Urteil des SozG Stade vom 30.09.2005
SozG Stade: diabetes mellitus, ernährung, erlass, fürsorge, diät, meinung, ballaststoffe, mensch, wahrscheinlichkeit, angemessenheit
Sozialgericht Stade
Beschluss vom 30.09.2005 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Stade S 19 SO 82/05 ER
Der Antrag vom 21. Juli 2005 auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt. Außergerichtliche Kosten sind
nicht zu erstatten.
Gründe:
Der 1940 geborene Antragstelle (AS) bezieht vom Antragsgegner (AG) Sozialhilfe. Mit seinem Antrag auf Erlass einer
einstweiligen Anordnung begehrt er die Verpflichtung des AG, ihm einen Mehrbedarf wegen kostenaufwendiger
Ernährung nach § 30 Abs 5 SGB XII zu gewähren. Zur Begründung dafür legt er eine ärztliche Bescheinigung des
Facharztes für Allgemeinmedizin, Chirotherapie und Akkupunktur Dr. D. vom 15. August 2005 vor. Danach leidet der
Kläger an einem nicht insulinpflichtigen Diabetes mellitus und einer Hyperlipoproteinämie, auf Grund derer er einer
speziellen Ernährung bedürfe, die mit "Diabeteskost 18 Broteinheiten (BE) Verteilung 4-2-4-2-3-3" bezeichnet wird.
Voraussetzung für den Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 86b Abs 2 SGG ist das Vorliegen eines
Anordnungsanspruchs iS eines materiell rechtlichen Anspruchs und eines Anordnungsgrundes iS einer besonderen
Eilbedürftigkeit sowie die Glaubhaftmachung der dafür maßgeblichen Tatsachen. Der Antrag ist unbegründet, denn es
liegt kein Anordnungsanspruch vor. Nach § 30 Abs 5 SGB XII erhalten Kranke, die einer kostenaufwendigen
Ernährung bedürfen, einen Mehrbedarf in angemessener Höhe. Nach den Gesetzesmaterialien zum SGG XII können
bei der Bestimmung der Angemessenheit eines Mehrbedarfs "die hierzu vom Deutschen Verein für öffentliche und
private Fürsorge entwickelten und an typisierten Fallgestaltungen ausgerichteten Empfehlungen herangezogen
werden" (Hoffmann in LBK/SGB XII § 30 Rz 29). Auf Grund dieser Empfehlungen wurde in der Vergangenheit bei
einem nicht insulinpflichtigen Diabetes ohne Übergewicht (Typ II A), wie er beim Antragsteller vorliegt, als geeignete
Krankenkost Diabeteskost empfohlen, für die sich eine Krankenkostzulage ergab. In dem vom Landschaftsverband
Westfalen/Lippe herausgegebenen Begutachtungsleitfaden für den Mehrbedarf bei krankheitsbedingter
kostenaufwendiger Ernährung (Krankenkostzulage) gemäß § 23 Abs 4 BSHG aus dem Jahr 2002, der die
Empfehlungen des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge weiter entwickelt hat, wird jedoch
hinsichtlich der Zuckerkrankheit darauf hingewiesen, dass die wissenschaftliche Auffassung bezüglich der beim
Diabetes erforderlichen Diät sich in den letzten Jahren fundamental geändert hat: Während früher die Auffassung
vertreten wurde, dass ein Diabetiker besondere Nahrungsmittel mit so genannten "Zuckeraustauschstoffen" benötige,
sind heute die führenden Diabetologen weltweit übereinstimmend der Meinung, dass eine ausgewogene Mischkost mit
Eiweiß und Fettanteilen von 20 bis 30 % und einem Kohlenhydratanteil von mindestens 50 % sowie die Einhaltung
eines normalen Körpergewichtes die besten Voraussetzungen bieten, eine optimale Blutzuckereinstellung mit oder
ohne Medikamente zu erreichen und vor allem Spätkomplikationen und Folgeerkrankungen des Diabetes mit hoher
Wahrscheinlichkeit zu vermeiden. Von führenden Diabetologen wird deshalb inzwischen von der Verwendung
spezieller Diätprodukte mit Zuckeraustauschstoffen wegen nachteiliger Auswirkungen, wie z.B. der möglichen
Erhöhung von Blutfetten und der Induktion von Diarrhoe sogar abgeraten. Die für den Diabetes mellitus
wissenschaftlich empfohlene Diät entspricht nach dem Begutachtungsleitfaden der allgemein für eine gesunde
Ernährung empfohlenen ausgewogenen Mischkost (gleich Vollkost), die ohne Einschränkung alle
Nahrungsbestandteile, also Kohlenhydrate, Lipide, Proteine, Ballaststoffe, Vitamine und Mineralstoffe in einem
ausgewogenen Verhältnis enthält. Eine solche Vollkosternährung beschreibt daher eine Ernährung, wie sie jeder
gesundheits - und ernährungsbewusste Mensch zu sich nehmen sollte. Es leuchtet daher ohne weiteres ein, wenn der
Begutachtungsleitfaden insoweit zu dem Ergebnis kommt, dass bei dieser Art von Ernährung keine Mehrkosten
entstehen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.