Urteil des SozG Stade vom 25.05.2009

SozG Stade: grobe fahrlässigkeit, rechtswidrigkeit, verwaltungsakt, rücknahme, erlass, begriff, obliegenheit, vergütung, erkenntnis, bruttoeinkommen

Sozialgericht Stade
Urteil vom 25.05.2009 (rechtskräftig)
Sozialgericht Stade S 28 AS 503/08
Der Bescheid der Beklagten vom 1. April 2008 in der Gestalt des Änderungsbescheids vom 30. Juni 2008 und des
Wider-spruchsbescheids vom 3. Juli 2008 wird aufgehoben. Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten der
Klägerin zu erstatten.
Tatbestand:
Die Klägerin wehrt sich gegen eine Aufhebungs- und Erstattungsentscheidung der Be-klagten betreffend den
Leistungszeitraum April bis September 2007.
Die Klägerin und ihr Ehemann, seit Ende Juli 2006 mit einer gemeinsamen Tochter, be-zogen seit September 2005
Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II von der Beklagten.
Am 16. Oktober 2006 nahm der Ehemann der Klägerin eine vollschichtige Erwerbstätig-keit in G. auf. Den
Arbeitsvertrag vom 11. September 2006 sowie die erste Verdienstab-rechnung für den Zeitraum 16. bis 31. Oktober
2006 reichte der Ehemann am 10. No-vember 2006 bei der Beklagten ein. Aus dem Arbeitsvertrag geht hervor, dass
eine Ver-gütung iHv 1.873,00 EUR brutto vereinbart war, zahlbar zum Monatsende. Die Ver-dienstbescheinigung für
Oktober 2006 weist ein unter Einrechnung von Nachtzuschlägen und Sonderzuwendungen ein Bruttogehalt iHv
1.440,46 EUR und eine Nettoauszahlung iHv 766,59 EUR aus und lässt das Eintrittsdatum 16. Oktober 2006
erkennen.
Die Beklagte hob unter (bereinigter) Anrechnung des Nettoeinkommens von Oktober 2006 die Leistungsbewilligung für
Oktober 2006 ganz auf und bewilligte der Bedarfsge-meinschaft mit Bescheid vom 14. November 2006 in Gestalt
eines Änderungsbescheids vom selben Tage Leistungen ab 1. November 2006 iHv 642,46 EUR.
Die Klägerin und ihr Ehemann nahmen Mitte November 2006 persönlich Kontakt zur Be-klagten auf, um sicher zu
gehen, dass die Bescheidlage so tatsächlich korrekt sei. Dies wurde von der zuständigen Sachbearbeiterin bestätigt.
Die Leistungen wurden wie bewil-ligt bis März 2007 ausgezahlt.
Auf den Fortzahlungsantrag vom 14. März 2007 hin erließ die Beklagte am 27. März 2007 einen
Fortbewilligungsbescheid über den Zeitraum April bis September 2007, ge-ringfügig geändert durch Bescheid vom 2.
Juni 2007. Die Leistungen wurden in bisheriger Höhe und Anrechnung des Nettoeinkommens vom Oktober fortgezahlt.
Änderungen wur-den seitens der Klägerin nicht mitgeteilt. Bei Stellung des Fortzahlungsantrags Anfang September
2007 legten die Klägerin und ihr Ehemann Einkommensnachweise für die Zeit ab Januar 2007 vor. Daraus ergab sich
zunächst das Bruttoeinkommen iHv 1.873,00 EUR sowie ab Juli 2007 eine Erhöhung auf 1.937,00 EUR und ein
aufgrund von Nacht-zuschlägen schwankendes Nettoeinkommen zwischen 1.453,35 EUR und 1.594,70 EUR. Nach
Neuberechnung der Leistungen ab November 2006 und Anhörung der Klägerin wegen der eingetretenen Überzahlung
hob die Beklagte die Bewilligungsbescheide für den Zeitraum November 2006 bis September 2007 auf und forderte
von der Klägerin und, vertreten durch die Klägerin, von der Tochter überzahlte Leistungen iHv 4.167,11 EUR zurück.
