Urteil des SozG Stade vom 31.08.2005

SozG Stade: schutz der versicherten, ärztliche behandlung, stationäre behandlung, dispositives recht, ambulante behandlung, krankenkasse, behandlungskosten, sachleistung, ausnahme, kausalzusammenhang

Sozialgericht Stade
Urteil vom 31.08.2005 (nicht rechtskräftig)
Sozialgericht Stade S 1 KR 50/03
Die Klage wird abgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand:
Der Kläger begehrt die Freistellung von Behandlungskosten für eine hyperbare Sauerstofftherapie (HBO).
Der 1987 geborene Kläger ist bei der Beklagten gesetzlich familienversichert. Er erlitt im Oktober 2001 ein
Knalltrauma, welches zu erheblichen Ohrenschmerzen sowie Ohrgeräuschen führte. Eine zunächst ambulante
Behandlung bei einem niedergelassenen Vertragsarzt und spätere stationäre Behandlung im I. J. führte zu keiner
Besserung der Beschwerden.
Am 24. Oktober 2001 begann deshalb der Facharzt für Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde K. beim Kläger mit einer
ambulanten hyperbaren Sauerstofftherapie zur weiteren Behandlung der inneren Ohrerkrankung. Am selben Tag stellte
der Vertragsarzt für den Kläger zusätzlich einen Antrag auf Kostenübernahme für diese Therapie. Die Beklagte lehnte
diesen Antrag mit Schreiben vom 25. Oktober 2001 ab. Ein weiterer Antrag des Klägers vom 3. Dezember 2001 lehnte
die Beklagte mit Schreiben vom 12. Dezember 2001 ebenfalls ab. Ein gegen diese Entscheidungen der Beklagten
eingelegter Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 3. März 2003).
Der Kläger hat am 28. März 2003 Klage erhoben und trägt zur Begründung vor, dass die Richtlinien des
Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen hinsichtlich des Ausschlusses einer HBO-Behandlung keine
normative Wirkung beizumessen sei. Es handele sich insoweit um dispositives Recht. Im Übrigen habe die Beklagte
eine Einzelfallprüfung der Angelegenheit versäumt. Es sei ebenfalls nicht berücksichtigt worden, dass die
durchgeführte HBO-Behandlung wirtschaftlicher als eine möglicherweise jahrelange Behandlung des Klägers wegen
eines chronischen Tinnitus gewesen sei.
Der Kläger hat von den Gesamtkosten der zurückliegenden HBO-Behandlung iH von 3067,75 EUR bislang 511,29
EUR verauslagt. Vor diesem Hintergrund beantragt er,
unter Aufhebung des Bescheids vom 12. Dezember 2001 in der Form des Widerspruchsbescheids vom 3. März 2003
die Beklagte zu verpflichten, den Kläger von den weiteren Kosten seiner hyperbaren Sauerstofftherapie in Höhe von
2.556,46 EUR freizustellen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie hält ihre Bescheide für rechtmäßig und weist wiederholt darauf hin, dass aus ihrer Sicht die gesetzlichen
Voraussetzungen für eine Erstattung der entstandenen Kosten nicht vorlägen.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichts- bzw Verwaltungsakte der
Beklagten verwiesen. Die Akten sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.
Entscheidungsgründe:
Nach verständiger Würdigung des Vorbringens des Klägers ist davon auszugehen, dass in diesem Verfahren nicht die
Erstattung der vom Kläger verauslagten Kosten iH von 511,29 EUR begehrt wird. Vielmehr will der Kläger allein eine
Freistellung von den weiteren Kosten der durchgeführten HBO-Behandlung, die sich aus dem zweiten Antrag des
damaligen ärztlichen Behandlers mit Schreiben vom 3. Dezember 2001 (Blatt 5 der Verwaltungsakte) ergeben.
Entsprechend hat sich auch die Mutter des Klägers in der mündlichen Verhandlung am 18. August 2005 eingelassen.
Die so verstandene Klage ist zulässig, aber unbegründet.
