Urteil des SozG Stade vom 04.08.2009

SozG Stade: vergleich, gebühr, niedersachsen, akte, anmerkung, rücknahme, vertretung, auflage, ermessensspielraum, qualifikation

Sozialgericht Stade
Beschluss vom 04.08.2009 (rechtskräftig)
Sozialgericht Stade S 34 SF 60/08
Auf die Erinnerung des Klägers sowie auf die Erinnerung des Beklag-ten wird der Kostenfestsetzungsbeschluss des
Sozialgerichts Stade vom 4. Februar 2008 geändert. Die von dem Beklagten an den Kläger zu erstattenden Kosten
werden auf 562,87 EUR zuzüglich Zinsen von 5% über dem Basiszinssatz seit dem 13. Juni 2007 festgesetzt. Im
Übrigen wird die Erinnerung des Klägers zurückgewiesen.
Gründe:
Streitig ist die Höhe erstattungsfähiger Rechtsanwaltsgebühren.
Die zulässige Erinnerung des Beklagten ist begründet. Die zulässige Erinnerung des Klä-gers ist zum Teil begründet.
Zu Unrecht hat die Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle eine Verfahrensgebühr nach Nr 3102 VV RVG in Höhe von
300,00 EUR festgesetzt. Der Kläger kann lediglich eine Ver-fahrensgebühr in Höhe von 250,00 EUR geltend machen
(Mittelgebühr).
Nach §§ 3, 14 RVG bestimmt der Rechtsanwalt die Rahmengebühr im Einzelfall unter Berücksichtigung aller
Umstände, vor allem des Umfangs und der Schwierigkeit der an-waltlichen Tätigkeit, der Bedeutung der Angelegenheit
sowie der Einkommens- und der Vermögensverhältnisse des Auftraggebers nach billigem Ermessen. Das
Haftungsrisiko ist zu berücksichtigen, § 14 Abs 1 Satz 3 RVG. Wenn die Gebühr von einem Dritten zu ersetzen ist,
so ist die von dem Rechtsanwalt getroffene Bestimmung nach § 14 Abs 1 Satz 4 RVG nicht verbindlich, wenn sie
unbillig ist.
Ausgangspunkt bei der Bemessung der Gebühr ist die sogenannte Mittelgebühr, das heißt die Mitte des gesetzlichen
Gebührenrahmens, die anzusetzen ist bei Verfahren durchschnittlicher Bedeutung, durchschnittlichen
Schwierigkeitsgrades und wenn die vom Rechtsanwalt/Beistand geforderte und tatsächlich entwickelte Tätigkeit
ebenfalls von durchschnittlichem Umfang war. Denn nur so wird eine einigermaßen gleichmäßige Be-rechnungspraxis
gewährleistet. Abweichungen nach unten oder oben ergeben sich, wenn nur ein Tatbestandsmerkmal des § 14 RVG
fallbezogen unter- oder überdurchschnittlich zu bewerten ist, wobei das geringere Gewicht eines
Bemessungsmerkmals das überwie-gende Gewicht eines anderen Merkmals kompensieren kann (Gerold/Schmidt-
Mayer, RVG, 18. Auflage 2008, § 14 Rn 11).
Nach den Kriterien des § 14 RVG ist nur eine die Mittelgebühr begründende Qualifikation der Angelegenheit als
durchschnittlich zu rechtfertigen. Die vom Rechtsanwalt getroffene Bestimmung der Gebühren ist unbillig iS von § 14
RVG.
Die Bedeutung der Angelegenheit für den Kläger ist unter Berücksichtigung der prakti-schen Auswirkungen der
Feststellung des Merkzeichens "G" als durchschnittlich einzu-stufen. Die Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit im
Klageverfahren ist ebenfalls als durchschnittlich einzustufen, da es hinsichtlich der Erteilung des Merkzeichens "G"
um die rein medizinische Frage einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit des Klägers im
Straßenverkehr geht. Eine schwierige Auseinandersetzung mit Rechts-fragen war daher nicht erforderlich. Auch der
Umfang der anwaltlichen Tätigkeit weist keine Besonderheiten auf, die über ein durchschnittliches sozialgerichtliches
Verfahren hinausgehen würden. Die Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Klägers sind soweit ersichtlich als
allenfalls durchschnittlich anzusehen.