Durch Änderungsbescheid vom 30. Juni 2008 wurde die Aufhebung auf den Be-willigungszeitraum April bis September
2007 begrenzt, wodurch sich die Erstattungsfor-derung auf 2.275,56 EUR reduzierte. Den Widerspruch der Klägerin
wies die Beklagte nach Erlass des Änderungsbescheids mit Widerspruchsbescheid vom 3. Juli 2008 als unbegründet
zurück. Am 7. August 2008 hat die Klägerin Klage erhoben.
Zur Begründung trägt sie vor, sie und ihr Ehemann hätten im November 2006 extra bei der Beklagten nachgefragt, ob
alles in Ordnung ist, da aus ihrer Sicht die Bescheidlage so nicht habe stimmen können. Nachdem ihnen mitgeteilt
wurde, dass alles so korrekt sei, hätten sie darauf vertraut.
Die Klägerin beantragt,
den Bescheid der Beklagten vom 1. April 2008 in der Fassung des Aufhebungs- und Erstattungsbescheids vom 30.
Juni 2008 sowie des Widerspruchsbescheids vom 3. Juli 2008 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie verweist darauf, dass durch die Reduzierung der Aufhebung und Erstattung auf den Zeitraum ab April 2007 den
Umständen des Einzelfalls bereits Rechnung getragen sei. Die Klägerin habe im Übrigen erkennen können, dass zu
wenig Einkommen angerechnet wurde. Außerdem hätten die Klägerin und ihr Ehemann von sich aus frühzeitiger
aktuelle Einkommensnachweise einreichen müssen, da sich das Einkommen veränderte.
Zum Vorbringen der Beteiligten im Übrigen und zu weiteren Einzelheiten des Sachver-halts wird auf die Gerichtsakte
und die vorliegende Verwaltungsakte der Beklagten, die auch Gegenstand der mündlichen Verhandlung am 25. Mai
2009 waren, verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Klage hat Erfolg.
Die angegriffene Aufhebungs- und Erstattungsentscheidung der Beklagten erweist sich als rechtswidrig und beschwert
daher die Klägerin, § 54 Abs 2 SGG. Die Klägerin ist in ihrem Vertrauen auf die Richtigkeit der ursprünglichen
Leistungsbewilligung geschützt.
Die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Rücknahme der Leistungsbewilligungsbe-scheide betreffend den Zeitraum
vom 1. April 2007 bis zum 30. September 2007 sind nicht erfüllt. Gemäß § 45 Abs 1 SGB X darf ein begünstigender
Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, unter den Einschränkungen der Absätze 2 bis 4 ganz
oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder die Vergangenheit zurückgenommen werden, soweit er rechtswidrig ist.
Gemäß § 45 Abs 2 Satz 1 SGB X darf ein Verwaltungsakt nicht zurückgenommen werden, soweit der Begünstigte auf
den Bestand vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme
schutz-würdig ist. Auf Vertrauen kann sich der Begünstigte gemäß § 45 Abs 2 Satz 3 Nr 2 SGB X nicht berufen, wenn
der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die er vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig
oder unvollständig gemacht hat, oder – gemäß Nr 3 – er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts kannte oder infolge
grober Fahrlässigkeit nicht kannte.
Der Bewilligungsbescheid vom 27. März 2007 in der Fassung des Änderungsbescheids vom 2. Juni 2007 war
anfänglich objektiv rechtswidrig, da das tatsächlich vorhandene Einkommen des Ehemannes der Klägerin nicht in der
gesetzlich in §§ 9 Abs 2 Satz 1, 11 SGB II vorgesehenen Höhe angerechnet wurde und dadurch Sozialleistungen in
nicht zustehender Höhe bewilligt und ausgezahlt wurden.