Der Kläger hat keinen Anspruch auf Freistellung von den Kosten, die über seine Eigenleistung hinaus durch die
zurückliegende HBO-Behandlung entstanden sind. Die entsprechenden Bescheide der Beklagten sind rechtmäßig und
verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten.
Nach § 2 Abs 2 S 1 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) erhalten die Versicherten im Bereich der gesetzlichen
Krankenversicherung die Leistungen der Krankenkassen grundsätzlich als Sach- und Dienstleistungen. Die
Leistungen werden entsprechend durch eine Behandlung des Versicherten auf Krankenschein bzw Versichertenkarte
bei zugelassenen Vertragsärzten, zugelassenen Krankenhäusern oder zugelassenen Psychotherapeuten erbracht.
Von diesem Sachleistungsprinzip darf nur in gesetzlich bestimmten Ausnahmefällen abgewichen werden.
Anspruchsgrundlage einer solch (ausnahmsweise) zu gewährenden Kostenerstattung bzw Freistellung von den Kosten
für selbst beschaffte Leistungen ist § 13 Abs 3 S 1 SGB V – hier anzuwenden in der Fassung des Artikel 5
Sozialgesetzbuch – Neuntes Buch – Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen vom 19. Juni 2001 (BGBl I
1046). Danach besteht ein solcher Anspruch, wenn die Krankenkasse eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig
erbracht (1. Alternative) oder eine Leistung zu Unrecht abgelehnt (2. Alternative) hat und dem Versicherten dadurch
notwendige Kosten entstanden sind. Hinsichtlich der hier streitgegenständlichen Behandlung liegen die
Voraussetzungen beider Alternativen nicht vor.
Im Einzelnen:
1. Die HBO-Behandlung des Klägers war keine unaufschiebbare Leistung iS der 1. Alternative von § 13 Abs 3 SGB V.
Hierunter sind Leistungen zu verstehen, bei denen eine vorherige Einschaltung der Krankenkasse – insbesondere aus
Zeitgründen – nicht verlangt werden kann. In diesem Zusammenhang übersieht die Kammer nicht, dass
Ohrerkrankungen teilweise eine sofortige ärztliche Behandlung erfordern, um uU dauerhaft einschränkende körperliche
Folgen zu vermeiden. Hier ist jedoch zu berücksichtigen, dass sich der Kläger vor Beginn der streitgegenständlichen
Behandlung bereits in ambulanter und sogar stationärer Behandlung befand. Anzeichen dafür, dass im Anschluss an
diese Behandlungen aus medizinischen Gründen sofort und ohne vorherige Absprache mit der Beklagten eine
hyperbare Sauerstofftherapie eingeleitet werden musste, sind weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.
2. Die Beklagte hat die Übernahme der bzw eine Freistellung von den Kosten, die durch die Ende 2001 durchgeführte
HBO-Behandlung entstanden sind, auch nicht zu Unrecht iS der 2. Alternative von § 13 Abs 3 SGB V abgelehnt. Der
Kläger hat sich in diesem Fall nicht im zumutbaren Umfang um die Gewährung einer Sachleistung bemüht.
Nach dem Wortlaut von § 13 Abs 3 SGB V ist ein Kausalzusammenhang zwischen der Leistungsablehnung einer
Krankenkasse und der vom Versicherten selbst beschafften Leistung erforderlich. Hintergrund ist, dass den
gesetzlichen Krankenkassen eine Prüfung ermöglicht werden soll, bevor sich Versicherte eine ärztliche Leistung
außerhalb des vertragsärztlichen Versorgungssystems selbst beschaffen. Diese Prüfung dient zumindest auch dem
Schutz der Versicherten, da die Krankenkassen kontrollieren, ob die begehrte Leistung überhaupt vom
Sachleistungsanspruch umfasst wird und darüber hinaus gemäß § 12 Abs 1 SGB V ausreichend, zweckmäßig und
wirtschaftlich ist. Hierbei darf der Entscheidung der Krankenkasse nicht dadurch vorgegriffen werden, dass der
Versicherte die erstrebte Behandlung unabhängig von dieser Entscheidung durchführen lässt und damit die genannte
Prüfung in das Verfahren der Kostenerstattung verlagert (siehe hierzu das Urteil des LSG Niedersachsen-Bremen vom
15. Januar 2003 – L 4 KR 244/00). Bei einer solchen Verlagerung verliert die vom Gesetzgeber vorgesehene und der
Leistungserbringung vorgelagerte Prüfung der Krankenkasse ihren Sinn und Zweck.