Da es sich danach in jeder Hinsicht um eine durchschnittliche Angelegenheit iS von § 14 RVG handelt, ist als
Verfahrensgebühr die Mittelgebühr in Höhe von 250,00 EUR gerechtfertigt. Obwohl die Gebührenbestimmung des
Rechtsanwaltes nicht um mehr als 20 % von der vom Gericht für angemessen gehaltenen Gebühr abweicht, ist
insoweit dennoch von einer unbilligen und damit nicht verbindlichen Gebührenbestimmung auszu-gehen. Zwar werden
im Allgemeinen Abweichungen bis zu 20 % von der vom Gericht bzw dem Beklagten für angemessen gehaltenen
Gebühren noch als verbindlich und nicht unbillig im Sinne des RVG angesehen. Diese Auffassung entspricht durchaus
auch der Rechtsprechung der Kammer. Jedoch liegt eine vom Gericht zu tolerierende Gebühren-bestimmung durch
den Rechtsanwalt nach § 14 Abs 1 Satz 1 RVG nur dann vor, wenn sie aufgrund der Umstände des Einzelfalles iVm
den Bemessungskriterien getroffen wor-den ist. Liegt eine solche Ermessensentscheidung nicht vor, ist die von dem
Rechtsan-walt vorgenommene Gebührenbestimmung unbillig und damit nicht verbindlich, auch wenn die geltend
gemachten Gebühren die Toleranzgrenze von 20 % nicht übersteigen (Gerold/Schmidt-Mayer, RVG, 18. Auflage 2008,
§ 14 Rdnr 12; OLG Düsseldorf, An-waltsblatt 1998, 538). Ansonsten würde eine routinemäßig vorgenommene
Erhöhung der Mittelgebühr um bis zu 20 % grundsätzlich als billig iSv § 14 RVG akzeptiert werden müssen.
Vorliegend ist nicht ersichtlich, dass der Rechtsanwalt aufgrund einer getroffe-nen Ermessensentscheidung dazu
gelangt ist, dass abweichend von der Mittelgebühr hier eine Verfahrensgebühr in Höhe von 300,00 EUR gerechtfertigt
ist. Weder mit der Kostenberechnung noch auf die Erinnerung des Beklagten mit Schriftsatz vom 28. Feb-ruar 2008
hat der Kläger dargelegt, aus welchen Erwägungen heraus eine ausgehend von der Mittelgebühr um 20% erhöhte
Verfahrensgebühr geltend gemacht wird. Zudem wird als Erledigungsgebühr nach Nrn 1006, 1002 VV RVG lediglich
die Mittelgebühr gel-tend gemacht.
Die Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle hat zu Recht die Festsetzung einer Terminsge-bühr abgelehnt. Dass
vorliegend eine Terminsgebühr nicht entstanden ist, resultiert aus den folgenden Erwägungen:
Der Anspruch auf eine Terminsgebühr ergibt sich aus Nr 3106 VV RVG. Danach beträgt die Terminsgebühr 20,00
EUR bis 380,00 EUR. Gemäß Vorbemerkung 3 Abs 3 zu Teil 3 VV RVG entsteht eine Terminsgebühr für die
Vertretung in einem Verhandlungs-, Erörte-rungs- oder Beweisaufnahmetermin oder die Wahrnehmung eines von
einem gerichtlich bestellten Sachverständigen anberaumten Termins oder die Mitwirkung an auf die Ver-meidung oder
Erledigung des Verfahrens gerichteten Besprechungen ohne Beteiligung des Gerichts, wobei dies allerdings für
Besprechungen (nur) mit dem Auftraggeber nicht gilt. Solche Tätigkeiten, dh die Vertretung in einem gerichtlichen
Termin oder die Teil-nahme an auf die Erledigung des Verfahrens gerichteten Besprechungen, hat der Erinne-
rungsführer bereits nach seinem Vorbringen nicht entfaltet. Die Voraussetzungen der Anmerkungen 1 bis 3 der Nr
3106 VV-RVG liegen nicht vor, unter denen "auch" eine Terminsgebühr entsteht. Dies gilt insbesondere auch
hinsichtlich der Anmerkung 3, die sich auf ein Verfahrensende nach angenommenem Anerkenntnis ohne mündliche
Ver-handlung bezieht. Ein Anerkenntnis im Sinn der genannten Vorschrift liegt nicht vor. Denn das Klageverfahren ist
am 2. August 2007 durch die Annahme eines Teilanerkenntnisses beendet worden. Dieses ist prozessual indessen
wie ein Vergleich zu werten (Landesso-zialgericht Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 27. November 2006 - L 10
B 8/06 R SF; Landessozialgericht Schleswig-Holstein, Beschluss vom 8. März 2006 - L 1 B 88/06 R SF SK).
Dabei ist auch berücksichtigt, dass das Sozialgerichtsgesetz (SGG) nach seinem aus-drücklichen Wortlaut nur drei
Arten unstreitiger Verfahrenserledigungen kennt: den ge-richtlichen Vergleich, § 101 Abs 1 SGG, das angenommene
Anerkenntnis, § 101 Abs 2 SGG, und die Rücknahme, § 102 Satz 2 SGG. Nach diesen Vorschriften ist ein außerge-
richtlicher Vergleich nicht geeignet den Rechtsstreit zu erledigen. Typischerweise bringen die Beteiligten des
Rechtsstreites in einem (nicht nur Teil-)Vergleich aber übereinstim-mend zum Ausdruck, dass der Rechtsstreit mit der
außergerichtlichen Einigung in vollem Umfang zum Abschluss gebracht werden soll. Ein derartiger außergerichtlicher
Vergleich kann in prozessualer Hinsicht als angenommenes Teilanerkenntnis und Rücknahme der weitergehenden
Klage gewertet werden.