Die Abwägung des Vertrauens der Klägerin in die Richtigkeit und den Bestand des Bewil-ligungsbescheids mit dem
öffentlichen Interesse an einer Rücknahme führt im Ergebnis zu einer überwiegenden Schutzwürdigkeit des
Vertrauens der Klägerin, § 45 Abs 2 Satz 1 SGB X. Ein Berufen auf Vertrauensschutz ist insbesondere nicht gemäß §
45 Abs 2 Satz 3 Nr 1 bis 3 SGB X ausgeschlossen.
Nach Überzeugung des erkennenden Gerichts hat die Klägerin bei Stellung des Fortzah-lungsantrags am 14. März
2007 nicht vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Be-ziehung unrichtige oder unvollständige Angaben
gemacht, als sie ankreuzte, dass sich keine Veränderungen im Vergleich zum vorherigen Zeitraum ergeben hätten, §
45 Abs 2 Satz 3 Nr 2 SGB X. Tatsächlich hatte sich die Sachlage gegenüber November 2006 nicht verändert. Auch
entsprach die Höhe des Einkommens den Vereinbarungen des Arbeitsvertrags. Hinsicht-lich der Tatsache, dass die
Klägerin und ihr Ehemann bei Stellung des Fortzahlungsan-trags keine weiteren Einkommensnachweise bzw
Lohnbescheinigung ab November 2006 einreichten, aus denen das tatsächliche Einkommen hervorging, kann
allenfalls von ein-facher Fahrlässigkeit ausgegangen werden, nicht jedoch von grober Fahrlässigkeit. Ein Anhaltspunkt
für grobe Fahrlässigkeit besteht nicht. Die erforderliche Sorgfalt in beson-ders schwerem Maße verletzt, wer schon
einfachste, ganz naheliegende Überlegungen nicht anstellt und daher nicht beachtet, was im gegebenen Fall jedem
einleuchten muss (vgl zB BSG SozR 4100 § 152 Nr 3). Dabei ist das Maß der Fahrlässigkeit insbesondere nach der
persönlichen Urteils- und Kritikfähigkeit, dem Einsichtsvermögen des Beteiligten sowie der besonderen Umstände des
Falles zu beurteilen (subjektiver Fahrlässigkeits-begriff) (vgl BSG SozR 5870 § 13 Nr 20). Die Einreichung aktueller
Einkommensbeschei-nigung ist eine Obliegenheit. Gesteigerte Anforderungen an die Sorgfaltspflicht erschei-nen in
diesem Einzelfall allerdings nicht begründet, denn der Beklagten lagen durch den Arbeitsvertrag und den Nachweis
des Einkommens für den halben Oktober entsprechen-de Informationen zum eigentlichen Einkommen bereits vor. Die
Angaben der Klägerin und ihres Ehemanns waren deshalb nicht im eigentlichen Sinne unvollständig.
Das Gericht konnte auch nicht mit der notwendigen Überzeugung feststellen, dass die Klägerin die Rechtswidrigkeit
des Fortbewilligungsbescheids vom 27. März 2007 kannte oder hätte erkennen müssen, § 45 Abs 2 Satz 3 Nr 3 SGB
X. Zu berücksichtigen ist dabei grundsätzlich, dass an die Leistungsbezieher nach dem SGB II, im Regelfall
juristische Laien, keine übertriebenen Anforderungen hinsichtlich des Erkennens und Bewertens von Fehlern in
Bewilligungsbescheiden des zuständigen Leis-tungsträgers gestellt werden können. Zu verlangen ist zwar, dass ein
Bescheid gelesen wird, wenn zB die konkrete Leistungshöhe unschlüssig erscheint und Anlass für nähere Prüfungen
gibt (vgl Bundessozialgericht, Urteil v 8. Februar 2001 - B 11 AL 21/00 R -, Rn 25). Ebenso kann auch erwartet
werden, dass Unstimmigkeiten hinsichtlich der Tatsa-chenlage erkannt werden, denn dies setzt kein Fachwissen
voraus. Jeder Leistungsbe-zieher kann daher zumindest bemerken, wenn zB ein zu geringes Einkommen angerech-
net wurde, denn die tatsächliche Höhe ist in der Regel bekannt und kann ohne besonde-re Geistesanstrengung mit
dem aus dem Bescheid hervorgehenden angerechneten Ein-kommen verglichen werden. Es kann jedoch nicht
verlangt werden, dass ein Leistungs-bezieher das Leistungsrecht und die gesetzlichen Berechnungsmodalitäten
besser kennt als der zuständige Leistungsträger. Wenn der Leistungsbezieher bei Unstimmigkeiten nachfragt und die
Information erhält, alles wäre korrekt, kann ihm kein Wissen bzw keine Kenntnis einer möglicherweise dennoch
bestehenden Rechtswidrigkeit unterstellt werden - zumindest wenn dem Leistungsbezieher davon ausgehen kann,
dass der Sozialleis-tungsträger von einem zutreffenden Sachverhalt ausgeht und ihm alle Informationen vor-liegen.