In diesem Fall hat der Kläger gleichzeitig mit der Einleitung der hyperbaren Sauerstofftherapie die Übernahme bzw die
Freistellung von den entstehenden Behandlungskosten beantragt. Er hat damit nicht die Entscheidung der Beklagten
abgewartet. Insoweit fehlt es hier an dem nach dem Gesetzeswortlaut erforderlichen Kausalzusammenhang zwischen
der Leistungsablehnung durch die Beklagte und der vom Kläger selbst beschafften Therapie.
In diesem Zusammenhang muss nach der ständigen Rechtsprechung der Kammer ebenfalls unberücksichtigt bleiben,
dass aus Sicht des Klägers die Ablehnung der Beklagten hinsichtlich der gewählten Behandlungsmethode von
vornherein festgestanden haben soll. Mit diesem Einwand hat sich die Rechtsprechung der Sozialgerichtsbarkeit
bereits wiederholt befasst und zuletzt durch das Bundessozialgericht mit Urteil vom 20. Mai 2003 (Az: B 1 KR 9/03 R)
klargestellt, dass Gesetzeswortlaut und –zweck eine dahingehende Ausnahme nicht zulassen. So ist unklar und lässt
sich auch abstrakt nicht festlegen, welche Bedingungen im Einzelfall erfüllt sein müssen, damit ein gesetzlich
Krankenversicherter von einer als sicher zu erwartenden Ablehnung seiner Krankenkasse ausgehen darf. In
zahlreichen Fällen ergeben sich schwierigste Abgrenzungsprobleme, durch die die Wahrung des Regel-Ausnahme-
Verhältnisses zwischen Sachleistung und Kostenerstattung gefährdet wäre (vgl zu alledem das Urteil des BSG vom
20. Mai 2003, aaO mwN).
3. Im Übrigen scheitert der in diesem Verfahren geltend gemacht Freistellungsanspruch auch daran, dass dem Kläger
durch die zurückliegende HBO-Behandlung keine weiteren Kosten entstanden sind.
Hierzu hat die Mutter des Klägers in der mündlichen Verhandlung am 18. August 2005 auf Nachfrage mitgeteilt, dass
Hierzu hat die Mutter des Klägers in der mündlichen Verhandlung am 18. August 2005 auf Nachfrage mitgeteilt, dass
der damalige ärztliche Behandler des Klägers bis heute hinsichtlich der noch ausstehenden Behandlungskosten weder
eine Zahlung einfordert noch beispielsweise eine Stundungs- oder vergleichbare Vereinbarung bis zu einer
rechtskräftigen Entscheidung in diesem Verfahren getroffen hat. Vor diesem Hintergrund kann die Kammer nicht
erkennen, weshalb der Kläger bzw dessen Eltern unter Berücksichtigung der zivilrechtlichen Verjährungsvorschriften
überhaupt noch zu einer Zahlung des ausstehenden Betrages verpflichtet sein sollen. Durch die zurückliegende HBO-
Behandlung sind daher dem Kläger bis auf die verauslagten 511,29 EUR weder Kosten entstanden noch ist ihm
gegenüber ein Zahlungsanspruch hinsichtlich der darüber hinausgehenden Behandlungskosten rechtlich durchsetzbar.
Entsprechend kann auch kein Kostenerstattungsanspruch bzw Freistellungsanspruch gegenüber der Beklagten
bestehen.
Abschließend weist die Kammer darauf hin, dass vor diesem Hintergrund dahingestellt bleiben kann, ob den
entsprechenden Richtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen hinsichtlich eines Ausschlusses
der hyperbaren Sauerstofftherapie eine normative Wirkung beizumessen ist. Unabhängig davon, wie dies rechtlich zu
bewerten ist, war die Klage hier abzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.