werde. Zugleich reichte er eine
entsprechende Bestätigung die-ses Sachverhalts durch den Herrn C. ein. Der Antragsgegner forderte den Antragsteller
mit Schreiben vom 26. Mai 2009 daraufhin auf, die erhaltenen Sachleistungen wertmäßig zu beziffern und wies erneut
auf die Mit-wirkungspflichten und die Folgen mangelnder Mitwirkung hin. Der Antragsteller wies mit Fax vom 27. Mai
2009 darauf hin, dass er die Einladungen zum Essen sowie die sporadi-sche Überlassung von Lebensmitteln nicht
beziffern könne, und fügte erneut eine Erklä-rung des Herrn C. zum Sachverhalt bei. Mit Bescheid vom 29. Mai 2009,
abgesandt laut Vermerk am 2. Juni 2009, lehnte der Antragsgegner den Fortzahlungsantrag wegen mangelnder
Hilfebedürftigkeit ab. Wider-spruch wurde - soweit ersichtlich - vom Antragsteller gegen den Ablehnungsbescheid noch
nicht eingelegt. Am 2. Juni 2009 wandte er sich mit dem Eilantrag an das Gericht.
Der Antragsteller trägt sinngemäß vor, die Einladungen zum Essen und Gaben seiner Freunde könne er nicht mit
Zahlen belegen. Sein Lebensunterhalt und die Erfüllung lau-fender Zahlungsverpflichtung wie zB der Miete seien
derzeit nicht gesichert.
Der Antragsteller beantragt,
den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, dem Antragsteller Leistungen nach dem
SGB II in gesetzlicher Höhe zu gewähren.
Der Antragsgegner beantragt,
den Eilantrag abzulehnen.
Er weist darauf hin, die Hilfebedürftigkeit des Antragstellers sei nicht hinreichend glaub-haft gemacht. II.
Der zulässige Antrag hat Erfolg.
Nach § 86 b Abs 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache, soweit ein Fall des Absat-zes 1 nicht vorliegt, auf Antrag
eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitge-genstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine
Veränderung des bestehen-den Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesent-
lich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in
Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile
nötig erscheint. Das Gericht der Hauptsache ist das Gericht des ersten Rechtszuges. Voraussetzung für den Erlass
der hier begehrten Regelungsanordnung nach § 86 b Abs 2 Satz 2 SGG ist neben einer besonderen Eilbedürftigkeit
der Regelung (Anord-nungsgrund) das Bestehen eines Anspruchs auf die begehrte Regelung (Anordnungsan-spruch).
Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch sind glaubhaft zu machen (§ 86 b Abs 2 Satz 3 SGG iVm § 920 Abs 2
ZPO). Dabei darf die einstweilige Anordnung des Gerichts wegen des summarischen Charak-ters dieses Verfahrens
grundsätzlich nicht die endgültige Entscheidung in der Hauptsa-che vorwegnehmen, weil sonst die Erfordernisse, die
bei einem Hauptsacheverfahren zu beachten sind, umgangen würden. Auch besteht die Gefahr, dass eventuell in
einem Eil-verfahren vorläufig, aber zu Unrecht gewährte Leistungen später nach einem Hauptsa-cheverfahren, dass zu
Lasten des Antragstellers ausginge, nur unter sehr großen Schwierigkeiten erfolgreich wieder zurückgefordert werden
könnten. Daher ist der vorläu-fige Rechtsschutz nur dann zu gewähren, wenn ohne ihn schwere und unzumutbare,
anders nicht abzuwendende Nachteile entstünden, zu deren Beseitigung eine spätere Entscheidung in der Hauptsache
nicht mehr in der Lage wäre (vgl BVerfGE 79, 69, 74).
Ein Anordnungsgrund ist glaubhaft. Die erforderliche Eilbedürftigkeit ist zu bejahen. Die Beteiligten streiten um die
Weitergewährung existenzsichernder Leistungen. Die Hilfebe-dürftigkeit ist fraglich. Es ist nicht auszuschließen, dass
der Lebensunterhalt des An-tragstellers tatsächlich nicht mehr gesichert ist, so dass es einer gerichtlichen Eilent-
scheidung zur Abwendung schwerer Nachteile bedarf. Die Stellung des Eilantrags er-setzt allerdings nicht das
Erfordernis, gegen den Ablehnungsbescheid vom 29. Mai 2009 noch fristgerecht Widerspruch beim Antragsgegner
einzulegen, wenn der Be-scheid nicht in Bestandkraft erwachsen soll. Bisher ist die Widerspruchsfrist nicht
abgelaufen, so dass entsprechendes Handeln dem Antragsteller anheim gestellt wird.