Wer zuvor gegenüber dem Leistungsträger falsche oder unvollständige Angaben gemacht hat, kann daher auf die
Rechtmäßigkeit eines Bescheids und die diesbezügli-chen Auskünfte des Leistungsträgers bei Nachfragen nicht
vertrauen. Nach diesen Maßgaben kann im Falle der Klägerin ein Kennen oder Kennenmüssen der Rechtswidrigkeit
des Fortbewilligungsbescheids nicht unterstellt werden. Der Erkenntnis-horizont der Klägerin im März und April 2007
entsprach dem im November 2006. Bei Er-lass des Leistungsbescheids vom 14. November 2006 erkannten die
Klägerin und ihr Ehemann, dass etwas nicht stimmen konnte, denn ab November 2006 wurde von der Beklagten nur
das (halbe) Oktobergehalt als Einkommen zugrunde gelegt. Da ihnen auf Nachfrage irrtümlich mitgeteilt wurde, es sei
alles in Ordnung, und weil sie annehmen konnten, dass der Beklagten aufgrund des eingereichten Arbeitsvertrags die
eigentliche Vergütung bekannt war, durften die Klägerin und ihr Ehemann jedoch davon ausgehen, dass tatsächlich
alles korrekt sein würde. Es war nicht grob fahrlässig, dass sie im März 2007 nach Erlass des
Fortbewilligungsbescheids nicht noch einmal wegen des ange-rechneten Einkommens bei der Beklagten vorsprachen.
Die Nichteinreichung aktueller Einkommensbescheinigungen, durch die die hohe Überzahlung vermutlich vermieden
worden wäre, war in der gegebenen Situation - wie schon ausgeführt -nur fahrlässig.
Die allgemeine Vertrauensabwägung gemäß § 45 Abs 2 Satz 1 SGB X führt zu keinem anderen Ergebnis. Zwar tragen
die Klägerin und ihr Ehemann durch die fahrlässig verspätete Einreichung der Einkommensbescheinigungen ab
November 2006 eine Mitschuld am Zustandekom-men der hohen Überzahlung. Der Schwerpunkt der Verursachung
liegt nach dem Dafür-halten des erkennenden Gerichts jedoch eindeutig auf Seiten der Beklagten. Diese hätte nach
Einreichung des Arbeitsvertrags und der Einkommensbescheinigung für den halben Oktober 2006 von sich aus
erkennen können und müssen, dass ab November 2006 ver-tragsgemäß ein wesentlich höheres Einkommen beim
Ehemann der Klägerin zu erwarten war. Dies gilt umso mehr, als dass die Klägerin und ihr Ehemann unstreitig im
November 2006 bei der Beklagten vorstellig wurden und wegen der Leistungshöhe konkret nach-fragten. Mehr als
Nachfragen beim zuständigen Sachbearbeiter kann ein Leistungsbe-zieher im Falle von Unstimmigkeiten nicht.
Gegebenenfalls hätte bereits im Dezember 2006 eine Aufforderung zur Einreichung der Einkommensbescheinigung für
November 2006 oder von Kontoauszügen ergehen können.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.