Eine andere Auslegung der Nr 3106 VV RVG ist auch nicht zur Vermeidung verfassungs-rechtlich bedenklicher
Ungleichbehandlungen von Erledigungen durch Vergleich einer-seits und aufgrund Anerkenntnisses andererseits
erforderlich. Denn es ist nicht so, dass der Anwalt in den von § 3 RVG erfassten Verfahren bei außerterminlicher
Erledigung aufgrund Anerkenntnisses drei, bei außerterminlicher Erledigung durch Vergleich aber nur zwei Gebühren
erhielte. Neben der in beiden Fällen entstehenden Verfahrensgebühr (Nr 3100 iVm Nr 3102 oder 3103 VV RVG) steht
dem Anwalt bei vergleichsweiser Ver-fahrensbeendigung die Einigungsgebühr (Nr 1000 iVm Nrn 1005, 1006 VV RVG)
zu. Die-se Gebühr ist jedoch wegen Anmerkung 1 Satz 1, 2. Halbsatz zu Nr 1000 VV RVG bei einer Erledigung des
Rechtsstreites aufgrund eines Anerkenntnisses ausgeschlossen (Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen,
Beschluss vom 27. November 2006 - L 10 B 8/06 R SF).
Gerechtfertigt ist dagegen die Festsetzung einer Erledigungsgebühr nach Nrn 1006, 1002 VV RVG. Unter
Bezugnahme auf obige Ausführungen ist auch insoweit - wie beantragt - die Mittelgebühr in Höhe von 190,00 EUR als
gerechtfertigt anzusehen. Einwendungen des Beklagten gegen die Festsetzung einer Erledigungsgebühr sind weder
vorgetragen worden noch ersichtlich.
Gerechtfertigt ist weiterhin eine Dokumentenpauschale nach Nr 7000 VV RVG in Höhe von 13,00 EUR. Die Kosten für
Ablichtungen sind nach dieser Regelung erstattungsfähig, soweit sie zur sachgemäßen Bearbeitung der Rechtssache
geboten sind. Bei der Beurtei-lung, was zur Bearbeitung der Sache sachgemäß ist, ist auf die Sicht abzustellen, die
ein verständiger und durchschnittlich erfahrener Rechtsanwalt haben kann, wenn er sich mit der betreffenden
Leistungsakte beschäftigt und alle Eventualitäten bedenkt, die bei der dann noch erforderlichen eigenen Bearbeitung
der Sache auftreten können. Dem Rechtsanwalt ist ein gewisser Ermessensspielraum zu überlassen (Gerold/Schmidt-
Müller-Rabe, RVG, 18. Aufl 2008, VV 7000 Rdn 22). Nach der ständigen Rechtsprechung der niedersächsischen
Sozialgerichte (ua SG Osnabrück, Beschluss vom 13. Juni 2007 - S 1 SF 56/06; SG Hildesheim, Beschluss vom 20.
Oktober 2008 - S 12 SF 28/08; SG Stade, Beschluss vom 8. Juni 2009 - S 34 SF 72/08) kann allerdings derjenige,
der sich nicht der Mühe unterziehen will den Umfang der Ablichtungen bei Erhalt der Akten kon-kret und sachbezogen
zu bestimmen, die Kosten für überflüssige Schreibauslagen nicht der Staatskasse bzw dem Leistungsträger
aufbürden. Anhand des Inhalts der Leistungs-akte wird deutlich, dass der Erinnerungsführer offensichtlich
Ablichtungen des gesamten Inhalts der Akte gefertigt hat, ohne eine Prüfung der Notwendigkeit vorzunehmen. Im
vorliegenden Verfahren kann nach Auffassung des Gerichts und nach Maßgabe dieser Ausführungen die Erstattung
der Kosten für insgesamt 26 Fotokopien (Seite 1, 1 Rück-seite (R), 2, 2 R, 3 R, 4 R, 5, 9, 10, 10a, 11, 12, 13, 14, 16,
17, 18, 19, 24, 25, 26, 27, 28, 29, 30, 31) geltend gemacht werden.
Nach alledem berechnen sich die erstattungsfähigen Gebühren bislang wie folgt:
Verfahrensgebühr Nr 3102 VV RVG 250,00 EUR Erledigungsgebühr Nr 1002, 1006 VV RVG 190,00 EUR
Dokumentenpauschale Nr 7000 VV RVG 13,00 EUR Auslagenpauschale Nr 7002 VV RVG 20,00 EUR Umsatzsteuer
Nr 7008 VV RVG 89,87 EUR
Summe: 562,87 EUR.