Der Antragsteller konnte auch einen Anordnungsanspruch glaubhaft machen. Die Fort-gewährung von Leistungen nach
dem SGB II hängt gemäß § 7 Abs 1 Nr 3 SGB II unter anderem davon ab, dass Hilfebedürftigkeit iS des § 9 SGB II
besteht. Der Antragsteller hat durch die Vorlage der Bestätigungen des Herrn C. zumindest für das Eilverfahren in
ausreichender Weise glaubhaft gemacht, dass er von dort lediglich sporadisch zum Es-sen eingeladen und zT mit
Lebensmitteln versorgt wird, indem er die Reste gemeinsamer Speisen mitnehmen darf. Damit hat er einen
schlüssigen Sachverhalt dargestellt, der geeignet erscheint zu erklären, warum er ausweislich der Kontoauszüge
keine Lebens-mitteleinkäufe in den umfassten Wochen getätigt hat. Auch aus Sicht des Gerichts besteht allerdings
noch Aufklärungsbedarf insbesondere hinsichtlich des Umfangs der Unterstützung durch Freunde und inwieweit diese
den Cha-rakter sporadischer freiwilliger Spendengaben in Richtung einer dauerhaften regelmäßi-gen Unterstützung
überschritten haben. Da sich der Sachverhalt insoweit im Rahmen des Eilverfahrens nicht endgültig aufklären lässt,
musste eine Entscheidung auf Grundlage einer Folgenabwägung ergehen.
Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Entscheidung des BVerfG vom 12. Mai 2005 - 1 BvR
569/05 -) müssen die Gerichte in Eilfällen, in denen sie sich an den Erfolgsaussichten in der Hauptsache orientieren
wollen, die Sach- und Rechtslage nicht nur summarisch, sondern abschließend prüfen. Ist dem Gericht eine
vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, so ist nach der Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts anhand einer Folgenabwägung zu ent-scheiden. Hierbei sind die grundrechtlichen Belange
des Antragstellers umfassend in die Abwägung einzustellen.
Die Folgenabwägung geht hier zugunsten der Belange des Antragstellers aus. Dabei ist vor allem zu berücksichtigen,
dass es in der Sache um existenzsichernde Leistungen geht. Zwar bestehen Anhaltspunkte, die Hilfebedürftigkeit zu
hinterfragen, jedoch wiegen diese im konkreten Einzelfall und unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismä-
ßigkeit nicht so stark, dass auch in Ansehnung der allgemeinen Beweislastverteilung eine kurzfristige vollständige
Ablehnung der langjährig gezahlten Leistungen gerechtfertigt erscheint. Den existentiellen Folgen der Ablehnung
weiterer Leistungen nach dem SGB II für den Antragsteller steht ein eher unklarer Sachverhalt, der letztlich auf in
erster Linie Vermutungen beruht, gegenüber. Die Vermutung des Antragsgegners, dass keine Hilfebedürftigkeit
vorliege, beruht allein darauf, dass keine Barabhebungen oder Abbuchungen aus den Kontoauszügen von März 2009
bis Mai 2009 ersichtlich sind, die auf Kosten zur Deckung des Lebensunter-halts hinweisen. Der einzige tatsächliche
Anhaltspunkt für Einnahmen besteht in dem Umstand, dass der Antragsteller von Freunden mit Lebensmitteln
unterstützt wird. Ob diese allerdings als Einkommen im Sinne des § 11 Abs 1 SGB II bewertet werden kön-nen,
erscheint sehr fraglich. Grundsätzlich wird davon auszugehen sein, dass Sachleistungen wie Lebensmittel oder auch
zB Kleidungsstücke, die Leistungsempfänger im Sinne einer Nothilfe von Dritten erhalten, nicht ohne Weiteres als
Einkommen iS des § 11 Abs 1 SGB II angesehen wer-den können. Eine generelle Anrechung der Nothilfe würde
Leistungsempfänger nach dem SGB II von jeder freiwilligen Unterstützung durch Dritte von vornherein ausschließen
und es dem Einzelnen wie auch sozialen Einrichtungen, Kirchengemeinden und Hilfsor-ganisationen praktisch
unmöglich machen, sozial Schwachen und Bedürftigen im Rah-men tätiger Nächstenliebe aus Mitgefühl und
Solidarität zu helfen. Dies kann nicht ge-wollte Folge staatlicher Existenzsicherung sein. Zugleich würde es zu einer
unzulässigen Stigmatisierung der Leistungsempfänger kommen. Zugleich ergeben sich auch in tatsächlicher Hinsicht
Abgrenzungsschwierigkeiten. Zum einen lassen sich derartige Sachleistungen durch Dritte tatsächlich auch unter
Anwen-dung des § 2 Abs 5 und 6 ALG-II-VO nur bedingt wertmäßig beziffern. Zum anderen bleibt völlig offen, wo die
Grenzziehung erfolgen soll. Denn strenggenommen und über-spitzt formuliert würde dann auch jede Tafel Schokolade,
die ein Leistungsempfänger zum Geburtstag geschenkt bekommt, als Einkommen angerechnet werden müssen. Eine
Anrechnung von Unterstützungsleistungen Dritter als Einkommen kann allenfalls dann in Betracht kommen, wenn eine
gewisse Regelmäßigkeit und Dauerhaftigkeit der Unterstützung eintritt und die diese damit der Charakter einer
vorübergehenden Nothilfe verliert (vgl Hohm/Klaus in: Hohm, GK-SGB II, § 11 Rn 153). Ob diese Voraussetzung
allerdings erfüllt sind, bedarf weitergehender Prüfungen, für der im Tenor ausgeworfene Zeitraum der vorläufigen
Fortgewährung ausreichend sein sollte.
Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung des § 193 SGG.